des Warschauer Arbeitskomitees der Polnischen Sozialistischen Partei fand zwar große Resonanz, doch die Revolution wurde bekanntlich zerschlagen, und die Polen mußten weitere dreizehn Jahre warten, bis ihr Freiheitstraum Wirklichkeit wurde. Im Jahre 1905 konnten sie nur aus einem freudigen Ereignis Trost schöpfen: Henryk Sienkiewicz, der Autor des Welterfolgs "Quo vadis?", wurde als erster Pole mit dem Literaturnobelpreis bedacht.
Seine enorme Popularität verdankte er in erster Linie seinen historischen Romanen, vor allem seiner Trilogie über das 17. Jahrhundert, die drei erfolgreiche Feldzüge - gegen die ukrainischen Kosaken ("Mit Feuer und Schwert"), die Schweden ("Die Sintflut") und die Türken ("Herr Wolodyjowski") - zum Hintergrund hat. Im Stoff lag auch größtenteils das Geheimnis des Erfolgs: Die seit Jahrzehnten gedemütigten Polen brauchten nichts dringender, als daß man ihnen die ruhmreichen Kapitel ihrer Geschichte vor Augen führte.
Allerdings bestand sein OEuvre auch aus Werken, die ganz im Zeichen der Gegenwart standen. Dazu gehörte nicht zuletzt sein später Roman "Wirren" (1910), ein Liebesroman mit politischen Exkursen. Das Buch war eine Reaktion auf die Revolution von 1905 und wurde von allen politischen Lagern gleichermaßen mit hohen Erwartungen gelesen - zum einen, weil Sienkiewicz als eine der höchsten moralischen Autoritäten galt, und zum anderen, weil man sich davon eine Antwort auf die Frage versprach, welche Fraktion sich nun mit seinem Namen schmücken durfte. Bis dahin hatte er mit verschiedenen Parteien, insbesondere aber mit den extrem konservativen Nationaldemokraten, kokettiert.
Anfänglicher Handlungsort des Romans ist ein Landgut, auf dem anläßlich einer Testamentseröffnung mehrere Personen zusammentreffen: der Besitzer Wladyslaw Krzycki, die Jungwitwe Zofia Otocka und ihre musikbegabte Schwester Marynia sowie eine geheimnisvolle Engländerin namens Agnes Amney. Dies ist auch der Auftakt des romantischen Handlungsstrangs, in dessen Mittelpunkt Krzycki und Agnes stehen. Sie fühlen sich von Anfang an zueinander hingezogen, bald gestehen sie sich ihre gegenseitige Liebe. Doch kurz nachdem sie ihre Verlobung kundgetan haben, wird das Geheimnis der fließend Polnisch sprechenden Fremden gelüftet: Sie hat ihre Jugend in einem benachbarten Dorf verbracht und in dieser Zeit ein kurzes Liebesverhältnis mit Krzycki gehabt. Eine Schicksalsfügung hat sie später nach England geführt, wo sie zu Bildung und Vermögen gekommen ist. Obwohl Krzycki trotz der schockierenden Enthüllung die Verlobung aufrechterhalten will, wächst zwischen den Liebenden schnell eine Mauer aus Scham, Vorurteil und verletztem Stolz. Als sich die wahre Identität der "Engländerin" herumspricht, dauert es nicht mehr lange, bis die Verbindung gelöst wird, obwohl sie selbst das Land wieder verläßt.
Das einfache Volk, aus dem sie stammt, ist ein wichtiges Thema der Handlung. Zunächst sind es die Bauern der Gegend, deren Unzufriedenheit - laut besagtem Testament sollen sie nicht, wie erwartet, Geld und Land, sondern eine Landwirtschaftsschule erhalten - zunehmend in offene Rebellion übergeht. Als nach mehreren Sabotageakten und Anschlägen auch Krzycki Opfer eines Überfalls wird und die Gutshausbewohner schließlich nach Warschau flüchten, rückt die Arbeiterschaft in den Fokus. Tragischer Höhepunkt beider Handlungsstränge ist eine Straßenschlacht, bei der die sechzehnjährige Marynia ums Leben kommt.
Ansonsten fällt das Bild der Revolution eher blaß aus, denn Sienkiewicz setzt sich mit ihr vor allem in langen Diskursen auseinander. Dazu stellt er Krzycki einige Widersacher zur Seite, unter denen eine weltfremde Künstlernatur ebenso zu finden ist wie ein zynischer Bonvivant oder ein "kenntnisreicher Dilettant". Die Ereignisarmut der Handlung war übrigens auch ein Haupteinwand seiner Zeitgenossen, die auch sonst auf das Buch kühl bis ablehnend reagierten. Sie warfen Sienkiewicz Realitätsfremdheit vor und kritisierten, daß er keine eindeutige politische Stellung bezogen habe. Und in der Tat sprach er sich weder für die Revolution noch für die Zusammenarbeit mit dem zaristischen Rußland aus, dafür demonstrierte er um so deutlicher die Kluft zwischen den Interessen einer Gesellschaftsschicht und denen der ganzen Nation.
Seine antirevolutionäre Haltung hatte freilich tiefere Ursachen: Dem erklärten Befürworter der "organischen Aufbauarbeit", wie die Positivisten das Bemühen um eine harmonische Entwicklung der Gesellschaft nannten, war jede kurzfristig herbeigeführte Veränderung zuwider. "Doktrinen berauschen nicht schlechter als Alkohol", ließ er im Roman sein Alter ego verkünden, "folglich sind momentan alle betrunken." Außerdem war er der Ansicht, daß die Polen sich einen offenen Klassenkampf nicht leisten könnten, weil das Wiedererlangen der Unabhängigkeit höchste Priorität habe.
Die Erfüllung seines Traums erlebte er nicht mehr: Im Jahre 1916 starb er im Schweizer Exil. Und sein letzter großer Roman führte weiterhin ein Schattendasein. Auf die Erstausgabe von 1910 folgten bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lediglich zwei weitere, in den Zeiten der Volksrepublik erschien das Buch nur einmal (1951). Erst im Wendejahr 1990 brachte es ein Danziger Verlag neu heraus, doch auch diesmal mit geringem Erfolg. Offenbar hatten die Leser noch zu frisch die eigene Revolution vor Augen, um sich mit der ihrer Vorväter zu beschäftigen.
MARTA KIJOWSKA.
Henryk Sienkiewicz: "Wirren". Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Karin Wolff. Nachwort von Olga Tokarczuk. Manesse Verlag, Zürich 2005. 572 S., geb., 22,90 [Euro].
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