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Liebevoller Vater und wütender Hassposter: Paul ist beides, und als er im Netz bloßgestellt wird, kämpft er um seine Würde, Familie - und sein Leben.Mit der Geschichte von Paul Sarianidis gelingt Vladimir Vertlib in "Zebra im Krieg" ein meisterhaft ironischer, jedoch stets von Zuneigung und Humanität erfüllter Blick in menschliche und politische Abgründe: Paul lebt mit seiner Familie in einer vom Bürgerkrieg heruntergewirtschafteten osteuropäischen Stadt am Meer. Als er arbeitslos wird, verstrickt er sich immer tiefer in die wüsten Debatten, die in den Sozialen Medien toben. Doch ein...
Liebevoller Vater und wütender Hassposter: Paul ist beides, und als er im Netz bloßgestellt wird, kämpft er um seine Würde, Familie - und sein Leben.Mit der Geschichte von Paul Sarianidis gelingt Vladimir Vertlib in "Zebra im Krieg" ein meisterhaft ironischer, jedoch stets von Zuneigung und Humanität erfüllter Blick in menschliche und politische Abgründe: Paul lebt mit seiner Familie in einer vom Bürgerkrieg heruntergewirtschafteten osteuropäischen Stadt am Meer. Als er arbeitslos wird, verstrickt er sich immer tiefer in die wüsten Debatten, die in den Sozialen Medien toben. Doch eines Tages wird Paul von Boris Lupowitsch, einem Rebellenführer, den er im Internet bedroht hat, verhaftet. Lupowitsch rechnet mit ihm vor laufender Kamera ab. Paul wird verhöhnt und gedemütigt, das Video millionenfach gesehen. Wie kann er mit dieser Schande weiterleben?
Vladimir Vertlib, geboren 1966 in Leningrad. 1971 emigrierte die Familie nach Israel, dann nach Italien, Holland und die USA, bevor sie sich 1981 in Österreich niederließ. Er studierte Volkswirtschaftslehre, er lebt seit 1993 als Schriftsteller in Salzburg und Wien. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays sowie zahlreiche Artikel. 2001 erhielt er den Adelbert von Chamisso-Förderpreis sowie den Anton Wildgans Preis. Vertlib schrieb u.a. die Romane "Lucia Binar und die russische Seele", der 2015 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand. Zuletzt erschien "Zebra im Krieg" (2022).
Produktdetails
- Verlag: Residenz
- Seitenzahl: 288
- Erscheinungstermin: 15. Februar 2022
- Deutsch
- Abmessung: 207mm x 130mm x 29mm
- Gewicht: 416g
- ISBN-13: 9783701717521
- ISBN-10: 3701717524
- Artikelnr.: 62792447
Herstellerkennzeichnung
Residenz Verlag
Lange Gasse 76/12
1080 Wien, AT
info@residenzverlag.at
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
"Ein merkwürdiges Wesen, dieses Buch", meint Rezensentin Julia Schröder nach der Lektüre von Vladimir Vertlibs neuem Roman, der sie mit den Folgen digitalen und analogen Totalitarismus konfrontiert. Erzählt wird die Geschichte des tragikomischen Mittdreißigers Paul, Familienvater und arbeitsloser Flugzeugingenieur, der, während nationalistisch gesinnte Aufständige seine Heimatstadt belagern, als "Kommentarspalten-Troll" aktiv wird, resümiert die Kritikerin. Von beiden Seiten wird Paul öffentlich, vor allem in den sozialen Medien, gedemütigt, fährt Schröder fort. Dass es Vertlib einmal mehr um die großen Themen "Masse, Macht und Moral" geht, erkennt die Kritikerin zwar an, die Form dafür findet er in diesem zwischen "Satire, Zeitkritik und Entwicklungsroman" mäandernden Text aber leider nicht, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Kriege beginnen mit Worten
Düster-Dystopie mit leider viel realem Hintergrund: Vladimir Vertlibs schaurige Romanpersiflage auf den andauernden Konflikt in der Ostukraine.
Die Stadt weiß noch nicht, ob sie erobert oder befreit worden ist. Die einen freuen sich, andere haben Angst, doch vorerst ändert sich nicht viel. Die Stadt bleibt das, was sie schon in den Tagen zuvor gewesen war: eine Mausefalle. Sämtliche Zufahrtsstraßen sind blockiert, der Flughafen zerstört, der Hafen Frontzone." Es ist Krieg, nur dass die blutigen Kampfhandlungen offiziell als "erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen" bagatellisiert werden. Rebellen haben die Stadt in ihre Gewalt gebracht, zumindest für ein paar Tage im Frühling. Wasser,
Düster-Dystopie mit leider viel realem Hintergrund: Vladimir Vertlibs schaurige Romanpersiflage auf den andauernden Konflikt in der Ostukraine.
Die Stadt weiß noch nicht, ob sie erobert oder befreit worden ist. Die einen freuen sich, andere haben Angst, doch vorerst ändert sich nicht viel. Die Stadt bleibt das, was sie schon in den Tagen zuvor gewesen war: eine Mausefalle. Sämtliche Zufahrtsstraßen sind blockiert, der Flughafen zerstört, der Hafen Frontzone." Es ist Krieg, nur dass die blutigen Kampfhandlungen offiziell als "erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen" bagatellisiert werden. Rebellen haben die Stadt in ihre Gewalt gebracht, zumindest für ein paar Tage im Frühling. Wasser,
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Strom, medizinische Versorgung, nichts funktioniert.
Es ist Krieg, und jeder, so scheint es, macht mit, zumindest in den sozialen Medien. Auch Paul Sarianidis. Der treu sorgende Familienvater und höfliche Schwiegersohn hat sich mit seinen Internetaktivitäten ziemlich in die Bredouille manövriert. Süchtig nach verbalen Attacken im Netz, ließ sich der arbeitslose Flugzeugingenieur mit einem Übermaß an Freizeit in allerlei populistische Chatgruppen hineinziehen, in denen alles andere als zurückhaltend über politische Gegner gewettert wird. Nun sitzt er dem von ihm digital aufs Übelste beschimpften Separatistenanführer Doktor Boris Lupowitsch leibhaftig und ziemlich kleinlaut gegenüber und macht sich vor laufender Kamera im wahrsten Sinne des Wortes in die Hosen. Krisen sind, so heißt es in Vladimir Vertlibs "Zebra im Krieg", Glanzzeiten fürs Internet, das längst in Abwandlung des Zitats von Clausewitz zur Fortsetzung und zum Vorspiel der postmodernen Gemetzel geworden sei. Wie, so fragt sich Paul zu spät, konnte es dazu kommen, dass er einen Menschen, den er gar nicht kannte, derart vulgär beleidigte? Warum machen brave Bürger ihre Nachbarn im anonymen Datenkosmos nächtens brutal herunter, die sie tagsüber freundlich im Treppenhaus grüßen?
Der 1966 im sowjetischen Leningrad geborene und nach einer Irrfahrt seiner Familie durch halb Europa und die Vereinigten Staaten seit 1981 in Österreich lebende Vladimir Vertlib hat mit seinem neuen Roman eine düster-dystopische Persiflage auf die Krise in der Ostukraine geschrieben. Wüsste man nicht um den Ernst und das Prekäre der politischen Lage, könnte man an manchen Stellen herzhaft lachen. Dabei geht es dem Autor weniger um die geopolitischen Ambitionen auf den internationalen Bühnen, Großmachtansprüche und Elitengeplänkel, sondern um die kleinen Dämonen in den Köpfen, die die große Katastrophe am Laufen halten und gleichzeitig von ihr überrollt werden.
Nach dem blamablen Video ihres Vaters, millionenfach geklickt, erlebt Pauls halbwüchsige Tochter Lena Häme und Ausgrenzung in der Schule, während er selbst unter dem Gegröle eines wütenden Mobs samt einer Theaterintendantin einer "Müll-Lustration" unterzogen wird - was heißt, mit Gewalt und üblen Sprüchen in einer Biomülltonne symbolisch entsorgt. Seine Frau hat als Ärztin im chronisch unterversorgten Stadtkrankenhaus in diesen Kriegstagen zum Glück Wichtigeres zu tun. Um seine Familie zu retten, gerät Paul in die Fänge zweier windiger PR-Agenten aus dem Nahen Osten, die eine deutsche Journalistin für viel Geld anheuern wollen, um sein ramponiertes Image zu reparieren. Längst schleichen westliche Pressevertreter um sein Haus.
Pauls ehrenvoller Versuch, das jüdische Rentnerpaar Katz aus den Fängen der Aufständischen zu befreien, endet mit einer ziemlichen Überraschung im von zähnefletschenden Straßenhunden belagerten und mit deren Kadavern übersäten Gouverneursgebäude. Dort sitzen die neuen Machthaber an den Schaltknöpfen der alten Medien. Wilde Tiere streifen durch die Stadt, von den Raketensprengsätzen wurden nicht nur Wohnhäuser, sondern auch der Zoo getroffen. Die ganze Stadt ähnelt einem riesigen Raubtiergehege. Sollen Paul und die Seinen dieses Sodom und Gomorrha verlassen? Oder bleibt er entschlossen, sich seine Stadt nicht wegnehmen zu lassen, "weder von Gott noch von den Menschen"?
Wehmütig erinnert sich Paul an die kosmopolitische Vergangenheit seiner Heimatstadt, einst ein "Magnet und Schmelztiegel" vieler Völker, darunter neben seinen eigenen griechischen, koptischen, ukrainischen und spanischen Vorfahren auch Juden, Armenier, Russen und viele andere. Ein Sprachenbabel, ein Sündenpfuhl, ein Sehnsuchtsort für Menschen von Nah und Fern. Das ist lange her. Mittlerweile produzieren der Krieg und seine Entgrenzungsrhetorik vor allem eindimensionale Identitäten, die nur noch in Wir und Ihr unterscheiden können, Hass scheint als Einziges in diesen Tagen Konjunktur zu besitzen. Je ähnlicher man sich ist, desto nachdrücklicher müssen Grenzlinien gezogen werden. Antisemitismus wuchert auf beiden Seiten, wie der alte Geiger Katz, dessen Balkonkonzerte die Nachbarschaft im Corona-Lockdown aufgemuntert hatten, erfahren musste. Dessen heimlicher Schatz, den Paul der Katz-Tochter in Kanada zukommen lassen soll, fällt Geldgeiern, die aus den widrigen Umständen Profit machen, zum Opfer.
Vertlib ist ein Meister der bitteren Ironie, des bissigen Sarkasmus und des Slapsticks. Sein Antiheld Paul ist Täter und Opfer zugleich, dessen Erzfeind Lupowitsch fungiert als Alter Ego - zwei Familienväter, die in einem anderen, besseren, normaleren Leben abends ein Bierchen zusammen trinken könnten.
Als Vorlage mögen dem Autor die Ereignisse in der am Asowschen Meer gelegenen Hafenstadt Mariupol gedient haben. Der Untertitel verweist auf "eine wahre Begebenheit". Die vor der Revolution blühende multikulturelle Handelsmetropole mit ehedem griechischer Mehrheitsbevölkerung und einer von den Nazis vernichteten großen jüdischen Gemeinde wurde seit den Kampfhandlungen im nahen Donbass zur umkämpften Frontstadt. Zwischen April und Juni 2014 kam es zu offenen Gefechten zwischen ukrainischen Sicherheitskräften und den als "Volksmiliz" bezeichneten prorussischen Rebellenverbänden. Bis heute sind die Spuren der militärischen Auseinandersetzungen sichtbar.
In einem Essay hatte Vertlib 2015 auf die erinnerungskulturellen Gemeinsamkeiten derer hingewiesen, die sich heute unversöhnlich gegenüberstehen. Beide sind mit den gleichen Büchern und Filmen groß geworden, beide sprechen die gleiche Sprache - oder doch sehr ähnliche Sprachen. Beide nutzen das Vokabular der Zweiten Weltkriegs, in dem ihre Großväter Seite an Seite gekämpft haben, nur dass jetzt jeder den anderen der Aggression, der Kollaboration, des Verrats beschuldigt. Eine nicht bewältigte Vergangenheit aus Sowjetzeiten werde im tagespolitischen Konflikt reaktiviert und radikalisiert. Das mag wahr sein, hilft aber bei der Deeskalation wenig, weder im Roman noch in der Realpolitik.
In der Fiktion beginnt am Ende des Albtraums für die Bewohner der Hafenmetropole ein neuer Horror. Im verwüsteten Zoo der von den Regierungstruppen zurückeroberten Stadt sitzen nun die vermeintlichen Terroristen in den Tiergattern, die illegalen Migranten und Asylbewerber, die auf dem Weg nach Westen an diesem umkämpften Rand Europas gestrandet sind, werden interniert und sollen in die Ursprungsländer rückgeführt werden, und an Pauls Wohnungstür scheppert es bereits wieder verdächtig. SABINE BERKING
Vladimir Vertlib: "Zebra im Krieg". Nach einer wahren Begebenheit. Roman.
Residenz Verlag, Wien 2022. 290 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es ist Krieg, und jeder, so scheint es, macht mit, zumindest in den sozialen Medien. Auch Paul Sarianidis. Der treu sorgende Familienvater und höfliche Schwiegersohn hat sich mit seinen Internetaktivitäten ziemlich in die Bredouille manövriert. Süchtig nach verbalen Attacken im Netz, ließ sich der arbeitslose Flugzeugingenieur mit einem Übermaß an Freizeit in allerlei populistische Chatgruppen hineinziehen, in denen alles andere als zurückhaltend über politische Gegner gewettert wird. Nun sitzt er dem von ihm digital aufs Übelste beschimpften Separatistenanführer Doktor Boris Lupowitsch leibhaftig und ziemlich kleinlaut gegenüber und macht sich vor laufender Kamera im wahrsten Sinne des Wortes in die Hosen. Krisen sind, so heißt es in Vladimir Vertlibs "Zebra im Krieg", Glanzzeiten fürs Internet, das längst in Abwandlung des Zitats von Clausewitz zur Fortsetzung und zum Vorspiel der postmodernen Gemetzel geworden sei. Wie, so fragt sich Paul zu spät, konnte es dazu kommen, dass er einen Menschen, den er gar nicht kannte, derart vulgär beleidigte? Warum machen brave Bürger ihre Nachbarn im anonymen Datenkosmos nächtens brutal herunter, die sie tagsüber freundlich im Treppenhaus grüßen?
Der 1966 im sowjetischen Leningrad geborene und nach einer Irrfahrt seiner Familie durch halb Europa und die Vereinigten Staaten seit 1981 in Österreich lebende Vladimir Vertlib hat mit seinem neuen Roman eine düster-dystopische Persiflage auf die Krise in der Ostukraine geschrieben. Wüsste man nicht um den Ernst und das Prekäre der politischen Lage, könnte man an manchen Stellen herzhaft lachen. Dabei geht es dem Autor weniger um die geopolitischen Ambitionen auf den internationalen Bühnen, Großmachtansprüche und Elitengeplänkel, sondern um die kleinen Dämonen in den Köpfen, die die große Katastrophe am Laufen halten und gleichzeitig von ihr überrollt werden.
Nach dem blamablen Video ihres Vaters, millionenfach geklickt, erlebt Pauls halbwüchsige Tochter Lena Häme und Ausgrenzung in der Schule, während er selbst unter dem Gegröle eines wütenden Mobs samt einer Theaterintendantin einer "Müll-Lustration" unterzogen wird - was heißt, mit Gewalt und üblen Sprüchen in einer Biomülltonne symbolisch entsorgt. Seine Frau hat als Ärztin im chronisch unterversorgten Stadtkrankenhaus in diesen Kriegstagen zum Glück Wichtigeres zu tun. Um seine Familie zu retten, gerät Paul in die Fänge zweier windiger PR-Agenten aus dem Nahen Osten, die eine deutsche Journalistin für viel Geld anheuern wollen, um sein ramponiertes Image zu reparieren. Längst schleichen westliche Pressevertreter um sein Haus.
Pauls ehrenvoller Versuch, das jüdische Rentnerpaar Katz aus den Fängen der Aufständischen zu befreien, endet mit einer ziemlichen Überraschung im von zähnefletschenden Straßenhunden belagerten und mit deren Kadavern übersäten Gouverneursgebäude. Dort sitzen die neuen Machthaber an den Schaltknöpfen der alten Medien. Wilde Tiere streifen durch die Stadt, von den Raketensprengsätzen wurden nicht nur Wohnhäuser, sondern auch der Zoo getroffen. Die ganze Stadt ähnelt einem riesigen Raubtiergehege. Sollen Paul und die Seinen dieses Sodom und Gomorrha verlassen? Oder bleibt er entschlossen, sich seine Stadt nicht wegnehmen zu lassen, "weder von Gott noch von den Menschen"?
Wehmütig erinnert sich Paul an die kosmopolitische Vergangenheit seiner Heimatstadt, einst ein "Magnet und Schmelztiegel" vieler Völker, darunter neben seinen eigenen griechischen, koptischen, ukrainischen und spanischen Vorfahren auch Juden, Armenier, Russen und viele andere. Ein Sprachenbabel, ein Sündenpfuhl, ein Sehnsuchtsort für Menschen von Nah und Fern. Das ist lange her. Mittlerweile produzieren der Krieg und seine Entgrenzungsrhetorik vor allem eindimensionale Identitäten, die nur noch in Wir und Ihr unterscheiden können, Hass scheint als Einziges in diesen Tagen Konjunktur zu besitzen. Je ähnlicher man sich ist, desto nachdrücklicher müssen Grenzlinien gezogen werden. Antisemitismus wuchert auf beiden Seiten, wie der alte Geiger Katz, dessen Balkonkonzerte die Nachbarschaft im Corona-Lockdown aufgemuntert hatten, erfahren musste. Dessen heimlicher Schatz, den Paul der Katz-Tochter in Kanada zukommen lassen soll, fällt Geldgeiern, die aus den widrigen Umständen Profit machen, zum Opfer.
Vertlib ist ein Meister der bitteren Ironie, des bissigen Sarkasmus und des Slapsticks. Sein Antiheld Paul ist Täter und Opfer zugleich, dessen Erzfeind Lupowitsch fungiert als Alter Ego - zwei Familienväter, die in einem anderen, besseren, normaleren Leben abends ein Bierchen zusammen trinken könnten.
Als Vorlage mögen dem Autor die Ereignisse in der am Asowschen Meer gelegenen Hafenstadt Mariupol gedient haben. Der Untertitel verweist auf "eine wahre Begebenheit". Die vor der Revolution blühende multikulturelle Handelsmetropole mit ehedem griechischer Mehrheitsbevölkerung und einer von den Nazis vernichteten großen jüdischen Gemeinde wurde seit den Kampfhandlungen im nahen Donbass zur umkämpften Frontstadt. Zwischen April und Juni 2014 kam es zu offenen Gefechten zwischen ukrainischen Sicherheitskräften und den als "Volksmiliz" bezeichneten prorussischen Rebellenverbänden. Bis heute sind die Spuren der militärischen Auseinandersetzungen sichtbar.
In einem Essay hatte Vertlib 2015 auf die erinnerungskulturellen Gemeinsamkeiten derer hingewiesen, die sich heute unversöhnlich gegenüberstehen. Beide sind mit den gleichen Büchern und Filmen groß geworden, beide sprechen die gleiche Sprache - oder doch sehr ähnliche Sprachen. Beide nutzen das Vokabular der Zweiten Weltkriegs, in dem ihre Großväter Seite an Seite gekämpft haben, nur dass jetzt jeder den anderen der Aggression, der Kollaboration, des Verrats beschuldigt. Eine nicht bewältigte Vergangenheit aus Sowjetzeiten werde im tagespolitischen Konflikt reaktiviert und radikalisiert. Das mag wahr sein, hilft aber bei der Deeskalation wenig, weder im Roman noch in der Realpolitik.
In der Fiktion beginnt am Ende des Albtraums für die Bewohner der Hafenmetropole ein neuer Horror. Im verwüsteten Zoo der von den Regierungstruppen zurückeroberten Stadt sitzen nun die vermeintlichen Terroristen in den Tiergattern, die illegalen Migranten und Asylbewerber, die auf dem Weg nach Westen an diesem umkämpften Rand Europas gestrandet sind, werden interniert und sollen in die Ursprungsländer rückgeführt werden, und an Pauls Wohnungstür scheppert es bereits wieder verdächtig. SABINE BERKING
Vladimir Vertlib: "Zebra im Krieg". Nach einer wahren Begebenheit. Roman.
Residenz Verlag, Wien 2022. 290 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Der Pisser
Mit dem Zusatz «Nach einer wahren Begebenheit» hat der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib für seinen neuen Roman «Zebra im Krieg» auf einen realen Bezug hingewiesen. Durch die offizielle Bagatellisierung der aggressiven Kämpfe im …
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Der Pisser
Mit dem Zusatz «Nach einer wahren Begebenheit» hat der österreichische Schriftsteller Vladimir Vertlib für seinen neuen Roman «Zebra im Krieg» auf einen realen Bezug hingewiesen. Durch die offizielle Bagatellisierung der aggressiven Kämpfe im Roman als «erweiterte Polizeiaktion gegen Terroristen» wird überdeutlich auch auf den Ukrainekonflikt verwiesen. Es geht in diesem Roman um politischen Totalitarismus, dem heute mit seiner digitalen Variante im Internet eine nicht minder gefährliche, mediale Spielart als weiteres Lügenbabel zur Seite steht.
In einem quasi rechtsfreien Raum toben sich Hassprediger aller Couleur aus, so auch der arbeitslose Flugzeug-Ingenieur Paul Sarianidis. Der weiß mit seiner vielen Freizeit nichts Besseres anzufangen, als sich in einschlägigen Internet-Foren herumzutreiben und als Blogger seine Meinung in die Welt hinaus zu posten. In seiner nicht benannten balkanischen Hafenstadt tobt ein Bürgerkrieg, die multiethnische Einwohnerschaft sitzt in der Falle, man kann die umzingelte Stadt nicht mehr verlassen, die Rebellen haben sie vorübergehend in ihre Gewalt gebracht. Und ausgerechnet gegen den charismatischen Führer dieser Aufständischen hat Paul einen Hass-Kommentar geschrieben, in dem er ihn auf das Übelste beschimpft. Prompt stehen plötzlich Milizionäre vor der Tür des Mitte-Dreißigjährigen, die ihn zum Verhör mitnehmen. Dort trifft er auf sein verbales Opfer, den Rebellenführer Boris Lupowitsch, der ihn nun seinerseits beschimpft und derart bedroht, dass Paul sich vor Angst in die Hosen macht. All das wird mit zwei Kameras akribisch gefilmt und anschließend ins Netz gestellt. Paul erntet Hohn, Spott und eine traurige Berühmtheit als «Der Pisser». Dieses Begebnis ist nach Aussage des Autors übrigens authentisch. Der mit einer Ärztin verheiratete, mit Tochter und der eigenen Mutter zusammenlebende Paul wird nun auch zu Hause gescholten. Er hat die ganze Familie blamiert, was ihm besonders seine über alles geliebte, zwölfjährige Tochter Lena sehr übel nimmt.
Dieser dystopische Roman ist als Persiflage auf die Vorgänge in der Ost-Ukraine angelegt. Das Augenmerk des Autors liegt allerdings nicht auf dem politischen Machtpoker, sondern auf den dämonischen Kräften in den Köpfen der Bevölkerung, die sich im Internet eine Bühne suchen, um dort ihre vorgefassten Meinungen weiter anzuheizen, statt an einem Konsens mitzuwirken, um die Gegensätze zum Wohle aller zu überwinden. Als stadtbekannte Figur wird «Der Pisser» bei einem seiner ruhelosen Streifzüge durch die zerschossenen Straßen von einem grölenden Mob, zusammen mit der Intendantin des Theaters, symbolisch in einer vor Deck starrenden Bio-Mülltonne ‹entsorgt›. Pauls Versuche, sich mit Hilfe zweier PR-Spezialsten von seinem peinlichen Image zu befreien, scheitern kläglich, er wird nur finanziell ausgenommen von ihnen. «Ich will einmal im Leben das Richtige tun», beschießt der Antiheld und kümmert sich fortan um die alten jüdischen Hausnachbarn, die abgeholt worden sind. Es gelingt ihm tatsächlich, das Paar frei zu bekommen. Sie vertrauen ihm daraufhin ihren bescheidenen Schatz an, neben persönlichen Erinnerungsstücken vor allem 3000 Dollar, die er nach ihrem Tod der in den USA lebenden Tochter zukommen lassen soll, ehe sie der korrupte Staat kassiert.
Pauls multikulturelle Heimatstadt, ein Schmelztiegel aus griechischen, ukrainischen und koptischen Vorfahren sowie Russen, Armeniern, Türken, Juden und anderen Ethnien mehr, hat seinen Status als kosmopolitischer Sehnsuchtsort längst verloren. Nachdem in den Kämpfen auch der Zoo zerstört wurde, laufen plötzlich exotische Tiere durch die Stadt, so das titelgebende Zebra als Symbol für Friedfertigkeit. Die vom Autor als geharnischte Kritik an der Enthemmung in den sozialen Medien samt ihren Folgen angelegte Geschichte bleibt in der Form leider fragwürdig. Sie ist weder als Satire noch als Gesellschaftskritik wirklich überzeugend und wirkt in ihrer Slapstickartigkeit oft einfach nur albe
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