Lieferung des Lieblingsbuchs, auf die neue Staffel von "Shaun das Schaf".
Das schlimmste Warten für Kinder aber ist das auf die Eltern, die immer nicht in die Puschen kommen, dafür stundenlang an Telefonen und Computern hängen, Zeitungen und Bücher lesen und gefühlte Ewigkeiten für simple Dinge wie Anziehen oder Einkaufen brauchen. Umso erstaunlicher mutet es da an, dass auch die Erwachsenen ständig zu warten scheinen, auf den Abend, das Wochen- oder Monatsende, auf einen neuen Mann oder eine bessere Frau, auf anderes Wetter, eine andere Regierung oder gleich auf einen Lottogewinn. Wenig Trost bietet bei alledem die elterliche Versicherung, dass Geduld unweigerlich belohnt werde. Sprüche wie "Vorfreude ist die schönste Freude" oder gar "Gut Ding will Weile haben" sind aus Kindersicht mindestens so überflüssig wie die ebenfalls und nicht nur auf Wanderungen zum Himmel stinkenden Lüge, dass der Weg das Ziel sei.
Weil das Warten so eine Tortur ist, versuchen Erwachsene meistens, Kinder von seiner Notwendigkeit abzulenken. Das häufigste Mittel ist eine in Aussicht gestellte Belohnung, vulgo Bestechung. Doch irgendwann muss jedes Kind selbst einsehen, dass das Warten nicht erfunden wurde, um ihm das Leben schwerzumachen.
Vom schwierigen Erlernen der Geduld, ihren Tücken und ihren Wundern erzählt "Wenn du einen Wal sehen willst". Es ist ein leises, konzentriertes Buch, das mit wenigen Sätzen und reduzierten Bildern auskommt. Geschrieben hat es die Amerikanerin Julie Fogliano und illustriert ihre Freundin Erin E. Stead.
Zunächst wird ganz handfest aufgezählt, was derjenige braucht, der einen Wal sehen will: ein Fenster und ein Meer. Die wichtigste Zutat aber ist: Zeit. "Um zu warten, um zu schauen, um dich zu fragen: ,Ist das ein Wal?'" Gemeint sind genau jene herrlich leeren Minuten und Stunden, in denen Kinder gern von Langeweile und Erwachsene von Muße sprechen. Hat man diese drei Dinge - Fenster, Meer, Zeit - beisammen, geht es darum, diesem Zustand der Ereignislosigkeit die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, um ihn zu genießen. Denn wer ein Ziel hat, vor allem ein so großes, nicht alltägliches, darf sich bei dessen Verfolgung nicht ablenken lassen. Nicht von Rosen, nicht von Booten oder von Pelikanen, die irgendwo herumsitzen und "vielleicht oder auch nicht" vor sich hin lächeln. Geduld braucht Konzentration. Und Übung. Denn manchmal glaubt man, am Horizont bereits zu erkennen, wie ein Wal das Wasser kräuselt, doch dann war es etwas ganz anderes, zum Beispiel ein Boot mit flatterndem Wimpel. Doch Vorsicht: "Mögliche Piraten helfen absolut nicht, wenn du auf einen Wal wartest."
Ihren Zauber erhält Foglianos kleine, kurze, kluge Geschichte durch die Illustrationen von Erin E. Stead. Sie hat dem Jungen, dessen rötlichbraunes Haar die intensivste Farbe auf ihrer Palette von Zartblau bis Hellgrün darstellt, einen Hund als Mit-wartenden an die Seite gestellt, gelegt oder gesetzt, und immer wieder taucht auch ein kleiner Vogel auf, der Junge und Hund bei ihrem verträumten Warten und Schauen zuschaut.
Durch die minimalistische Bildsprache Steads, die immer nur jene Ausschnitte aus der Welt zeigt, die gerade wie Seifenblasen durch die Phantasie des Jungen schweben, bevor sie zerplatzen und neue hervorbringen, erscheint das Warten tatsächlich als Lust. Während der Junge darauf wartet, einen Wal zu sehen, steigt ihm der Duft von Rosen in die Nase, er sieht Raupen, die durchs Gras kriechen, er beobachtet die Formationen der Wolken, die aussehen wie Fische, Schildkröten und Wale. Mit anderen Worten: weil er sich aufs Warten konzentriert, wird er ganz von allein aufmerksamer für die kleinen Dinge und Begebenheiten, die er sonst im Sauseschritt verpasst hätte. Die Gefahr bleibt, dass man den entscheidenden Augenblick, in dem das Ziel ganz nahe ist, trotzdem verpasst, weil man nicht mehr damit rechnet: das schönste Bild des Bandes zeigt Junge, Hund und Vogel träge im Boot auf dem Meer treibend, unter ihnen der Wal. Doch das ist natürlich noch nicht das Ende der Geduldsprobe und des Hoffens darauf, dass ein langgehegter Traum endlich in Erfüllung geht.
Kinder werden diese philosophische Geschichte ob ihrer wundersamen Wendungen lieben, Eltern ob der Weisheit, die darin steckt. "Wenn du einen Wal sehen willst" feiert die Unbeirrbarkeit, die Kinder beim Verfolgen ihrer großen und kleinen Ziele an den Tag legen können, die Herausforderung, die jegliches Warten unweigerlich bedeutet, und die unerwarteten Freuden, die es einem bescheren kann. Am Ende war der Weg dann zwar nicht das Ziel, aber immerhin schon eine sehr gute Vorbereitung darauf. Denn der Wal taucht wieder ab in seine Tiefen. Dieses Bilderbuch aber wird bleiben.
FELICITAS VON LOVENBERG
Julie Fogliano, Erin E. Stead: "Wenn du einen Wal sehen willst".
Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn. Fischer Sauerländer, Frankfurt 2014. 32 S., geb., 14,99 [Euro]. Ab 4 J.
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