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Philippsons Erinnerungen machen den stets latent vorhandenen gesellschaftlichen Antisemitismus deutlich, dem er besonders zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn ausgesetzt war. Trotzdem blieb er Zeit seines Lebens überzeugter nationaler Deutscher. Daher sind seine Aufzeichnungen auch ein Rechenschaftsbericht, niedergeschrieben, um zu verhindern, daß die Nationalsozialisten ihn und andere durch ihren Rassenwahn zu nicht denkenden Kreaturen herabwürdigen, niedergeschrieben, um durch die Erinnerung das Überleben zu ermöglichen.

Produktbeschreibung
Philippsons Erinnerungen machen den stets latent vorhandenen gesellschaftlichen Antisemitismus deutlich, dem er besonders zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn ausgesetzt war. Trotzdem blieb er Zeit seines Lebens überzeugter nationaler Deutscher. Daher sind seine Aufzeichnungen auch ein Rechenschaftsbericht, niedergeschrieben, um zu verhindern, daß die Nationalsozialisten ihn und andere durch ihren Rassenwahn zu nicht denkenden Kreaturen herabwürdigen, niedergeschrieben, um durch die Erinnerung das Überleben zu ermöglichen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Die Erde als organisches Phänomen
Preußischer und jüdischer Patriot: Die Lebenserinnerungen des Geographen Alfred Philippson / Von Notker Hammerstein

Diese Lebenserinnerungen sind höchst bemerkenswert und merkwürdig zugleich. Alfred Philippson gehörte zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts bis zu seiner Emeritierung 1929 zu den anerkannten Vertretern seines noch jungen akademischen Faches: der Geographie. 1864 als jüngster Sohn eines Rabbiners geboren - der Vater war seinerzeit hoch geschätzt, gehörte dem Reformflügel des damaligen Judentums an -, mußte die Familie alsbald von Magdeburg nach Bonn umsiedeln. Eine Augenkrankheit des Vaters beendete eine dreißigjährige Tätigkeit als Rabbiner. So wuchs der junge Alfred in Bonn heran, machte dort das Abitur, studierte ebenda wie auch in Leipzig und München und war bereits früh entschieden, das noch wenig definierte Fach Geographie zu seinem Lebensinhalt zu machen. Ältere Geschwister, insbesondere Brüder, waren in ganz anderen Berufen tätig - einer sehr erfolgreich als Bankier in Belgien -, und kaum einer aus der Familie verstand die Wahl.

Um zu habilitieren, reiste Philippson auf Anraten seines Lehrers von Richthofen als erstes nach Griechenland, das ihm zeitlebens ein höchst sympathisches Land blieb, das er beispielhaft erforschte. Die mediterrane Welt, insbesondere die des östlichen Mittelmeers einschließlich der Levante, bildete einen Schwerpunkt der Forschungstätigkeit des jungen Gelehrten, der nach vielen Mühen 1891 in Bonn habilitieren konnte. Für Gelehrte jüdischer Abstammung war dies durchaus schwierig. Das hatte auch Philippson erfahren müssen, der in Berlin, in Erlangen, auch in Freiburg und selbst in Bonn als Habilitand abgelehnt wurde. Allein der Umstand, daß Friedrich Althoff, der allmächtige Kultusbeamte des preußischen Ministeriums in Bonn, die Habilitation des ihm gut bekannten Philippson anmahnte, führte dann zum erwünschten Ergebnis. Freilich sollte es noch fünfzehn Jahre dauern, bis der inzwischen durch viele Forschungsarbeiten hervorgetretene Philippson eine Professur erhielt. Es war bezeichnenderweise die Universität Bern, die ihn 1904 als Geograph verpflichtete.

Nie recht warm geworden im "Ausland", folgte Philippson dann 1906 einem Ruf nach Halle, der freilich durch den Tod seiner ersten Frau überschattet wurde. 1911 wurde er nach Bonn berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung und lange darüber hinaus bis zu seiner Verhaftung im Juni 1942 und dem Abtransport ins Konzentrationslager Theresienstadt lebte. Dort wurde ihm dank einer Intervention Sven Hedins in Berlin die Vergünstigung eingeräumt, daß er mit seiner zweiten Ehefrau und seiner Tochter ein Zimmer von 20 Quadratmetern erhielt. Hedin, mit dem er gemeinsam studiert und auch Reisen unternommen hatte, war von den Nationalsozialisten hoch geschätzt und setzte sich in Berlin für Philippson ein. So hatte er ab Anfang Oktober gemeinsam mit seinen Familienangehörigen den sogenannten "Prominentenstatus A" inne. Das erlaubte ihm denn auch, seine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen, die er, sich allein auf sein Gedächtnis verlassend, in den Jahren zwischen 1942 und 1945 zu Papier brachte. Nach Kriegsende kehrte Philippson nach Bonn zurück, wo er, von Universität und Stadt geehrt, 1953 im Alter von neunzig Jahren starb.

Soweit ein eigentlich zu nüchterner Bericht über das äußere Leben des Autors. Philippson reiste gerne und viel. Der ersten Griechenlandreise folgten viele weitere, die ihm das gesamte Land erschlossen, ferner Reisen in die Türkei, nach Rußland, nach Kleinasien, nach Italien. Da sie zumeist in die Zeit zwischen 1887 und 1904 fielen, berichten die Lebenserinnerungen über eine altertümliche Welt, die heutige Reisende nicht mehr erleben können.

Er habe nie viel von Memoiren gehalten und auch nie vorgehabt, solche zu schreiben, berichtet Philippson anfänglich. Durch seine Lage in Theresienstadt sei er jedoch "genötigt", seine Lebenserinnerungen zu schreiben. Das sei möglich und in gewisser Weise auch sinnvoll gewesen, ergänzten diese Erinnerungen doch seine biographischen Arbeiten und könnten zugleich erklären, "wie ich zum Geographen wurde" - was er im Laufe seines Lebens oft gefragt worden sei. Im Prozeß des Schreibens sei ihm der Bericht "unter der Hand zu einer Erzählung meiner Jugenderinnerungen überhaupt, ferner zu einer Darstellung der geographischen und geologischen Wissenschaften und seiner Vertreter zur Zeit meiner Studien und der darauf folgenden Jahre meiner ersten Arbeiten (geworden), eine Darstellung, die vielleicht für die Geschichte dieser meiner Wissenschaften und für ihre heutigen Jünger, die jenen Zeiten entrückt sind, von Wert sein wird".

Das sind sie in der Tat. Es gelingt Philippson nicht nur, viele höchst interessante, von wachem Interesse und scharfem Blick gezeichnete Beobachtungen über Landschaften, Menschen, Lebensweisen mitzuteilen. Er beschreibt auch den Stand wissenschaftlicher Auffassungen, die von Kollegen, Freunden, Lehrern vertreten wurden. Er war und blieb von seinem Fach fasziniert, das er in eigentümlicher, für die Entwicklung der jungen Geographie wohl wichtigen Weise mitzugestalten in der Lage war. Die frühere, oft historisch sich orientierende Beschreibung der Erdoberfläche, der Länder, der Küsten und Flüsse wurde durch eine Methode ersetzt, die stärker auf die geologisch-physischen Voraussetzungen der Erdoberfläche und ihrer Erscheinungen abzielte. Diese mehr an der Physiognomie orientierte Methode fand nicht nur zu einem neuen Landschaftsbegriff, sondern nannte sich auch neu, nämlich Geomorphologie.

Die Erde wurde als ein organisches, harmonisches und insoweit natürlich gewachsenes Phänomen angesehen. Zugleich rückten die in den jeweiligen Landstrichen lebenden und durch ihre Geschichte geformten Menschen samt ihrer Lebensweisen in den Blick. So gelang Philippson gemeinsam mit anderen Geographen ein Wechsel der Forschungsperspektive innerhalb seines Fachs.

In schöner, altmodischer Sprache, wenn auch stilistisch nicht immer gleichbleibend sicher, schildert Philippson sehr ausführlich seine Kindheit und Jugend. Die Gegend um Bonn, das Elternhaus, die Orte der Kindheit werden intensiv und anschaulich beschrieben. Eine glückliche Kindheit und Jugend, ein ebensolches Studium erstehen vor dem Leser. Zeitlebens bleibt Philippson dem Rheinland und den Rheinländern zugeneigt. Als eine "besonders gute Eigenschaft der einheimischen Bevölkerung Bonns" beschreibt er ihre Duldsamkeit, ihren "Sinn für Gerechtigkeit und Menschenrechte". Bemerkenswert ist auch, daß er feststellt: "Ich habe doch als Jude während meiner Schulzeit keine Zurücksetzung weder von Lehrern noch von Schülern erfahren, wie überhaupt aktiver Antisemitismus dort unbekannt war und die einheimischen Juden, auch später noch, mit den Katholiken auf gleichem Fuß verkehrten und in viele Vereine aufgenommen wurden. Mischehen waren im Rheinland recht häufig."

Gleichermaßen bemerkenswert ist es, daß dieser junge Gymnasiast und Student, im Hause eines Rabbiners aufwachsend, die Ideale und Vorstellungen des Kaiserreichs völlig selbstverständlich übernahm und sie mit seinen Zeitgenossen teilte. So urteilt er in Erinnerung über den Krieg 1870/71: "Das Erlebnis dieses Krieges, an dem unsere wie jede andere deutsche Familie pflichtgemäß beteiligt war, bedeutete für mich unendlich viel und wirkt in mir bis heute nach. Der Stolz auf die ruhmreiche preußische Armee und ihre geniale Führung, die Begeisterung über die Neugründung des Deutschen Reiches, die Wiederherstellung der Kaiserwürde, wodurch die Sehnsucht erfüllt schien, für welche Generationen edler Deutscher gekämpft und geblutet, so viele Dichter gesungen hatten, mußten auch den Knaben von sieben Jahren mit zwar unklaren, aber darum nicht weniger lebhaften Gefühlen erfüllen. Der preußisch-deutsche Patriotismus - nicht Chauvinismus - war mir nicht nur durch Familien-Tradition und Vorbild anerzogen, sondern durch dieses frühe Erleben eines großen nationalen Aufschwungs in mir unverlierbar befestigt, er hat auch den deutschen Antisemitismus überlebt" ("als ich dies schrieb, waren mir die Massenmorde der Nazis noch nicht bekannt!" fügte er freilich nach 1945 hinzu).

Philippson teilte also wie viele deutsche Juden seiner Zeit Kaisertreue, Wissenschaftsgläubigkeit, ja Verehrung alles Deutschen, das als das Eigene angenommen war. Es machte ihn auch nicht an der Hochschätzung der deutschen Universität irre, daß er so große Mühe hatte, habilitiert zu werden. Selbst in Theresienstadt ist ihm das nur einige wenige Sätze wert. Er berichtet davon, daß ihm als Geographen, wollte er von einem solchen Beruf leben, eine andere als die akademische Laufbahn gar nicht offenstand. Er fügt dann hinzu: "Aber das war damals für einen Juden nicht so einfach!" Die schließliche Intervention Althoffs - von den gescheiterten Bemühungen wird nur wenig mitgeteilt -, läßt ihn schreiben: "Man kann sich denken, wie ich aufatmete und welches Glücksgefühl mich erfüllte, wie vom Rande eines Abgrunds gerettet!" Das war eigentlich alles.

So wird auch über die Verhaftung und den Transport nach Theresienstadt so gut wie nichts mitgeteilt. Die radikale antijüdische Politik der Nationalsozialisten erfährt allenfalls in einem Nebensatz Erwähnung. Aber wie breit wird die Situation an den einzelnen Universitäten etwa in Bonn um 1900 geschildert, wie treffend sind die Beobachtungen, wie lebendig stehen Gelehrte und ihre Familien, Kollegen vor dem Auge des Lesers!

Daß die schlimmen Erfahrungen den Autor nicht verbittert haben, ihn nicht zum Verächter Deutschlands und der Deutschen werden ließen, gehört zu den Merkwürdigkeiten, die Zeitgenossen wie Nachgeborenen nur schwer begreiflich sind. Gewiß gehörte es zur Überlebensstrategie des zeitlebens Schreibenden, nicht müßig die Tage zu verbringen. Ohne seine Bibliothek war es ihm selbst unter den grausamen Bedingungen eines Konzentrationslagers doch möglich, in der Niederschrift der Lebenserinnerungen eine heile, eine intakte und sittlich klar geordnete Welt zu beschreiben und sich dadurch zu erhalten. In Erinnerung und im Wissen an viele vorzügliche, geschätzte, intakte Menschen brauchte, so steht zu vermuten, Philippson nicht seinen Glauben an die Deutschen, an die Menschheit zu verlieren.

Nur einmal, im Rückblick von Bonn aus, wird Philippson ein wenig deutlicher. Diese Dokumente sind außerhalb der Erinnerungen mitgeteilt, wie überhaupt die Edition glänzend eingeleitet und höchst verdienstvoll ist. Da war Philippson von einem Kollegen um einen "Persilschein" angegangen worden. "Ich habe mir zum Grundsatz gemacht, für keinen Pg. einzutreten. Das verbietet mir die Erinnerung an die zahllosen, von der Partei hingemordeten wehrlosen Menschen . . . Ich habe mit Interesse von Ihrer Entscheidung Ihres Beitritts in die Partei Kenntnis genommen. Ich möchte nur eines dazu bemerken. Daß der Nationalsozialismus alle Juden entrechtet, entehrt, des Eigentums und ihrer Lebenswerke beraubt hat, war Ihnen bekannt, und sie haben, wie so zahlreiche anderen Deutschen, kein Hindernis darin gefunden, sich der Partei anzuschließen."

Alfred Philippson: "Wie ich zum Geographen wurde". Aufgezeichnet im Konzentrationslager Theresienstadt zwischen 1942 und 1945. Herausgegeben von Hans Böhm und Astrid Mehmel. Bouvier Verlag, Bonn 1996. XLVIII, 843 S., geb., 78,- DM.

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