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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023

Kein Gott kann in diesen Gossen irgendetwas retten

Mohamed Choukris autobiographische Erzählungen stellen eine arabische Welt vor, die keinem Klischee entspricht.

Von Lena Bopp

Von Lena Bopp

Mohamed Choukri zählt zu den bekanntesten Schriftstellern der arabischen Welt. Vor allem sein Buch "Das nackte Brot" war schon, kurz nachdem es 1982 in arabischer Sprache erschienen war, ebenso berühmt wie berüchtigt - so roh und direkt, so voll irrer Lust und unbändiger Gewalt war selten, vielleicht noch nie in aller Öffentlichkeit über das Leben in Armut berichtet worden. Erschwerend kam hinzu, dass der Marokkaner Mohamed Choukri in dem Buch keine Fiktion, sondern, jedenfalls weitgehend, seine eigene Lebensgeschichte erzählte. Es enthält den ersten Teil seiner später drei Bände umfassenden Autobiographie. Allein im ersten Teil erzählt er von seinem (Über-)Leben in Tetuan, Oran und in den Straßen von Tanger, wohin Choukris aus dem Rif-Gebirge stammende Berberfamilie in den Vierzigerjahren aufgebrochen war, um Lohn und Brot zu finden. Gleich auf den ersten paar Seiten tötet der Vater in einem Anfall von betrunkenem Wahnsinn erst seinen jüngsten, von Krankheit und Hunger geschwächten Sohn und verprügelt dann seine Frau.

Bevor das Buch auf Arabisch erschien (und in den Ländern dieser Sprache jahrelang verboten wurde), war es mithilfe von Choukris Freunden Paul Bowles und Tahar Ben Jelloun bereits auf Englisch und Französisch veröffentlicht worden. Nur ein paar Jahre später, Mitte der Achtziger, erschien auch die deutsche Übersetzung von Georg Brunold in der "Anderen Bibliothek" und fand sehr viel Beachtung. Weniger Aufmerksamkeit bekam hingegen die Fortsetzung von Choukris Autobiographie, was die Herausgeberin der "Anderen Bibliothek" nun veranlasst, beide Teile noch einmal neu aufzulegen - in schönen schmalen Bänden, die das Tor zu einer Welt öffnen, die aus Scham und Schande sonst weitgehend im Verborgenen blieb und bleibt. Choukri hat seine Texte in den Achtziger- und Neunzigerjahren zu Papier gebracht. Er schreibt im Rückblick, aber meist im Präsens. Er pflegt einen lapidaren Ton, der wie abgestumpft wirkt gegenüber den Ungeheuerlichkeiten, von denen er berichtet, aber nicht unempfänglich für das Leid anderer. Er schreibt wie einer, der es gewohnt ist, nicht zu viel Energie mit Empathie zu verschwenden.

Sein zweiter Band, "Zeit der Fehler", setzt ein, als Choukri um die zwanzig Jahre alt ist und nach Larache aufbricht, um dort zum ersten Mal im Leben eine Schule zu besuchen. Seine Mitschüler sind Kinder, aber genauso arm und hungrig wie er, dem die Mahlzeiten nicht reichen, um satt zu werden. Statt im Internat schläft er lieber unter seinesgleichen in einem verlassenen Speicher, der mit einem uralten Radio, Postern aus Zeitschriften und Weinflaschen in eine dunkle Oase verwandelt wird. Während der Sommerferien kehrt Choukri in die Bars und Bordelle von Tanger zurück, das als "Internationale Zone" Reisende und Schiffbrüchige aus aller Welt anzieht. Er klaubt die Zigarettenstummel von den Straßen und lässt sich das eiternde Glied behandeln. Als er zu seiner an Schwindsucht erkrankten Mutter nach Tetuan gerufen wird, begegnet er in seinem Elternhaus kleinen Geschwistern, die er noch nie gesehen hat. Das Elend ist allumfassend und von einer Wucht, die jeder Barmherzigkeit hohnspricht. Kein staatlicher Amts-, kein religiöser Würdenträger taucht je in den Gossen auf, in denen Choukri zu Hause ist. Kein Gott kann hier irgendetwas retten.

Dafür lässt Choukri in fast jedem Kapitel neue Weggefährten aufkreuzen, gescheiterte Schriftsteller, Saufkumpane, Hehler und Huren, die allesamt so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind. Nichts hält sie, aber auch das Elend verbindet. Freundschaft und Liebe hängen stets am seidenen Faden. Frauen sind in Choukris Kosmos Prostituierte oder geschlagene Mütter, andere Rollen sind für sie nicht vorgesehen. Die einzige Figur, die etwas Licht in die Finsternis bringt, ist der blinde Muchtar El Haddad, der den Schüler Choukri ins Teehaus einlädt, damit dieser ihm dort vorliest. Victor Hugo und André Gide ebnen den Weg in die Welt der Literatur, die, je tiefer Choukri in sie vordringt, den Kontrast zu seiner Herkunft stetig vergrößert. Diese bald weit klaffende Kluft bestimmt sein Schreiben: "Ich weiß nicht, wie ich über die Milch von Vögeln, die liebkosende Berührung von Engelsschönheit, die Trauben des Taus, Katarakte des Schwarzen, Gesänge der Nachtigall schreiben soll. Ich weiß nicht, wie ich mit einem Besen aus Kristall im Kopf schreiben soll. Ein Besen ist Protest und nicht Schmuck." Die Welt, aus der Choukri schöpft, bringt einen literarischen Realismus hervor, der bitter schmeckt - selbst in seinen dem Wahnsinn oder dem Alkohol abgetrotzten magischen Momenten.

Mohamed Choukri:

"Zeit der Fehler".

Aus dem Arabischen von Doris Kilias. Die Andere Bibliothek, Berlin 2023. 259 S., geb., 48,- Euro.

Mohamed Choukri: "Das nackte Brot".

Aus dem Arabischen von Georg Brunold. Die Andere Bibliothek, Berlin 2023. 218 S., geb., 24,- Euro.

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