London.
Nein, viel ist in der kollektiven Erinnerung nicht geblieben von diesem einst hocherfolgreichen Bühnenautor, ambitionierten Romancier und leidenschaftlichen Erzähler von Kurzgeschichten, zumindest nicht im deutschsprachigen Raum. Dies endlich zu ändern, ist das erklärte Ziel von Michael Klein, der bereits vor sieben Jahren eine deutsche Erstübersetzung von Barries Roman "The Little White Bird" (1902) im Gollenstein-Verlag vorgelegt hat, das Buch also, in dem Peter Pan seinen ersten Auftritt erlebt. Hieran schließt der nun vorliegende Band an, der uns Barrie wiederum als Prosaschriftsteller vorstellt, diesmal in fünfzehn vornehmlich für Tageszeitungen und Zeitschriften geschriebenen Short Storys.
Gerade dies, also die Entstehung dieser Erzählungen für journalistische Zwecke, merkt man ihnen auch heute noch an - und zwar im durchaus vorteilhaften Sinne: in Hinsicht der erzählerischen Ökonomie dieser Texte, ihrem Einfalls- und Pointenreichtum. Die Zeitungen waren für Barrie, wie er im autobiographischen Rückblick bemerkt, die "Grisette der Literatur", die ihm, als Anfänger, "ein Lächeln und eine Hand" geboten und außerdem viel "beigebracht" habe. Ja, eigentlich, schreibt Barrie etwas frivol, habe es mit der frühen Geliebten niederen Standes sogar "mehr Spaß" gemacht als mit der späteren "Lady", also der sogenannten Big L Literature, die er allerdings schon damals "aus der Ferne" angehimmelt habe.
Entsprechend gibt es viele leichte, durch zugänglichen Alltagsrealismus und freundlichen Humor geprägte Stücke in diesem Band. Da ist etwa die Geschichte eines Schriftstellers, der tagtäglich durch die örtlichen Buchhandlungen streunt, um zu beobachten, ob sich wohl irgendjemand zum Kauf seiner Schmonzette "Lieb mich ewig - oder lass es ganz" entschließen mag. Am Ende stellt sich heraus, dass der einzige Käufer das Buch nur aufgrund einer Namenskoinzidenz erworben hat: "Sehen Sie, der Grund, warum er sich für ,Lieb mich ewig' begeisterte, ist, dass eine der Figuren zufällig William Banks heißt. Er heißt ebenfalls William."
Ebenfalls beispielhaft für diesen Erzählband liest sich die Schilderung der grotesken Verrenkungen eines Großstädters, der unter den Augen einiger Passanten einen vom Wind fortgetragenen Hut einzufangen versucht, "wie ein Abenteurer einen Büffel totgeschossen zu haben glaubt und nun vorwärtsschreitet, um stolz seinen Fuß auf den Kadaver zu stellen". Wie man sieht, der Witz dieser Geschichten ergibt sich oft aus der Überzeichnung oder Störung einer in all ihren Regeln erstarrten Bürgerwelt - Loriot im England des 19. Jahrhunderts sozusagen. In leichtem Kontrast dazu steht die Doppelbödigkeit einiger anderer Stücke, zum Beispiel jenes über einen "Möblierten", der abgesehen von "monetären Transaktionen" vollkommen unbehelligt im Haus seiner Vermieterin lebt - bis, ja bis er an einer lausigen Grippe erkrankt. Seine Vermieterin erkennt darin allerdings die Vorzeichen einer tödlichen Infektion, weshalb sie ihn nun, und zwar sehr zum Genuss des Kranken, "wie ein gütiger Engel" umsorgt. Umso brutaler dann, als sich die Genesung nicht länger zurückhalten lässt, der Absturz auf den Stand eines bloßen "Möblierten" und damit wieder in die Nichtbeachtung.
Was Barrie hier gelingt, lässt deutschsprachige Leser an Robert Walsers Büro- und Angestelltentexte denken und weist auf die neusachliche Prosa eines Erich Kästner voraus. Darüber hinaus gelingt ihm in diesem Text eine komische und zugleich tragische Inszenierung dessen, was Verhaltenstheoretiker als "sekundären Krankheitsgewinn" bezeichnen. Warum Neumann mit dem Titel seines Bandes ausgerechnet auf eine Erzählung verweist, die nicht eigenständig für eine Zeitung oder ein Magazin geschrieben wurde, sondern Barries Erinnerungsband "Margaret Ogilvy" (1896) entnommen ist, verwundert hingegen. Die recht schwierigen, zur psychologischen Interpretation anregenden Erinnerungen an die eigene Mutter, die übrigens bereits 1898 in der Übersetzung von Ina Bock auf Deutsch erschienen sind (was in den kommentierenden Anmerkungen unerwähnt bleibt), fallen aus dem Gesamtbild dieses Bandes doch eher heraus. Die eigentliche Erkenntnis vermag aber auch dies nicht zu verstellen: Barries flüchtige Veröffentlichungen aus der Zeit seiner frühen, etwas schmutzigen Liaison mit der "Grisette" Journalismus sind poetische Kunstwerke von eigenem Wert.
KAI SINA
James M. Barrie: "Wie meine Mutter ihr sanftes Gesicht bekam". Erzählungen.
Übersetzt und mit einem Nachwort von Michael Klein. Morio Verlag, Heidelberg 2017. 192 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main