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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.1997

Die Abrechnung
Gottfried Wagners Autobiographie · Von Gerhard R. Koch

Welch eine Familie. Richard Wagner, im Völkerschlacht-Jahr 1813 in Leipzig geboren, hat wie kein anderer die Kunst-, zum Teil sogar die Ideengeschichte des neunzehnten Jahrhunderts umgewälzt, bis tief ins zwanzigste Jahrhundert Anstöße gegeben - und der Wagner-Clan ist seit der Bayreuther Festspiel-Gründung 1876 bis heute ein Machtfaktor geblieben. Die vielfältigen, nicht zuletzt ideologischen und politischen Verstrickungen haben nicht minder Zerwürfnisse produziert, die uns das Haus Wagner ein wenig in der Nachfolge der mythischen Atriden sehen läßt. Im Widerspiel von Rebellion und Reaktion jedenfalls erscheint die Geschichte der Wagners als fatales Konfliktgewirr, keineswegs unsymptomatisch für Deutschland, das "faustisch" klassische Land der Widersprüche.

Das fängt schon an mit Richards Herkunft. Gerüchte jedenfalls, sein wahrer Vater sei der womöglich jüdische Schauspieler Geyer gewesen, kursierten immer wieder einmal. Sie tun an sich wenig zur Sache, könnten allerdings zur Erklärung von Wagners Antisemitismus einiges beisteuern. Eklatant aber ist, daß Wagners "Helden", so sie überhaupt solche sind, eben an ihrer Herkunft leiden: ob Holländer, Lohengrin, Tristan, Siegmund und Siegfried, Parsifal - das Rätsel, wer sie sind, woher sie kommen, haftet an ihnen, nicht minder demnach die Frage nach der Legitimität.

Zufall ist dies sicher nicht. So wie denn auch Wagners Vita schwankt zwischen jungdeutscher Revolution, Teilnahme am Dresdner Aufstand 1849, steckbrieflicher Verfolgung, Anbiederung an den deutschen Sieg von 1871 wie an die romantische Ruhmsucht Ludwigs II. und der Über-Institution Bayreuth mitsamt ihrem später immer völkisch-rassistischeren Gebräu. Doch klar nach Phasen geschieden war diese Entwicklung nicht, gleichzeitige Widersprüche gehörten zu ihr. Wagners leidende, erlösungssüchtige, scheiternde Helden sind allemal Geschlagene - und sei es mit Einfalt. Stark hingegen sind die Frauen: Senta, Elisabeth, Ortrud, Isolde, Brünnhilde. Deren Pendant in Wagners wirklichem Leben war Cosima - auch dies keine legitime Beziehung. Die Tochter des Libertins Franz Liszt und der Gräfin d'Agoult war die Frau von Wagners Freund und Förderer, dem Uraufführungs-Dirigenten von "Tristan" und "Meistersingern", Hans von Bülow, den Wagner zum König Marke machte. Cosima hat unter der "Sünde" gelitten; um so massiver war die Stilisierung zum "hohen Paar", nach Wagners Tod 1883 zur "Herrin von Bayreuth". Um 47 Jahre hat sie ihn überlebt. Unter ihr wurde das Bayreuth des einstigen Revolutionärs zum Hort eines engstirnigen Chauvinismus, imperialistischen Größenwahns und geifernden Antisemitismus.

Der Sohn Siegfried paßt sich dem an, läßt aber gelegentlich Spuren bürgerlicher Liberalität erkennen. Joseph Goebbels hat das 1926 durchschaut: "Siegfried ist so schlapp. Pfui! Soll sich vor dem Meister schämen . . . Feminin. Gutmütig. Etwas dekadent. So etwas wie ein feiger Künstler... Eine junge Frau weint, weil der Sohn nicht ist, wie der Meister war." Die junge Frau war Winifred Wagner, Cosimas Schwiegertochter, ebenfalls keine Deutsche, sondern Engländerin - und wie auch Houston Stewart Chamberlain fanatische Antisemitin und schon 1922 glühende Anhängerin Hitlers. Bis heute sind die Gerüchte nicht verstummt, Hitler habe "Mein Kampf" auf von ihr geschicktem Papier geschrieben. Hitler wurde "Hausfreund" in Bayreuth, man munkelte von einer Liaison, gar einer möglichen Ehe mit "Wolf", "Onkel Wolf", wie ihn die Söhne Wieland und Wolfgang nannten, die er herzte.

Nach 1945 belegten sie ihre Mutter mit öffentlichem Rede- und Hausverbot. Hans Jürgen Syberberg hat sie 1975 in seinem Fünf-Stunden-Interview-Film zu Wort kommen, ihre ungebrochene Führer-Liebe artikulieren lassen. Sie verrät dabei einiges vom Bayreuther Ewiggestrigen-Geheimcode: USA hieß "Unser seliger Adolf", Briefe unterzeichnete sie mit 88 - Heil Hitler. Als Klaus Mann 1945 nach Bayreuth kommt, reagiert sie nur mit hochfahrendem Hohn auf das ungelenke Englisch des Emigranten. Dabei war das Haus im NS-Reich nicht geschlossen, im Gegenteil: Atridenzerfleischung. Die Tochter Friedelind war 1939, abgestoßen vom Bayreuther NS-Kult, in die Schweiz emigriert. Ihre Mutter drohte unmißverständlich: "Du gehörst hinter Schloß und Riegel, und wenn Du nicht hören willst, wird der Befehl erteilt, daß Du bei der ersten Gelegenheit vertilgt und ausgerottet wirst."

1951 werden die Festspiele wiedereröffnet, geleitet von Wieland und Wolfgang, die bestrebt sind, die braune Belastung vergessen zu machen, Wieland hauptsächlich durch szenische "Entrümpelung". Bruderzwist hat es stets gegeben. Nach Wielands Tod 1966 übernimmt Wolfgang, weit mehr Manager als Künstler, neidisch auf den genialen Älteren, die Macht, die er immer noch ausübt. Die Urenkelgeneration, ebenfalls voller Spannungen, bäumt sich gegen ihn auf, wird von ihm verfolgt. Haß regiert die Familienbeziehungen. Die ohnehin monströse Familien-Saga wird zur Seifenoper.

Doch Richards Festspielhaus auf dem Grünen Hügel behält magische Kraft: als Kunsttempel, Psycho-Zwingburg wie Graf Draculas oder auch Kafkas Schloß, von dem Unheil durch die Generationen strahlt - aber auch als Hort mit dem Allmacht verheißenden Ring; vor "Neidhöhle" wacht Riesenwurm Fafner alias Wolfgang. Dem will ein neuer Siegfried ans Leben, gut-mythisch sein eigener Sohn Gottfried. Wie schon der "Ring"-Siegfried dem Urvater-Wanderer droht: "So lang ich lebe, stand mir ein Alter stets im Wege", so sucht er nun die alles entscheidende Kraftprobe mit dem verhaßten Vater, der ihm seinerseits Hausverbot erteilt und Knüppel zwischen die Beine wirft. Nach vielen wechselseitigen Attacken kommt nun Gottfrieds autobiographische Generalabrechnung: "Wer nicht mit dem Wolf heult". Wolf heißt hier natürlich viererlei Bestie: Tier, Hitler, Vater - und mythischer "Wälse"-Vater der "Walküre".

Das ist das Faszinierend-Fatale an Wagner, der Clan-Geschichte und der Institution. Bayreuth ist die Verquickung von höchstem, auch progressivem Kunstanspruch, privaten und politischen Verstrickungen. Gottfried rührt und mischt dies alles noch einmal neu auf. Folgendes wirft er seinem Vater vor: Er habe konsequent Wagners Antisemitismus verdrängt, die extreme Rechtslastigkeit schon vor 1933, erst recht die ganz außerordentliche NS-Beteiligung - mangelnde Distanz gegenüber braunen Nostalgikern bis in die jüngste Zeit. Und er lastet ihm an: rigide Drohungen, selbst Prügelstrafen für den aufgestört-aufsässigen, unangenehme Fragen stellenden Heranwachsenden, der Zusammenhänge zwischen Urahn Richards Theorien, Oma Winifred, "Onkel Wolf" und schließlich Auschwitz ahnt. Außerdem habe er dem genialeren, viel intellektuelleren Wieland, selbst seinem Andenken, geschadet, wo er konnte, ein miserabler Regisseur sei er überdies - und alle Diskussionen blocke er ab, sei einzig am Machterhalt interessiert. Kurzum: ein patriarchalisch-autokratisches Monster.

Von Anfang an ist Gottfried Wagner auf Gegenkurs gegangen, hat vor zwanzig Jahren in Wien ausgerechnet über Brecht und Weill promoviert; und gemäß dem Bach-Choral "Ich bin's, ich sollte büßen" hat er das Kreuz auf sich genommen, überall, nicht zuletzt in Israel und Amerika, auch in Auschwitz als Repräsentant des Hauses Wagner aufzutreten, das alles Unheil verschuldet habe, von dessen verhängnisvollem Wirken er sich entschieden lossage.

Der Leidensdruck ist evident, die Hinweise auf "Bayreuths langen Arm" sind bedrückend; das moralische Recht ist sicher in vieler Hinsicht auf seiner Seite. Aufschlußreich ist die Lektüre allemal: Da will einer ganz allein die letzten hundertfünfzig Jahre und die fatale Rolle seiner Familie aufarbeiten. Respekt immerhin kann man dieser ethischen Sisyphusarbeit nicht versagen. Doch die Einwände wiegen schwer. Sie betreffen zunächst ein beklemmend manichäisches Weltbild: hier ganz wenige Lichtgestalten, dort massenweise Finsterlinge, Bayreuth als Ort des Bösen schlechthin. Aber so einfach ist es nicht. Zumindest seit 1951 sind die Festspiele nicht mehr "rechts". Daß Wolfgang Wagner keine Verdienste habe, ist absurd: Seit 1966 hat er Bayreuth mutig-konfliktbereit zur "Werkstatt" gemacht, das Haus als souveräner Prinzipal geleitet. Zum "neuen" Bayreuth gehörten Intellektuelle (Bloch, Mayer) und Dirigenten (Maazel, Solti, Barenboim, Levine) jüdischer Herkunft. Sie als "Alibi-Juden" abzutun ist Unfug.

Gottfried Wagner sitzt zwischen den Stühlen: Als Vatermord-Versuch und Rundumschlag eines zornigen jungen Mannes kommt das Buch des Fünfzigjährigen zu spät - Ödipus zu sein reicht allein nicht. Als Autobiographie enthält es fast nichts Neues. Als gäbe es nicht zahlreiche Arbeiten, vor allem von Wulf, Prieberg, Karbaum, Zelinsky, Bermbach und Spotts, die den Wagner-Komplex auch politisch behandeln. Gottfrieds These, daß nach wie vor ein dichtes Verdrängungsnetz über dem Unwesen von Stifter wie Institution liege, ist falsch. Auch über die Beziehung von Winifred zu "Wolf" erfährt man nichts, was der Interessierte nicht schon wüßte. Die Lust an der Abrechnung überwiegt.

Ästhetische Perspektiven werden da nicht mehr entwickelt. Zumindest hat der Regisseur, Musik- und Theaterwissenschaftler zu neueren Entwicklungen, etwa dazu, was mit Bayreuth geschehen könnte, schlicht nichts zu sagen. Sein Freund-Feind-Schema macht ihn nicht nur blind gegen differenzierte Situationen hier, sondern auch für Fragwürdiges auf der anderen Seite. Daß die Kurt Weill Foundation auf ihre Weise auch "bayreuthisiert", ein Idealbild des Komponisten kontraproduktiv verfestigt, kommt ihm nicht in den Sinn. Doch stets spürt man die Gespaltenheit: den schier messianischen Anspruch eines "Wagner" - und die Revolte gegen all das Negative, das sich mit diesem Namen verbindet. Wie direkt der Weg von Richard Wagners "Judentum in der Musik" (1850) nach Auschwitz war, bleibt eine offene Frage. Gottfried Wagners Engagement in der "Post-Holocaust-Dialog-Gruppe" ist aller Ehren wert; doch seine Darstellung gewinnt mitunter fast dekorative Selbstgerechtigkeit.

Gottfried Wagner hat für seine Sache einen Fürsprecher und Mitstreiter gewonnen, für sein Buch einen Anreger und Paten: Ralph Giordano. Dieser hat ihn in der Rolle des unbequemen Mahners bestätigt. Er hätte ihn auch zu selbstkritischer Wachsamkeit ermuntern sollen.

Gottfried Wagner: "Wer nicht mit dem Wolf heult". Autobiographische Aufzeichnungen eines Wagner-Urenkels. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997. 400 S., geb., 45,- DM.

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