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Paul U. Unschuld bietet in diesem Buch erstmals eine vergleichende Darstellung der Grundideen europäischer und chinesischer Heilkunst von der Antike bis in die Gegenwart. Das Buch vertritt die provozierende These, daß die grundlegenden medizinischen Theorien nicht aus der medizinischen Beobachtung des menschlichen Körpers erwachsen konnten und stellt die Frage, welche anderen Faktoren zur Entstehung dieser Theorien beigetragen haben könnten. Das Bild, das sich der Mensch von seinem Körper macht, bedurfte stets eines Vorbilds außerhalb dieses Körpers. Die Anregungen zur Deutung des menschlichen…mehr

Produktbeschreibung
Paul U. Unschuld bietet in diesem Buch erstmals eine vergleichende Darstellung der Grundideen europäischer und chinesischer Heilkunst von der Antike bis in die Gegenwart. Das Buch vertritt die provozierende These, daß die grundlegenden medizinischen Theorien nicht aus der medizinischen Beobachtung des menschlichen Körpers erwachsen konnten und stellt die Frage, welche anderen Faktoren zur Entstehung dieser Theorien beigetragen haben könnten. Das Bild, das sich der Mensch von seinem Körper macht, bedurfte stets eines Vorbilds außerhalb dieses Körpers. Die Anregungen zur Deutung des menschlichen Organismus entstammen immer der Lebensumwelt und den Lebenserfahrungen der Menschen. Eine medizinische Theorie gilt als "wahr", wenn sie die Lebensumwelt und die Lebenserfahrung der Menschen widerspiegelt und gleichzeitig die Kenntnisse von den realen Strukturen des Körpers mit einbezieht. Wenn die "Wahrheit" medizinischer Theorien eng mit den verschiedenen Lebenswelten zusammenhängt, in denen sie entworfen werden, stellen sich Fragen: Darf dann die Gesundheitspolitik der gesamten Bevölkerung ein einziges medizinisches Ideensystem vorschreiben? Wird die "chinesische Medizin" in China und in der westlichen Welt langfristig eine Bedeutung als eigenständige Therapieform erlangen können? Welche Auswirkungen hat die Globalisierung auf das medizinische Denken?

Dieses Buch schildert die faszinierende Entwicklung medizinischen Denkens in West und Ost. Es zeigt erstmals durchgehend für beide Kulturkreise die enge Bindung heilkundlichen Denkens an die gesellschaftlichen und ökonomischen Lebensbedingungen und an die Lebensentwürfe der Menschen. Überraschend ist eine weitgehende kulturübergreifende Parallelität der Traditionen.
Autorenporträt
Prof. Dr. phil. Dr. med. habil. Paul U. Unschuld ist Vorstand des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität München. Er ist Fachmann für vergleichende europäische und fernöstliche Medizingeschichte. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: "Chinesische Medizin" (1997).

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.05.2003

Blut begründet kein Freiheitsrecht
Für Paul Unschuld ist Medizin die Politik im Kleinen

Nach dem bekannten Diktum des Berliner Pathologen Rudolf Virchow (1821 bis 1902) ist "Politik nichts weiter als die Medizin im Großen". Die Antwort, die jetzt der Münchner Medizinhistoriker Paul U. Unschuld, einer der besten Kenner der chinesischen Medizin, auf die Frage "Was ist Medizin?" gibt, läßt sich im Umkehrschluß auf die Formel bringen "Medizin ist nichts weiter als Politik im Kleinen". Um diesen Syllogismus zu verstehen, muß man wissen, daß Unschuld streng zwischen Medizin und Heilkunde trennt. Zur Medizin wird seiner Meinung nach die Heilkunde erst, "wenn die Heilkundigen Naturgesetze erkennen und allein unter Zuhilfenahme dieser Naturgesetze zu erkunden suchen, welche Erklärungen es für die Funktionen des Körpers geben könne." In diesem Sinne war also Hippokrates ein Heilkundiger, aber noch kein Mediziner. Diese Einschätzung muß man nicht teilen. Aber angesichts der strengen Maßstäbe, die der Münchner Medizinhistoriker anlegt, läßt sich das Urteil durchaus nachvollziehen. Man kann Unschuld jedenfalls den Mut zu plakativen Thesen nicht absprechen.

Im Abendland erfolgte der Schritt von der Heilkunde zur Medizin nach Unschulds Meinung im fünften Jahrhundert vor Christus, als in Griechenland die Lehre von den vier Körpersäften entstand. Einer der Wegbereiter war der Naturphilosoph Empedokles. Wurde die Entstehung der Humoralpathologie, die mehr als zweitausend Jahre lang die abendländische Medizin prägte, bislang eher ideengeschichtlich erklärt, so unternimmt Unschuld den Versuch, die Medizingeschichte vom Kopf auf die Füße zu stellen. Danach haben medizinische Konzepte ihre Wurzel im jeweiligen gesellschaftlichen oder staatlichen Umfeld. Im Falle der Vier-Säfte-Lehre soll also die große Anzahl von unabhängigen und autonomen politischen Gebilden, die man gemeinhin als griechische Polis bezeichnet, das Vorbild für die Vorstellung von der Einheit des natürlichen Makrokosmos mit dem gesellschaftlichen Mikrokosmos abgegeben haben. Polisdemokratische Strukturen waren nach Unschuld dafür verantwortlich, daß die antike griechische Medizin, sofern sie sich von der traditionellen Heilkunde gelöst hatte, die Selbstheilungskraft des Körpers betonte - eine faszinierende Vorstellung, die vermutlich mehr mit dem Ideal als mit der Wirklichkeit der griechischen Verfassung jener Zeit gemein hat.

Während sich Unschuld bei seiner Deutung der ideengeschichtlichen Grundlagen der antiken Medizin auf wenige Belege stützt und sich somit angesichts der Fülle der Sekundärliteratur auf sehr dünnem Eis bewegt, betritt er sicheren Grund bei der Erklärung, warum die Chinesen angeblich schon früh ihre Vorstellungen vom Funktionieren des menschlichen Körpers an ihrer Politikerfahrung ausrichteten. So ist man auf den ersten Blick geneigt, seiner Theorie Glauben zu schenken, daß die Vorstellung von den fünf Wandlungsphasen auf Strukturen zurückgreift, die nach der Errichtung einer zentralen Herrschaft durch den Kaiser von Quin im dritten vorchristlichen Jahrhundert der chinesischen Elite bewußt waren. Doch der naheliegenden Nagelprobe geht Unschuld aus dem Weg. Wenn seine Theorie stimmt, dann wäre zu überprüfen gewesen, ob die altindische Medizin ebenfalls Analogien zur staatlichen Entwicklung der indischen (Teil-)Reiche in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten aufweist. Hier würden Indologen wohl zu Recht starke Zweifel anmelden.

Statt dessen versucht Unschuld medizinische Konzepte, die in der westlichen Medizin der Vier-Säfte-Lehre Konkurrenz machten oder schließlich an ihre Stelle traten (etwa Virchows Zellularpathologie) vor dem Hintergrund der jeweiligen Staatserfahrung oder der politischen Theorien zu erklären, wobei oft beide Bereiche nicht streng auseinandergehalten werden. So liegt er mit seinen Erklärungsversuchen häufig schief. William Harvey dürfte den großen Blutkreislauf sicherlich nicht deshalb entdeckt haben, weil die korporativen Freiheitsrechte der Magna Charta in seinem Unterbewußtsein verkörpert waren. Und was Descartes' mechanistisches Körpermodell mit der Festigung der "absoluten Krongewalt" durch Kardinal Richelieu zu tun hat, bleibt nicht nur Spezialisten für Absolutismus-Theorien schleierhaft.

Bei einem der großen medizinischen Gegenentwürfe zur lange Zeit herrschenden Humoralpathologie, dem Paracelsismus, unternimmt Unschuld dagegen keinen politologischen Deutungsversuch. Er vermutet statt dessen, daß sich der "Wirrgeist mit Überblick", wie er ihn nennt, durch "den Anblick der Metallverarbeitung im Umkreis der Kärntener Erzgewinnung" hat inspirieren lassen. Auf diese Weise sei Paracelsus auf die Lehre von den drei Prinzipien (Sulphur, Mercurius und Sal) gekommen. Strenggenommen hätte aber nach der Unschuldschen Logik die paracelsische Lehre die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse oder die jeweilige Politikerfahrung (Bauernkrieg und Reformation) widerspiegeln müssen.

So wird man den Eindruck nicht los, daß Unschuld einen interessanten Grundgedanken, nämlich die vielfältigen Analogien zwischen Medizin und Politik, zu Tode geritten hat. Wenn dann noch reihenweise ironische (im Kern zweifellos berechtigte) Seitenhiebe gegen die westliche Rezeption der sogenannten traditionellen chinesischen Medizin fallen, fragt sich der Leser, wie fundiert dieser Essay eigentlich ist.

ROBERT JÜTTE

Paul U. Unschuld: "Was ist Medizin?" Westliche und östliche Wege der Heilkunst. Verlag C. H. Beck, München 2003. 296 S., 4 Abb., br., 19,90 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Rezensent Robert Jütte findet Paul U. Unschulds Buch über Medizin interessant und streitbar, auch wenn er einige Schieflagen in der Argumentation feststellt. So kommentiert Jütte gleich zum Einstieg seiner Kritik: "Man kann Unschuld jedenfalls den Mut zu plakativen Thesen nicht absprechen." Das fange an mit einer Unterscheidung zwischen Medizin und Heilkunde, die für Jütte streng, wenn auch durchaus nachvollziehbar ist. Zudem gelinge es dem Autor, etwa am Beispiel des alten Griechenlands, das die abendländische Medizin maßgeblich prägte, vorzuführen, inwiefern "medizinische Konzepte ihre Wurzel im jeweiligen gesellschaftlichen oder staatlichen Umfeld" haben. Zum Beispiel war der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Körpers in dieser frühdemokratischen Zeit sehr ausgeprägt. Manchmal bewege sich Unschuld aufgrund einer schlechten Sekundärliteraturlage "auf dünnem Eis", besonders bei seiner Analyse antiker Medizin. Das chinesische Verständnis von Medizin auf Grundlage der politischen Rahmenbedingungen in China findet Jütte dagegen besser belegt. Doch um mit seiner These wirklich zu überzeugen, hätte Unschuld nach Auffassung des Rezensenten auch untersuchen müssen, "ob die altindische Medizin ebenfalls Analogien zur staatlichen Entwicklung der indischen (Teil-)Reiche" aufweist.

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