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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.1995

Maulwurf, Kröterich und Dachs
Freunde mit menschlichen Eigenschaften

Maulwürfe sind nicht blind, das steht fest. Sie sehen klar und gar mitunter hellsichtig. Ein Ratterich, ein Wasserratz, hat ein starkes Gefühl für Schönheit und ein verständnisvolles Herz, der Dachs aber ist weise, verschwiegen und hochdenkend, mit einem kleinen Schuß Pathos als philosophisches Anhängsel sozusagen. Ein gutes Team, die drei Hauptakteure, und gemeinsam zu allem Guten fähig. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Es geht hier nicht um das schöne, einfache und heitere Leben, in dem die kleinen Abenteuer glorreich bestanden werden. Es geht überhaupt nicht um die lächerliche Illusion eines beständigen Glücks. Es geht um das schwierige Einüben des Miteinanders, es geht, im umfassenden Sinne, um das Leben selbst.

Der Maulwurf tritt in die Winternacht, weil sein Freund, der Otter, Hilfe braucht. Egal, ob die Laterne erlischt, egal, ob der Fluß mit seiner Eisdecke brüchig. Freundschaft fragt nicht. Der Maulwurf bricht auf und bricht ein. Überlebt wundersam in Eiseswasser, doch braucht nun selber Hilfe. Und die Freunde helfen. Allen voran der kluge, der weise Dachs. Aber wie sollen sie helfen, die kleinen Tiere im großen schneebedeckten Wildwald am wilden Winterfluß? Der Kröterich ist die Lösung. Er hat, als einziger, ein Flugzeug, mit dem Rettung möglich ist. Aber der Kröterich ist ein eitler, selbstverliebter Tropf, und wenn es darum geht, der Glanzvollste, der Ruhmreichste, der Bemerkenswerteste auf dieser Welt zu sein, kann man sich auf ihn nicht immer verlassen. Der Kröterich verkörpert das Unbeständige, die Unsicherheit, die die schöne Welt bedroht und mit der sie sich auseinanderzusetzen hat. Denn nicht der Bösewicht stört das freundliche, das freundschaftliche Miteinander - der Bösewicht im Gegenteil läßt Freunde ja zusammenrücken, mobilisiert die Abwehr. Das Miteinander wird bedroht von Selbstsucht und Größenwahn und der Lust an ungehindertem Genuß. Der Kröterich ist in gewisser Weise ein Prototyp, ein Hin- und Hergerissener zwischen Egoismus und freundschaftlichen Gefühlen, ein lebender Zwiespalt zwischen Wissen und Wollen, Wollen und Können, zwischen Ichdenken und Über-sich-Hinausdenken. Das macht ihn nicht liebenswert, so wie es die festen Charaktere Maulwurf, Ratterich und Dachs sind, aber es macht ihn wahr. Der Kröterich, obwohl der Älteste im Kreis, ist Kind, die Tiere ringsherum Entwicklungshelfer. So, als Erziehungsroman, ließe sich der "Winter in den Weiden" auch lesen, wäre da nicht die Poesie.

Der Kröterich also ist die personifizierte Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit der Welt, die alles andere als heil ist. Wohl ist sie schön, diese Welt im Wildwald am Fluß unter den Weiden. Aber Schönheit, Harmonie gibt's nicht gratis und frei Haus. Sie muß täglich neu erobert oder zumindest doch neu erarbeitet werden, um sie für einen Augenblick zu halten: die Schönheiten der Welt als ein Augenblick des erkämpften Glücks. Daß das kein Kampf mit Feuer und Schwert sein kann, an dessen Ende das Glück steht, daß es vielmehr Geduld, Verständnis, Großzügigkeit, Hilfsbereitschaft, Mut, Überwindung, Trauer und Vergebung, daß es die Liebe braucht, das ist die Botschaft des Buches, wenn es überhaupt poetische Botschaften gibt.

Die Tiere im Buch sind keine Menschen. Wohl tragen sie Mäntel und Schuhe, Mützen und Schals, trinken Tee und essen Suppe, aber sie sind Tiere, und die versuchte Nähe ist bloß das ewige Scheitern an der uralten Barriere zwischen uns und ihnen. Der tiefe Wunsch, den Claude Lévi-Strauss als seinen wichtigsten und innigsten nennt, mit einem Tier sprechen zu können, es zu befragen, es zu verstehen, bleibt ewig unerfüllt. Auch hier. Und das, nicht zuletzt, macht den Zauber dieser alten, fortgeschriebenen Geschichte.

Kenneth Grahame, Vorstandsmitglied der "Bank of England", hatte 1904, genau am 12. Mai, begonnen, seinem Sohn zum Geburtstag Geschichten über Maulwurf, Wasserratte, Dachs und Kröterich zu erzählen, Geschichten von erzählerischer Leichtigkeit voll Witz und Tiefe, wie sie zwanzig Jahre später nur Alan Alexander Milne in "Pu der Bär" erreicht hat. Und gewiß nicht zufällig sind beide Bücher vom selben Zeichner illustriert, dem Künstler Ernest Howard Shepard. An diese Geschichte von Grahame, "Der Wind in den Weiden", an dieses Meisterwerk der Kinderliteratur, hat sich William Horwoord gewagt. Ein Wagnis, das ein vernünftiger Mensch nur unter großem inneren Druck eingehen kann. Die Vertrautheit mit dem gleichen Ort, Oxford, mit dem Fluß, der Themse, die Zuneigung zu Maulwürfen und schließlich eine Zeichnung von Shepard haben den Autor mitgezogen, über alle Bedenken hin die Tiere im Wildwald aufs neue in Bewegung zu setzen.

Man sollte nicht den Fehler begehen, die Bücher vergleichen zu wollen. Sie sind nicht zu vergleichen. Aber die neue Geschichte aus dem Wildwald am Fluß besteht zu Recht und gottlob. Sie besteht mit dem großen Vorgänger und neben ihm. Sie ist von eigner Kraft und Phantasie und Witz und einem feinen Hauch von Ironie, die das falsche Heile vertreibt und dem vielgestaltigen Leben zu poetischer Wirklichkeit verhilft. SIBYLLE TAMIN

William Horwoord: "Winter in den Weiden". A. d. Engl. von Anne Löhr-Gößling, Ill. v. Patrick Benson, Verlag Thienemann, Stuttgart/Wien 1995, 320 S., geb., 32,- DM. Ab 10 J.

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