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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Westkreuz-Verlag
  • Seitenzahl: 304
  • Deutsch
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 340g
  • ISBN-13: 9783929592443
  • Artikelnr.: 25253451
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.1999

Geistiges Saarow
Zweitausend warme Mahlzeiten und die Dunkelheit im Kopf

Hans Bentzien (Herausgeber): Zauberhaftes Saarow. Westkreuz-Verlag, Berlin und Bonn 1999. 304 Seiten, 24,- Mark.

Bad Saarow liegt östlich von Berlin und hat viertausend Einwohner. Theodor Fontane konnte bei seinen Wanderungen an diesem Ort nichts Besonderes entdecken. Nur der Scharmützelsee, den er das Märkische Meer nannte, gefiel ihm. Später entwickelte sich hier ein reger Kurbetrieb. Einer der prominenten Gäste war der russische Dichter Maxim Gorki. Berliner Künstler siedelten sich an, Nazi-Größen wie Joseph Dietrich und Robert Ley kamen an den See. Nach dem Krieg erholte sich in Bad Saarow und Umgebung die sozialistische Intelligenz der DDR. Johannes R. Becher lebte hier, der Regisseur Slatan Dudow, der Verleger Wieland Herzfelde, der Schriftsteller Fritz Erpenbeck. Im alten Kurpark richteten die sowjetischen Truppen ihr Lazarett ein. Auch das zentrale Lazarett der Nationalen Volksarmee (NVA), das sich seit 1981 Akademie nennen durfte, lag in Bad Saarow. Im Café "Dorsch" trifft man heute noch gelegentlich ehemalige hohe Offiziere des Staatssicherheitsdienstes und der NVA.

Nach dem Untergang der DDR fiel der Ort vor allem durch nicht geklärte Eigentumsfälle auf und einen oft erbittert geführten Streit darüber, ob die Gegend um den Scharmützelsee so mondän werden könnte wie die um den Starnberger See, oder ob sie weiter schlafen sollte, gewiegt vom Rauschen des Sees und der märkischen Kiefern.

Der Fremdenverkehrsverein Scharmützelsee wirbt für das "zauberhafte Saarow" mit einem Buch, das viele der Bad Saarower Größen von einst und jetzt vorstellt. Herausgeber ist eine dieser Größen selbst: Hans Bentzien. Er war Kulturminister in der DDR, Verlagsleiter und Intendant des Deutschen Fernsehfunks von 1989 bis 1990. Zweimal wurde Bentzien spektakulär Opfer von Richtungsänderungen in der Kulturpolitik der SED. Es hat ihn nicht davon abgehalten, stets die Sache des Sozialismus zu verfechten und am Untergang der DDR zu leiden. Sein Buch sollte ihm wohl Trost sein, der Ton darin klingt so, als wäre die DDR nicht untergegangen. Die meisten Texte hätten ohne weiteres im alten SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" stehen können, etwa wenn Bentzien an dem Show-Tänzer Walter Schumann lobt, dass er nicht nach Paris oder New York ging. Begründung: "Lieber in Berlin der Erste, als in einer Weltstadt einer unter anderen, mag er gedacht haben." Wehmütig wird an die Tänzer des DDR-Fernsehballetts erinnert: "Sie tanzten auf den großen Pressefesten (der SED-Zeitungen), auf Arbeiterfestspielen, vor Urlaubern an der Ostsee." Einmal tanzten sie sogar vor dem sowjetischen Parteichef Chruschschow. Der habe sich bedankt, erzählt Bentzien, "und ließ die Tänzer noch einmal aus den Kulissen kommen, um persönlich die Truppe zu verstärken und seine eigenen Künste zu zeigen".

Ein Porträt des Buches widmet sich dem Bürgermeister von Bad Saarow, Axel Walter. Er wird von einer Frau vorgestellt, die in der DDR seine Vorgesetzte beim Rat des Bezirkes Frankfurt (Oder) war: "Wir kontrollierten Jugendförderungspläne der Kreise und großen Orte, wir fragten nach, ob die Jugendbrigaden der Betriebe genügend Unterstützung bekämen, und wenn es damit haperte, genügte oft schon die Ankündigung unseres Besuches." Die Erinnerung an die sowjetischen Truppen ist einer Bad Saarowerin eine "Erinnerung an die gute russische Seele". Von der Schriftstellerin Elfriede Brüning sind in diesem Band Notizen zum 3. Oktober 1990 zu lesen: "Wollen allen denen entgehen, die die Vereinigung bejubeln werden . . . Uns ist eher nach Trauer. Trauer um den Verlust einer Illusion, die wir für lange Zeit begraben müssen." Bei Frau Brüning wird an diesem Abend die DDR-Fahne ausgebreitet und das Lied "Venceremos" gesungen, das nach dem Militärputsch von 1973 von emigrierten Chilenen mit in die DDR gebracht worden war.

Hans-Rudolf Gestewitz, der Leiter des zentralen Lazaretts der Nationalen Volksarmee im Range eines Generals, erhielt ein eigenes Kapitel, in dem die Kreativität der aus dem Lazarett hervorgegangenen Akademie bewundert wird. Für diese Kreativität stünden "mehr als 300 durchgeführte Promotionsverfahren". Unter Gestewitz habe es in Bad Saarow "Jahre einer glücklichen Symbiose klinischer und wissenschaftlicher Arbeit sowie medizinischer Lehrtätigkeit" gegeben. Der Schriftsteller Götz Richter schwärmt vom Marxismus: "Es wurde mir ein Licht, das Helligkeit in meinen dunklen Kopf brachte." Demokratie sei ein strapaziertes Wort, fällt Richter ein, als er sich - er sitzt gerade an einer Rede für eine Jugendweihe - daran erinnert, wie schön doch früher der 1. Mai begangen wurde. Die Pianistin Annerose Schmidt wird gefeiert, weil sie vor Jahrzehnten einen gesamtdeutschen Pianistenwettbewerb "mit Glanz und Gloria vor der westdeutsche Konkurrenz gewann". Der Dichter Helmut Preißler würdigt, dass "die Strandgaststätte an Sommertagen bis zu zweitausend warme Mahlzeiten verkaufte". Das ist das "geistige Saarow", welches hier mit Unterstützung des Fremdenverkehrsverbandes vorgestellt wird. Wenn das Buch als Reiseführer überhaupt taugt, dann nur für Ausflüge in eine Richtung: in die Vergangenheit.

FRANK PERGANDE

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