Produktdetails
  • Verlag: Kaufmann
  • ISBN-13: 9783780625984
  • Artikelnr.: 24133946
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.1995

Wie weit wir schon wieder sind
Chronische Beschwerden der PDS / Der Arbeiterklasse Millionen vom Mund abgespart

Lothar Bisky: Wut im Bauch. Kampf um die PDS vom 29. November bis 7. Dezember 1994. Erlebnisse - Dokumente - Chronologie. Dietz Verlag Berlin, Berlin 1995. 185 Seiten, 44 Abbildungen, 19,80 Mark.

Von den Anfängen. Eine illustrierte Chronik der PDS 1989-1994. Erarbeitet von Otfried Arnold, Frank Schumann, Edwin Schwertner, Reinhard Thyzel und Helmut Zessin. Mit einem Vorwort von Lothar Bisky. Dietz Verlag Berlin, Berlin 1995. 256 Seiten, 563 Abbildungen, 26,- Mark.

Seit der Wiedervereinigung ist Deutschland unübersichtlich. Ohne daß man es merkt, ereignet sich in einer fernen Gegend des riesigen Landes Geschichte, genauer gesagt, es wird Geschichte gemacht. Zum Glück sorgen sich aufmerksame Chronisten, daß die Kunde zu Papier gebracht wird, und interessierte Verlage, daß sie zu Buche schlägt. Der ehemals SED-eigene Berliner Dietz Verlag, dem nicht nur die Überlieferung der heiligen Schriften des Marxismus-Leninismus, sondern auch zahlreiche Arbeiten über die Geschichte der Arbeiterbewegung sowie die Veröffentlichung von Reden und Schriften ihrer Führer zu danken sind, hat sich sein Unternehmensprofil bewahrt. Publiziert wurden jüngst in Fortsetzung der beliebten Reihe, die seinerzeit mit Reden und Schriften Walter Ulbrichts gestartet war, ein Werk des derzeitigen Parteichefs Bisky, Vertreter der Enkelgeneration und vierter Nachfolger Ulbrichts; fortgeschrieben wird auch als Chronik die 1978 erstmals aufgelegte "Geschichte der SED, Abriß".

Dank dieser verlegerischen Traditionspflege kann man nun in gleich zwei Büchern nachlesen, was im November 1994 geschah, als die PDS eine Steuernachforderung in Höhe von 67 Millionen Westmark erhielt. Aus Betroffenensicht berichtet Lothar Bisky in wuchtiger Parteiführerprosa, wie er dabei war. "Überall in Ostdeutschland brach ein Sturm des Protestes aus." Sieben Aufrechte aus dem PDS-Vorstand besetzten spontan mehrere Räume der Treuhandanstalt und traten in einen Hungerstreik. Nachdem sie dort und kurz darauf auch aus ihrem zweiten Fastenlager, dem preußischen Landtag, mit Polizeigewalt hinausgeworfen wurden - was beweise, wie Bisky zweideutig schreibt, "wie weit wir schon wieder sind" -, führten sie ihr Theater schließlich am angemessenen Ort auf: in der Berliner Volksbühne. Dort, wo sonst ein westdeutscher Ballettmeister werbewirksam Ulrike Meinhof, Ernst Jünger und andere deutsche Heldengestalten tänzerisch verhampeln läßt, reüssierte nun Bisky als Gandhi. Doch westdeutschen Kolonisatoren fehlt britische Härte und dem Berliner Verwaltungsgericht der Kunstsinn. Das Stück wurde kurz nach der Premiere trotz beachtlicher Medienreaktion wieder abgesetzt, nachdem die PDS den Rechtsstreit "in allen Punkten" gewonnen hatte. Hunderte von Millionen Valutamark, die die SED als herrschende Partei der Arbeiterklasse vom Munde abgespart hatte, bleiben unversteuert. Bisky und seine Mitstreiter "stoßen mit einem Glas Sekt auf die Beendigung des Hungerstreiks und den Übergang zur normalen Arbeit an" und freuen sich über ihren "Teilerfolg".

Einblicke in die normale Arbeit der PDS, die Mühen der Tagespolitik, gibt Biskys Buch nur in Nebenbemerkungen. So etwa in dem Bericht über den Rauswurf aus dem preußischen Landtag, als, bevor man sich für die Berliner Aufführung entschied, kurzzeitig der Potsdamer Landtag als Tribüne des Klassenkampfes im Gespräch war. Doch die "Variante Brandenburg" mußte verworfen werden, denn "wie würde sich das auf das politische Klima auswirken? Würden wir Manfred Stolpe damit belasten? Würden wir überhaupt die Situation, die sich in Brandenburg im Laufe der letzten Jahre herausgebildet hat, in Frage stellen?" Angesichts dieser Unwägbarkeiten entschied sich die PDS-Führung, doch lieber ungeniert dem Ruf des Intendanten Castdorf zu folgen. Dem kann nichts mehr schaden.

Nebenbei erfährt der geneigte Leser auch, warum Lothar Bisky immer so miesepetrig aus der Wäsche guckt. Der Mann hat Wut im Bauch. Ihn stört die "seit dem Anschluß erfolgende Demütigung der Menschen hier im Osten". Ihn ärgert der "Altersstarrsinn der herrschenden Klasse in der Bundesrepublik Deutschland", die "ihre Beamtenschaft, ihre Polizeigewalt und alles, was sie hat, dafür einsetzt, daß alles so bleibt, wie es in der alten Bundesrepublik war, und daß nichts Neues hinzugefügt wird". Dagegen will Lothar Bisky dafür sorgen, "daß etwas aus dem Osten bleibt und sich in der übergestülpten altbundesrepublikanischen Wirklichkeit behaupten kann".

Dieses Etwas ist für Bisky die PDS. Sie, erzählt er, "wurde in der Wende unter Schmerzen geboren", sie ist "ein Stück linker Kultur Ende dieses Jahrhunderts, ein Stück vorweggenommener sozialer Gerechtigkeit", ja sogar "ein Stück antizipierter demokratischer Sozialismus" und sie ist die einzige Kraft, die sich um die "vielen Wunden, die die altbundesrepublikanische Arroganz den Ostseelen zugefügt hat", kümmert. Trotz Kummer und Hunger sind inzwischen weder Bauch noch Wut verschwunden; die Wut ist chronisch geworden, und die Krankengeschichte liegt in Buchform vor. "Eine illustrierte Chronik der PDS 1989 bis 1994" nennt sich die gesammelte Aufregung.

Dem Gourmet sind übrigens beide Bücher nicht zu empfehlen: Das erste handelt zwar ausführlich ab, was man während und kurz nach einem Hungerstreik zu sich nehmen sollte: Während des Hungerstreiks dreieinhalb bis vier Liter Flüssigkeit, vor allem stilles Wasser, anfangs auch Selterswasser, Tomatensaft, als Abwechslung kann Möhrensaft gereicht werden, dazu drei Tassen Kaffee am Tag und notfalls 0,33 Liter Bier nach der Tagesschau. Nach Beendigung des Hungerstreiks Pudding essen, dann Hühnerbrühe und erst viel später wieder feste Nahrung aufnehmen, auf keinen Fall sofort reinhauen. Das könnte zu gesundheitlichen Problemen führen. Das Buch enthält auch zahlreiche Fotografien von hungernden historischen Persönlichkeiten, darunter Gregor Gysi, Hanno Harnisch, Dietmar Bartsch und Lothar Bisky selbst; letzterer ist, wie es sich für einen demokratisch-sozialistischen Parteichef gehört, am häufigsten abgebildet. Tomatensaft und Kaffee sind nur auf je einer Aufnahme deutlich zu erkennen, Bier und Sekt hingegen nicht.

Noch reichhaltiger illustriert ist das zweite mit chronischen Beschwerden befaßte Buch. Es enthält immerhin eine Eintragung über ein "Protestessen" von vier CDU-Bundestagsabgeordneten am 13. Dezember 1994. Die Herren speisten demonstrativ auf einem Flur des Bonner Bundeshauses, weil sie selbigen nicht länger mit PDS-Abgeordneten teilen wollten. Die Aktion, sechs Tage nach dem Ende des im ersten Buch abgehandelten Hungerstreiks, wird als "Gipfelpunkt der Geschmacklosigkeit in der Auseinandersetzung mit der PDS" klassifiziert. Was es zu essen gab, ist indes weder in Wort noch Bild festgehalten. JOCHEN STAADT

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