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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2014

Selbstbegegnungen

Seit fünfzehn Jahren muss Deutschlands deutschester Dichter Umwege laufen, um sich nicht selbst zu begegnen: sich selbst als Monstrum. Der Peter-Lenk-Brunnen in Überlingen zeigt Martin Walser auf ächzendem Gaul inmitten vertrockneter Jungfern. Aber was soll sich Walser als homme de lettres mit Betonkarikaturen abgeben, wo er doch weiß, was "überhaupt das Medium der Selbstbegegnung" ist: das Buch selbstredend, das der Leser ins Leben ruft - "aus schwarzweißen dimensionslosen Buchstabenanordnungen schaffen wir Farbe, Geruch, Bewegung und Klang". Das Seelenduell mit der Literatur ermögliche es, so heißt es im Nachwort, "der Welt mit einer Gegenwelt standzuhalten". Selbst Ungeziefer sei vor dem mit George und Stifter Imprägnierten zurückgeschreckt: "Möglicherweise ist die Ausdünstung des Lesenden für Läuse nicht attraktiv." Vollends zum Selbstgespräch wird die Lektüre, wenn es, wie in den vorliegenden Aperçus und Miszellen, auch noch um die Konstitution des Ich geht. Die vorherrschende Denkbewegung ist die des konstruktiven Misstrauens gegen die Selbsterkenntnis, der Aufrichtung im Zweifel: "Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntnis, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur - die Vernichtung" (Nietzsche), "je mehr Bewusstsein, desto intensivere Verzweiflung" (Kierkegaard). Dass es sich hier um die Neuauflage eines in Antiquariaten für wenige Cent zu habenden Suhrkamp-Bändchens aus dem Jahre 1992 handelt (als der Gaul erst leise ächzte), macht dieses Spiegelkabinettstückchen nur um eine Selbstbegegnung reicher. ("Wer kennt sich schon?" Ausgewählt und mit einem Nachwort von Martin Walser. Berlin University Press, Berlin 2014. 160 S., geb., 19,90 [Euro].) oju

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