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Zehn Jahre nach dem Tod Raymond Carvers, eines der "wirklichen Großmeister der zeitgenössischen Literatur" (The New York Review of Books), erscheint hier erstmals vollständig auf deutsch der erste von Carver selbst zusammengestellte Erzählungsband. Er enthält Geschichten über die Verlierer und Verlorenen der amerikanischen Gesellschaft. Das Originalbuch wurde seinerzeit von der amerikanischen Kritik mit einhelliger Begeisterung aufgenommen und machte den Autor schlagartig berühmt.

Produktbeschreibung
Zehn Jahre nach dem Tod Raymond Carvers, eines der "wirklichen Großmeister der zeitgenössischen Literatur" (The New York Review of Books), erscheint hier erstmals vollständig auf deutsch der erste von Carver selbst zusammengestellte Erzählungsband. Er enthält Geschichten über die Verlierer und Verlorenen der amerikanischen Gesellschaft.
Das Originalbuch wurde seinerzeit von der amerikanischen Kritik mit einhelliger Begeisterung aufgenommen und machte den Autor schlagartig berühmt.
Autorenporträt
Raymond Carver, geb. 1938 in Clatskanie, Oregon, schlug sich zuerst mit Gelegenheitsjobs durch, war alkoholabhängig und konnte sich erst 1970 ganz dem Schreiben widmen. Sein erster Erzählungsband machte ihn 1976 schlagartig berühmt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2000

Der Meister aus der Provinz
Schuld und Versagen in Raymond Carvers Short Stories
Der junge Mann, der in Yakima/ Washington im Auftrag eines Apothekers Medikamente ausfährt, weiß, was er will. Er will schreiben, er muss schreiben, er ist besessen von der Idee, Gedichte zu schreiben. Und er ist sich seiner ganz sicher, er ist geboren, um ein Dichter zu sein. Das war Ende der Fünfziger und genau die Zeit, als Raymond Carvers Vater Clevie krank und vom Alkohol gezeichnet zusammenbrach und Raymond nicht wusste, ob er seine Mutter Ella Casey, seine Frau, sein Kind oder sich selbst zuerst trösten oder ob er sich auch dem Alkohol ergeben sollte.
Raymond Carver wurde Dichter, Säufer und Autor präziser Kurzgeschichten. 1988 starb er im Alter von fünfzig Jahren an Lungenkrebs. Sein früher Tod machte ihn zum Heiligen aus der amerikanischen Provinz Raymond Carver ist der Schriftsteller mit dem größten Einfluss auf die amerikanische Gegenwartsliteratur. Leser von Stewart O'Nans Romanen wissen, wie der literarische Realismus nach Carvers Tod weitergeht.
Carvers Short Stories filtern Momente der Schuld und des Versagens. Seine Geschichten hören da auf, wo triviale Autoren beginnen. „Ich hasse Tricks”, hat er einmal geschrieben und kritisierte damit indirekt die formalen Experimente der Avantgardisten der siebziger Jahre. Mit Tricks meinte Carver alles, was von der Aufgabe der maximalen Treue zur Welt, so wie sie ist, ablenkt. Ezra Pounds Aussage über die fundamentale Genauigkeit als einzig gültige Moral des Schreibens hing, auf eine Karteikarte geschrieben, über seinem Arbeitstisch. Carver schrieb über einfache Dinge in einfacher Sprache. Als Inventar brauchte er keine Landschaft, kein Meer, keinen See, kaum Autos ; ein Stuhl, ein Vorhang, eine Gabel, der Ohrring einer Frau genügten ihm.
Mit der Verschwiegenheit seiner Texte reizt er die Neugier, immer lässt er Raum für die Romantik des American way of life. Carver benutzt nur soviel Interieur, wie ein Rasierspiegel fassen kann.
Sein Genie, seine Aufrichtigkeit, seine erzählerische Diskretion, sein Sound entfalten sich in miesen, mit billiger Auslegeware verklebten Wohnungen, in der Nachbarschaft von Handelsvertretern, Kellnern und Sekretärinnen, von Arbeitslosen und Menschen, die sich ruinieren, weil sie die Raten für den Lebenstrash nicht mehr bezahlen können. Ehen und Kindheiten gehen zu Bruch, zur Allianz aus Sex, Scham und Drinks kommt die Unfähigkeit, sich im Privaten auszudrücken. „Laß uns über was Nettes sprechen”, sagt Caroline in der Story „Zeichen”; „schon gut, klar”, sagt Wayne.
Zwölf Jahre nach Raymond Carvers Tod blüht der literarische Devotionalienhandel, von seiner zweiten Frau, der Autorin Tess Gallagher, gesteuert und von seinem eigenen Lebenslauf illustriert. Raymond Carver war ein Selfmademan, wie Amerika sie braucht. Der Sohn eines Arbeiters entkam der Hölle des Alkoholismus, ein Autodidakt schrieb Gedichte, Essays über Literatur und Geschichten, ein vom Tod Gezeichneter zeigte sich ruhig und gelassen. Raymond Carver war bekannt, als großzügiger Freund und geduldiger Lehrer. Auch wenn er zu den Hemingway-Nachfolgern gehört, war er kein Macho, er war der Zweifler und der Warner vor männlicher Gewalt. Mehrere Erzählungen zeigen Männer, die aus dem Familiensystem ausbrechen wollen und ihre Unfähigkeit, Gefühle in Worte zu fassen, hinter brutalen Effekten verbergen. Carvers Helden haben viel von seiner eigenen ländlichen Unschuld. Er war schon erwachsen, als er zum ersten Mal eine Bibliothek sah und jemand fand, der ihm erklären konnte, was „edited by” bedeutet.
Unverstaubt und altersfrei
Als der Piper Verlag 1985 den Erzählband Kathedralen und vier Jahre später Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden in der Übersetzung Klaus Hoffers auf den deutschsprachigen Markt brachte, blieb das weitgehend unbemerkt. Erst Robert Altmans Filmerfolg Short Cuts, dessen Drehbuch nach Carvers Stories entstand, machte den Namen prominent. Und dann erschienen die Simple Storys von Carvers ostdeutschem Nachfahren Ingo Schulze, und Ingo Schulze erzählte allen, die ihm zuhören wollten, welch große Stücke er auf sein Vorbild Raymond Carver hält. Der Abstand, der zwischen 1976, dem Erscheinungsjahr des jetzt von Helmut Frielinghaus neu übersetzten Bandes Würdest du bitte endlich still sein, bitte (neun der 22 Erzählungen sind jetzt erstmals ins Deutsche übertragen) und heute liegt, beweist die „Haltbarkeit” der Geschichten. In der veränderten literarischen Welt, die von Geld und Glamour, Labels, Langeweile und brutalen Morden lebt und in Büchern beschrieben wird, wie sie Brett Easton Ellis und Tom Wolfe produzieren, behaupten sich die Carver-Geschichten unverstaubt und altersfrei. Sie hinterlassen ein bohrend, treffendes Gefühl.
„Keine meiner Geschichten”, sagte Carver einmal, „haben sich natürlich so zugetragen, aber alle profitieren vom Moment der Wahrscheinlichkeit. ” Raymond Carver beschreibt die Nahtstellen familiären Unglücks. Die kannte er aus seinen eigenen Erfahrungen. Richard Ford, der Carver-Freund und -Verehrer, zeichnet in seinem Einführungstext ein genaues Bild von dem zugänglich-unzugänglichen Mann, der sich nicht an die Regeln des Familienlebens hält und zu Fords Entsetzen seinen eigenen Sohn bittet, ihm eine Zeitlang nicht über den Weg zu laufen.
Der Lyriker Carver schrieb Kurzgeschichten, um die Zeit zwischen den Gedichten mit etwas Leichterem zu verbringen, mit etwas, das man mit ein wenig Glück schnell hinschreibt und hinter sich bringt. Die Titelgeschichte des Bandes Würdest du bitte endlich still sein, bitte erzählt von Ralph, der weder das Medizinstudium noch das Jurastudium hinbekam und sich jeden Abend volllaufen ließ. Ralph schaffte es schließlich doch. Er wurde Lehrer, traf Marian, das Mädchen mit der Lederhandtasche, heiratete sie und hatte das Gefühl, dass „er und Marian einander vollkommen verstanden”, mit sich selbst fühlte er sich auch vollkommen im Einklang. Ralph und Marian haben ein Haus und zwei Kinder, aber da, hinten im Kopf, war die Erinnerung an einen Abend vor zwei oder drei Jahren. Hatte Marian Ralph mit Mitchell Anderson betrogen? Er entlockt ihr das Geheimnis. „Es tut mir leid”, sagt sie, und er sagt: „Du bist immer so gewesen, Marian! Und er wußte im selben Moment, daß er eine neue und profunde Wahrheit ausgesprochen hatte. ”
Oft werden Carvers Personen gezwungen, etwas zu tun, was ihnen widerstrebt, sie können es nicht erklären, aber sie ahnen die Katastrophe, so wie der Schriftsteller Myers, der wusste, dass der weihnachtliche Überraschungsbesuch bei den Morgans in einer Katastrophe enden werde, auch Evan Hamilton weiß, daß die Auseinandersetzung zwischen Mr. Berman und ihm unmöglich war. Jetzt wird sein Sohn das Bild der Schlägerei niemals vergessen können. Die Alltagsdramen haben einen Grund. Sie entstehen aus Unsicherheit, Nervosität, blöden kleinen Dingen. Evan Hamilton hat mit dem Rauchen aufgehört, Al hat Angst, entlassen zu werden, eine Ehe war auseinander gegangen, Eltern brüllten sich in der Küche an und versetzten ihren Sohn in Panik. Der Wunsch nach einem durchschnittlichen Haus, einer durchschnittlichen Familie, einem sicheren Arbeitsplatz steht bei Carver im Widerstreit mit dem plötzlichen Impuls zu fliehen oder allein und in Ruhe gelassen zu werden.
Raymond Carvers erzählerischer Erregungszustand ist der Wettstreit zwischen Handeln und Wünschen. In den meisten Fällen siegt die „Handlung”, und der Wunsch ist der zerstörerische Eindringling, der die Ruhe zerschneidet. Carvers Anfänge sind Überfälle: „Bill und Arlene Miller waren ein glückliches Paar. ” „So wie Al es sah, gab es nur eine Lösung. ”
Helmut Frielinghaus’ Übersetzung ist knapper und präziser als die Klaus Hoffers. Aus „Flitterwochen” wird bei Frielinghaus die „Hochzeitsreise”, aus „schwach erleuchtet” „spärlich beleuchtet”. Ralph konnte sehen, wie „ihre Brüste gegen den weißen Schal drückten”. Bei Frielinghaus kann Ralph die „gegen den weißen Stoff drängenden Brüste sehen”. Manchmal geht in der Übersetzung auch was daneben, oder sie ist seltsam verschraubt. Ein Sofatisch stößt ein Glas Cream Soda um, „krakeelende Teenager” machen „mit einem langen Hornstoß aus ihrer musikalischen Hupe” auf sich aufmerksam.
Raymond Carver übersteht das. Er fasziniert mit seiner Direktheit. Das Wort Voyeur ist falsch. Seine Neugier an den Personen ist immer eine Mischung aus Sympathie und Verzweiflung. Sie stehen vor einer Veränderung. „Worauf wartet sie? Das wüßte ich gern. Mein Leben wird sich ändern. Ich spüre es. ”
Carver meinte, Kunst müsse die Aufgabe des Blinden übernehmen, der den Taubstummen führt. So findet man den Weg aus der amerikanischen Provinz. Einige seiner Geschichten sind ein bisschen abgenudelt. Das liegt daran, daß seine Nachfahren ihn fortschreiben. Seine besten Erzählungen – „Dick”, „Versetzen Sie sich in meine Lage”, „Fahrräder, Muskeln, Zigaretten”, „Was ist denn?”, „Keiner hat etwas gesagt” und „Würdest du bitte endlich still sein, bitte” – sind brillant. Wer so die kleine Welt beschreibt, der bleibt in der großen Welt bestehen.
VERENA AUFFERMANN
RAYMOND CARVER: Würdest du bitte endlich still sein, bitte. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin Verlag, Berlin 2000. 326 S. , 39,80 Mark.
Raymond Carver (1938-1988)
Foto: Jerry Bauer
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Sibylle Cramer hat die Lektüre von Raymond Carvers kurzen Geschichten derart euphorisiert, dass ihr Gedanken philosophische Flügel, ihre Sentenzen mitunter allerdings germanistische Bleifüße bekommen. Zunächst in wenigen Sätzen Carvers Einordnung in den Kanon der Weltliteratur. Neben Tschechow und Beckett siedelt sie ihn an. Carver, dessen Geschichten "Edward Hoppers auf Objektivität dringende Bilder amerikanischer Einsamkeitswirklichkeit zum Sprechen" bringen. Dann wird in Ehrfurcht gejubelt, im Taumel interpretiert. Manche Formulierung gerät da ein wenig ins Unverständliche. Am Ende ist die Rezensentin wieder ganz bei sich: lobt die Übersetzung von Helmut Frielinghaus, den sie - zusammen mit einer vom Verlag geplanten Werkausgabe, an der er ebenfalls als Übersetzer beteiligt ist - als Glücksfall bezeichnet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Der Schwimmer im Treibsand
Endlich wieder in deutscher Übersetzung: Raymond Carvers beunruhigende Erzählungen / Von Hubert Spiegel

Nicht jeder bedeutende Schriftsteller braucht ein Geheimnis, aber es kann nicht schaden, wenn er eines hat. Raymond Carver, einer der wichtigsten und einflussreichsten Autoren der amerikanischen Literatur der letzten fünfundzwanzig Jahre zählt, hatte gleich zwei Geheimnisse. Da sind zum einen jene Jahre in seinem Leben, in denen Carver ein haltloser Trinker war, ein Verlierer, der Streit in Kneipen anfing, Schulden machte, Freundschaften und Inneneinrichtungen ruinierte. Damals, in den frühen siebziger Jahren, muss Carver, den seine Freunde später liebevoll-spöttisch "den guten Raymond" nannten, ein völlig anderer Mensch gewesen sein. Wäre zu jener Zeit die Rede auf ihn gekommen, hätte man vermutlich vom "bösen Raymond" gesprochen. Aber damals sprach keine Menschenseele von dem hageren, knochigen Mann mit schlechten Zähnen, breiten Koteletten und verfilzten Haaren, als den ihn sein Schriftstellerkollege Richard Ford noch 1977 kennen lernte. Und Carver selbst redete später nur ungern über seine dunklen Jahre, in denen er auf den Abgrund zusauste wie ein Regentropfen, der am Fensterglas herunterfließt.

Was den freien Fall aufgehalten hat, wie es dem ehemals schweren Alkoholiker gelungen ist, bis ans Ende seines Lebens den Rückfall zu vermeiden, der ihm oft und meistens hinter vorgehaltener Hand prophezeit worden war, darüber lässt sich letztlich nur spekulieren. Tess Gallagher, seine zweite Frau, dürfte eine Rolle gespielt haben, aber vermutlich noch wichtiger war der Erfolg, den er als Schriftsteller hatte. Dreizehn Jahre lang, vom Erscheinen seines Debütbandes "Would you please be quiet, please" im Jahr 1976 bis zu seinem Krebstod 1988, wuchs Carvers Ruhm in Amerika unablässig, und wenn man Richard Fords Vorwort zur deutschen Ausgabe Glauben schenkt, hat es wohl nur selten einen Schriftsteller gegeben, der sein Glück so zu genießen verstand. Carver sog den Erfolg mit der Inbrunst eines Häftlings durch die Nasenflügel, der nach endlosen Jahren im Kerkerloch erstmals wieder frische Luft atmet: Etwas war eingetreten, das er nicht mehr für möglich gehalten hatte. Staunen und Verwunderung über seinen Ruhm sollten Carver bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen.

Dass dieser Erfolg undenkbar gewesen wäre ohne die zuvor erlittenen Qualen und Ängste, war ihm bewusst. Carver hat nie offen autobiographisch geschrieben, er hat nie öffentlich mit seinen dunklen Jahren kokettiert, aber sein zweites Geheimnis ist mit jenem ersten aufs engste verknüpft. Woran, so fragt man sich, mag es liegen, dass es oft nahezu unmöglich ist, sich dem eigentümlichen Reiz dieser Kurzprosa zu entziehen? Carver ist für seine Lakonie und seinen minimalistischen Stil gepriesen worden, für die Genauigkeit seiner Beschreibungen, für die Leichtigkeit, mit der er in wenigen Sätzen und einigen Dialogfetzen das Milieu und die Situation seiner Figuren etabliert. Seine Kunst, seine Erzählungen mit Sätzen anfangen zu lassen, die wie aus dem Zusammenhang gerissen wirken und doch unmittelbar zu den Figuren führen, trug ihm den ehrenvollen Vergleich mit Tschechow ein. Carver hat so viel Lob erfahren, dass man misstrauisch werden könnte. Und tatsächlich muss man einwenden, dass er sich zuweilen allzu sehr auf das sichere Handgelenk verlässt, aus dem heraus er der Banalität des Alltags die Aura des Existenziellen überwirft. Aber selbst wenn man allen Lobeshymnen rückhaltlos zustimmen würde, das Geheimnis dieses Schriftstellers enthüllen sie nicht. Vermutlich kam John Updike der Sache noch am nächsten, als er von Carvers Fähigkeit sprach, "die Dinge in ihrem Schweigen zum Sprechen zu bringen". Dass die Dinge sprechen, heißt indes noch nicht, dass sie etwas verraten.

"Das hier hat nichts mit mir zu tun", lautet der erste Satz eines Berichts, in dem ein Briefträger von einem jungen Paar erzählt, das eines Tages mit seinen drei Kindern in der Stadt auftaucht, um sie nach ein paar Monaten wieder zu verlassen, allerdings auf getrennten Wegen, erst sie, dann er. Vermutlich haben die beiden sich gestritten, vermutlich hat sie ihn verlassen, vermutlich hat er gelitten wie ein Hund. Aber Genaueres erfahren wir nicht, der Briefträger ist ein neugieriger Bursche, aber ein eher lausiger Beobachter. Am Ende der Erzählung mit dem Titel "Was machen Sie in San Francisco?" wissen wir über den Ich-Erzähler nicht sehr viel mehr, als dieser über die Neuankömmlinge in Erfahrung bringen konnte. Aber wir haben gesehen, wie Neugierde, Anteilnahme, Zuneigung, Mitgefühl, Zorn und der Schmerz des Verlassenen den Briefträger ergriffen haben, Gefühle, die er nicht mit einem Wort erwähnt.

Carvers Helden haben nichts Spektakuläres an sich, es sind kleine Leute mit großen Schwierigkeiten: der Briefträger Henry Robinson aus Arcata, die Kellnerin, die einen ungeheuer dicken Mann bedient und danach glaubt, ihr Leben werde nie mehr sein wie zuvor, der arbeitslose Vertreter Earl Obermann, der seine Frau Doreen bei der Arbeit im Coffee Shop besucht und feststellt, dass er sie zwar mit den Augen eines gewöhnlichen Gastes betrachten, nicht aber die anderen Gäste dazu bringen kann, Doreen mit den Augen des Ehemannes zu sehen. Am Ende der Geschichte sehen alle im Coffee Shop Earl an, aber niemand lässt uns wissen, welchen Anblick er bietet. Doreen zuckt nur mit den Schultern.

Die meisten dieser Short Stories, die selten länger als fünfzehn, zwanzig Seiten sind, ließen sich mit wenigen Sätzen wiedergeben: Ein Mann erhält einen Anruf von einer Unbekannten, die ihn inständig bittet, ihn zu besuchen, bis er es schließlich tut, ohne zu wissen, warum (Sind sie Arzt?). Ein Ehemann erfährt von einem lang zurückliegenden Seitensprung seiner Frau, rennt aus dem Haus, irrt durch die Nacht, kehrt zurück und schließt sich im Badezimmer ein (Würdest du bitte endlich still sein, bitte). Ein Arbeitsloser erhält Besuch von einem Staubsaugervertreter, der sich nicht abwimmeln lassen will. Was sich nicht so einfach wiedergeben lässt, sind die Gefühle und inneren Bewegungen, die sich auf diesen wenigen Seiten abspielen. Carver liebt es, seine Figuren in jenen Momenten zu zeigen, in denen sie zu ahnen beginnen, dass etwas mit ihnen geschieht, dass Veränderungen bevorstehen, dass etwas begonnen hat, Besitz von ihnen zu ergreifen und sich nicht mehr aufhalten lassen wird. Diese Furcht vor dem, was da kommt, sich aber noch nicht vollständig zu erkennen gibt, lässt Carver in seine Figuren eindringen wie Flugsand in die Ritzen alter Gemäuer. Am Ende gibt es keinen Quadratzentimeter mehr im ganzen Haus, wo nicht bei jedem Schritt die Sandkörner unter der Schuhsohle knirschen. Carvers Geschichten sind Variationen unserer Angst und seine Helden Menschen jener Sorte, die nicht gelernt haben, ihren Ängsten Namen zu geben.

Ihr Autor ist klug genug, es bei dieser Namenlosigkeit zu belassen. Er weiß nur allzu gut, wie es sich anfühlt, wenn man den Boden unter den Füßen verliert, und dennoch beschreibt er in seinen Geschichten unermüdlich immer wieder dieses Gefühl, jene Treibsand-Situationen, in denen die Welt ihre Konsistenz verändert und Fußboden, Wände und alle Bindungen plötzlich fest und flüssig zugleich sind: zu flüssig, um darauf zu stehen, zu fest, um darin zu schwimmen.

Die Stetigkeit und Ausdauer, mit denen Carver in seinem knapp zehnbändigen Werk immer wieder derartige Situationen schildert, haben etwas Obsessives an sich. Aber es ist nicht die Lust am Untergang, die Carver bewegt, denn es ist fast nie das katastrophale Ende, das hier geschildert wird. Es muss etwas anderes gewesen sein, dass ihn bewegt hat. Vielleicht der Triumph desjenigen, der erst im Treibsand das Schwimmen gelernt hat.

Carvers Kunst hat nicht nur viele Bewunderer, sondern auch zahlreiche Jünger gefunden. So viele, dass sich ohne weiteres von einer Carver-Schule sprechen lässt, zu der sich unlängst auch Ingo Schulze bekannt hat, während Judith Hermann sich erleichtert zeigte, Carvers Texten erst nach Beendigung ihres Debütbands begegnet zu sein. Das ist keineswegs ehrenrührig, wenn selbst ein Autor vom Rang Richard Fords Zweifel hegt, ob er sich jemals von den "Rockschößen" des sieben Jahre älteren Freundes freimachen kann. Fords Vorwort, ursprünglich aus Anlass des zehnten Todestages Carvers im August 1998 im "New Yorker" erschienen, ist das Begrüßungswort für einen Verschollenen, wie es schöner kaum denkbar ist. Und verschollen war Carver in Deutschland in den letzten Jahren tatsächlich, so unglaublich das klingen mag. Die Bände, die der Piper Verlag in den achtziger Jahren in der soliden Übersetzung Klaus Hoffers herausgebracht hatte, sind längst vergriffen, und außer dem im Maro Verlag erschienenen Lyrikband "Gorki unterm Aschenbecher" hat es im deutschen Buchhandel kein einziges Werk dieses bedeutenden Autors mehr gegeben. Jetzt hat sich der Berlin Verlag Carvers angenommen. Das ist umso verdienstvoller, als man es es nicht bei der Neuübersetzung des Debütbandes "Würdest du bitte endlich still sein, bitte" belassen will, sondern eine vierbändige Carver-Ausgabe angekündigt hat. Dem Debüt, von dessen zweiundzwanzig Erzählungen neun zum ersten Mal überhaupt in deutscher Sprache vorliegen, soll bereits im kommenden Herbst mit "Cathedral" (1983) der zweite Band folgen. Ingo Schulze wird "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" (1981) mit einem Nachwort versehen, und ein vierter Band soll neben einigen zerstreuten auch mehrere bislang unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass versammeln. Die Übersetzung aller Bände wird Helmut Frielinghaus besorgen, der Carvers lakonischen Tonfall zu wahren weiß, ohne die Zwischentöne zu opfern. Dass nicht alle subtilen Untertöne des Originals vernehmbar sind, ist dem Übersetzer nur im seltensten Fall anzukreiden.

Aber nicht nur Übersetzer, auch Lektoren haben ihre Mühe mit Carver. Sein langjähriger Lektor Gordon Lish, selbst durchaus literarisch ambitioniert, hat noch zu Carvers Lebzeiten zunächst hinter vorgehaltener Hand im engsten Kollegenkreis und später wohl bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit verkündet, dass Carvers berühmter Stil das Ergebnis seines Lektorats sei. Er, Lish, habe Carvers Texte radikal zusammengestrichen, habe Passagen umgeschrieben, neue, eigene Anfänge und Schlusspassagen erdacht. Vor allem der an Carver so geschätzte lakonische Ton und die minimalistische Erzählweise seien erst der Hand des Lektors zu verdanken.

Carver selbst hat sich, soweit man weiß, nie zu den Vorwürfen geäußert, aber natürlich gibt es die Manuskripte noch. D. T. Max, der Gelegenheit hatte, einige von Lish bearbeitete Manuskripte Carvers einzusehen, hat in einem langen Artikel, der im August 1998 in der "New York Times" erschienen ist, seine Eindrücke geschildert: Lish hat einzelne Geschichten um bis zu siebzig Prozent gekürzt und auch einzelne Sätze oder ganze Passagen neu geschrieben. In dem 1981 erschienenen Band "What We Talk About When We Talk About Love", hat der Lektor die Hälfte des Originaltextes gestrichen und für zehn der dreizehn Erzählungen das Ende umgeschrieben. Max bescheinigt Lish, er habe durchaus Anteil am Erfolg Carvers, aber zugleich attestiert er ihm die Aussichtslosigkeit seines Protests: "Es ist verständlich, dass Lishs Vorwürfe niemals ernst genommen wurden. Ein egozentrischer Lektor wagt den Aufstand gegen eine amerikanische Ikone."

Vielleicht wird ja neues Licht auf diesen Streit fallen, wenn Tess Gallagher, Carvers Witwe, die ihrerseits eine Co-Autorschaft an späten Texten ihres Mannes für sich reklamiert, Zugang zu weiteren, in ihrer Obhut befindlichen Manuskripten erlaubt. Bis dahin lässt sich nur konstatieren, dass Gordon Lish ein glänzender Lektor war, der nicht länger nur hinter der Bühne glänzen wollte. Lish verstand sich offenbar als Konkurrent seines Klienten, und womöglich hielt er sich für den besseren Schriftsteller. Dass er mit seinen eigenen Texten keinen nennenswerten Erfolg hatte, spricht weder gegen seine Behauptungen noch gegen seine Verdienste als Lektor. Wenn es überhaupt etwas beweist, dann wohl dies: Es ist eine Sache,einen Rohdiamanten zu schleifen, ihn aus Kohlenstoff zu pressen, eine ganz andere.

Raymond Carver: "Würdest du bitte endlich still sein, bitte". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Frielinghaus. Berlin Verlag, Berlin 2000. 326 S., geb., 39,80 DM.

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"Carver stellt nicht bloß, er stellt bloß fest, aber das stets mit einem so fühlbaren wie verhalten andeutenden Mitgefühl. In ihrer grauen Unaufälligkeit gehen diese Schicksale dem Leser noch lange nach: ein Beweis für Carvers exzellente Erzählkunst." (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

"Ein großer Meister der kleinen Form, ein Skeptiker, der mit beiden Beinen in der Realität steht. Nie zaghaft, nie zu ausführlich, immer dem Prinzip verpflichtet, dass absolut alles wichtig ist in einer Kurzgeschichte. Oft beginnen Carvers Geschichten erst, wenn die letzte Zeile schon verklungen ist." (Die Weltwoche)