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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2012

Warum Nationen scheitern
Die politischen Institutionen bestimmen über den Erfolg

Kaum ein Buch dürfte in diesem Frühjahr unter Ökonomen mit größerer Spannung erwartet worden sein als das vorab schon als Meisterwerk annoncierte "Why Nations Fail" von Daron Acemoglu (Massachusetts Institute of Technology) und James A. Robinson (Harvard University). Die beiden renommierten Autoren beschäftigen sich nicht aufgeregt mit kurzatmigen Krisenphänomenen, sondern behandeln grundlegende Fragen der Wirtschafts-, ja der gesamten Sozialwissenschaften: Wie erklären sich die zum Teil erheblichen Wohlstandsunterschiede zwischen Ländern?

Rund 15 Jahre lang haben Acemoglu und Robinson, zum Teil in Kooperation mit weiteren Autoren, an diesem Thema geforscht und in dieser Zeit zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften veröffentlicht. Im Unterschied zu diesen Aufsätzen, die durch mathematische und ökonometrische Ausführungen gekennzeichnet sind, beschränken sie sich in ihrem Buch auf eine verbale Darstellung, angereichert durch Landkarten und Grafiken. Die Lektüre des Buches setzt damit keine Vorkenntnisse voraus.

Das Thema ist natürlich nicht neu. Der Ahnvater der modernen Wirtschaftslehre, Adam Smith, hatte bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bestimmungsgründe wirtschaftlichen Wohlstands in seinem berühmten "Wohlstand der Nationen" behandelt. Smith's Arbeit regte viele Nachfolger an, darunter den Amerikaner Mancur Olson, der im Jahre 1982 das bravouröse Buch "Aufstieg und Niedergang von Nationen" vorlegte. Kann man zu diesem Thema noch Neues schreiben? Man kann, indem man Altes mit Neuem verbindet. Die Kernthesen Acemoglus und Robinsons lauten: Erstens: Es sind in allererster Linie die politischen Institutionen eines Landes, die über seinen wirtschaftlichen Wohlstand entscheiden. Notwendig erscheint zudem ein gewisses Maß an politischer Zentralisierung; hingegen spielt die Größe eines Landes keine Rolle. Die Geografie und das Klima (wie in Jared Diamonds "Guns, Germs, and Steel") oder die Kultur (wie in David Landes' "The Wealth and Poverty of Nations") entscheiden nicht über wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg. Der Kongo ist nicht arm, weil auf ihn die brennende Tropensonne scheint, und Nordkorea ist nicht arm, weil dort nicht die von Max Weber gepriesenen Calvinisten leben. Ob ein Land rohstoffreich oder rohstoffarm ist, entscheidet ebenfalls nicht über sein wirtschaftliches Schicksal - eine Erkenntnis, die schon vor Jahrzehnten Joseph Schumpeter betont hatte.

Zweitens: Die Bedeutung von Institutionen für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess ist natürlich nicht neu, und die beiden Autoren verweisen auch auf Vorläufer wie Douglass North. Acemoglu und Robinson unterscheiden jedoch zwischen zwei Formen von Institutionen, die sie als "extractive" (im Sinne von: ausbeuterisch) und als "inclusive" (im Sinne von: die gesamte Gesellschaft umfassend) bezeichnen. Auf dieser wesentlichen Unterscheidung beruhen alle weiteren Ausführungen des Buches. "Extractive" beschreibt alle politischen - meist oligarchischen - Herrschaftsformen, in denen sich eine kleine Zahl von Menschen über die Ausübung von politischer und wirtschaftlicher Macht zulasten der Masse der Menschen bereichern.

In solchen Regimen besitzen die meisten Menschen keine Anreize, sich wirtschaftlich zu engagieren. Diese Regime können zwar vorübergehend wirtschaftliche Fortschritte erzielen, wie etwa die Sowjetunion in ihren ersten Jahrzehnten, aber auf Dauer scheitern sie an ihrer Innovationsfeindlichkeit. Dieses Schicksal sagen die Autoren auch China voraus. "Inclusive" beschreibt die Demokratie als einzige Herrschaftsform und als Voraussetzung für wirtschaftlichen Wohlstand. In einer sich als Bürgergesellschaft verstehenden Demokratie, die nicht de facto durch stabile Eliten beherrscht wird, gestattet der politische Rahmen einer großen Zahl von Menschen die Entfaltung wirtschaftlicher Initiative, indem die Demokratie den Rechtsrahmen für Marktwirtschaft und Wettbewerb schafft, die ihrerseits Innovation und wirtschaftlichen Wandel ermöglichen. Der Weg von der Armut zum Wohlstand setzt die Überwindung oligarchischer politischer Strukturen voraus.

Drittens: Welchen Weg ein Land einschlägt, wird stark von seiner Geschichte vorgegeben, und hier können scheinbar wenig bedeutende Vorkommnisse langwierige Konsequenzen besitzen. Die Arbeitsweise Acemoglus und Robinsons belegt ein längeres Zitat, mit dem sie ihre Ausführungen über die Wohlstandsunterschiede zwischen dem reicheren Westeuropa und dem ärmeren Osteuropa zusammenfassen: "Der Schwarze Tod (gemeint ist die Pestepidemie um das Jahr 1350) und das Wachstum des Welthandels nach 1600 (im Anschluss an die Entdeckung und Kolonialisierung Amerikas) waren beide wichtige kritische Momente für die europäischen Mächte und sorgten zusammen mit unterschiedlichen Institutionen für eine bedeutsame Auseinanderentwicklung. Weil Bauern im Jahre 1346 in Westeuropa mehr Macht und Eigenständigkeit als in Osteuropa besaßen, führte der Schwarze Tod zur Auflösung des Feudalismus im Westen und zu einer zweiten Welle der Leibeigenschaft im Osten. Weil Ost- und Westeuropa im 14. Jahrhundert begonnen hatten, sich unterschiedlich zu entwickeln, besaßen die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts grundlegend unterschiedliche Folgen für diese Teile Europas." Acemoglu und Robinson sehen in England die Wiege "inklusiver" Institutionen, weshalb dort auch die industrielle Revolution begonnen habe. Für die Ausbreitung solcher Institutionen im Rest Westeuropas habe dann wesentlich die Französische Revolution beigetragen.

Viertens: Die Pfadabhängigkeit der historischen Entwicklung wird durch ein Phänomen gestützt, das der deutsche Soziologe Robert Michels als "eisernes Gesetz der Oligarchie" bezeichnet hat: Oligarchien besitzen ein starkes Beharrungsvermögen. Acemoglu und Robinson erwähnen unter anderem Guatemala, das sich seit dem Jahr 1531 unter der Kontrolle von rund 20 Familien befinde. In weiten Teilen Schwarzafrikas folgte der Ausbeutung durch Kolonialherren (die mancherorts auf indigene Oligarchien gefolgt waren) die Ausbeutung durch oligarchische Regimes nach der meist um das Jahr 1960 errungenen nationalen Unabhängigkeit. Oligarchien verwandeln sich üblicherweise nicht sanft in Demokratien. Der Weg zu Wohlstand und Demokratie muss meist erkämpft werden. Daher sehen die Autoren in der "Arabellion" eine positive Entwicklung.

Ihre Grundthese von der erheblichen Bedeutung der politischen Institutionen unterlegen Acemoglu und Robinson mit einer beeindruckenden Fülle von Beispielen aus Zeit und Raum, die hohe Gelehrsamkeit verraten. Ihre Spurensuche beginnt im Jahre 9500 vor Christus und umfasst Länder rund um den Globus. Der Leser erfährt nicht nur, warum die Stadt Nogales in den Vereinigten Staaten reich, die Stadt Nogales in Mexiko aber arm ist. Die Autoren entführen den Leser auch an den Kasai, einen Nebenfluss des Kongo, an dessen westlichem Ufer die traditionell kriegerischen und armen Lele leben, während die Bushong am Ostufer friedlicher und wohlhabender sind. Vergleiche der Entstehung der Minenindustrie in Sierra Leone und in Australien sind ebenso zu finden wie Analysen der Mayas, Inkas oder Venedigs während der Renaissance. Ein englischsprachiger Rezensent hat angemerkt, mit der Kenntnis der in diesem Buch enthaltenen historischen Episoden werde man auf jeder Cocktailgesellschaft im Mittelpunkt des Interesses stehen.

Man muss "Why Nations Fail" nicht als Meisterwerk preisen, um das Buch als beeindruckend und höchst anregend zu bezeichnen. Im Unterschied zu den meisten Wirtschaftsbüchern dürfte es nicht rasch in Vergessenheit geraten. Gleichwohl ist auch dieses Buch nicht ohne Schwächen, und diese Schwächen hängen wie so häufig mit seinen Stärken zusammen.

Der Sinn jeder sozialwissenschaftlichen Theorie besteht in der Vereinfachung und der Komprimierung. Aber schon Schumpeter, der bekanntlich vom Fache war, hat vor Jahrzehnten die These aufgestellt, dass eindimensionale Erklärungen komplexer sozialer Phänomene trügerisch seien. Die These, wonach der wirtschaftliche Wohlstand eines Landes durch die politischen Institutionen bestimmt wird und eigentlich durch nichts anderes, klingt verlockend einfach. Eher nebenbei räumen Acemoglu und Robinson dann aber ein, dass die konkrete Ausgestaltung von Institutionen nicht einförmig sei, sondern durchaus auch von Sitten und Gebräuchen abhängen könne. Auch das Eingeständnis, dass Länder mit "extraktiven" Institutionen zumindest vorübergehend - wobei "vorübergehend" mehrere Jahrzehnte umfassen kann - wirtschaftlich erfolgreich sein können, schwächt ihre Argumentation ein wenig ab.

Der Reichtum an historischen Schilderungen hat bei Rezensenten im englischen Sprachraum Begeisterung wie Kritik geweckt. Die Kritik reicht von methodischen Zweifeln, ob historische Vergleiche über einen Zeitraum von nahezu 12 000 Jahren zulässig seien, bis zu dem Vorwurf, die Autoren hätten nur solche Beispiele angeführt, die in ihre Argumentation passen, aber alle gegenläufige historische Evidenz verschwiegen. Unbestreitbar gibt es Patzer bei Details (die spanische Armada wurde überwiegend ein Opfer des Wetters und nicht der britischen Marine), und ein zupackenderes Lektorat hätte dem Leser eine Vielzahl unnötiger Wiederholungen erspart. Insgesamt aber ist "Why Nations Fail" ein großartiges Buch geworden.

GERALD BRAUNBERGER.

Daron Acemoglu / James Robinson: Why Nations Fail.

Crown Business, New York 2012, 544 Seiten, 30 Dollar

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