Warum unsere Kinder Tyrannen werden
Oder: Die Abschaffung der Kindheit
Dr. Michael Winterhoff, geboren 1955, Dr. med., ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie in Bonn. In seinen bisherigen sehr erfolgreichen Büchern analysiert er gesellschaftliche Entwicklungen mit Schwerpunkt auf den gravierenden Folgen veränderter Eltern-Kind-Beziehungen für die psychische Reifeentwicklung junger Menschen und bietet Wege aus diesen Beziehungsstörungen an. Winterhoff lebt und arbeitet in Bonn.
Tergast, Carsten
Carsten Tergast wurde 1973 in Leer/Ostfriesland geboren. Nach einer Lehre als Sortiments-Buchhändler absolvierte er ein Literatur- und Medienwissenschaftsstudium in Paderborn und arbeitete als freier Mitarbeiter des Westfalen-Blatts, sowie als Redakteur und Chef vom Dienst beim Branchenmagazin BuchMarkt. Seit Ende 2005 ist er freiberuflicher Journalist, Autor und Texter für verschiedene Print- und Online-Publikationen.

© Thilo Beu
Produktdetails
- Verlag: Gütersloher Verlagshaus
- Seitenzahl: 190
- Erscheinungstermin: 17. Januar 2008
- Deutsch
- Abmessung: 220mm
- Gewicht: 362g
- ISBN-13: 9783579069807
- ISBN-10: 3579069802
- Artikelnr.: 23322365
Herstellerkennzeichnung
Michael Winterhoff stellt der Familie eine düstere Zukunftsprognose aus
Beginnen wir mit einem Zitat: "Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Die Jugend steht nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widerspricht den Eltern und tyrannisiert die Lehrer." Was sich liest, als stünde es in dem Buch des Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Winterhoff, das unter dem Titel "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" derzeit für Diskussionen sorgt, ist in Wahrheit zweieinhalb Jahrtausende alt und stammt von Sokrates.
Winterhoffs Befund klingt indes ganz
Jetzt ist es also Michael Winterhoff, der es mit seinen Überlegungen, warum sich unsere Kinder zu "Monstern" entwickeln, "vor denen wir im Alltag immer häufiger mit einer großen Fassungslosigkeit stehen", in die Bestsellerlisten geschafft hat. Winterhoff sieht Deutschland im "Höllenritt" auf eine Katastrophe zusteuern. Mit Übertreibungen solcher Art will der Autor offenbar Aufmerksamkeit erregen, doch lenkt er damit vor allem von einigen seiner durchaus bedenkenswerten Thesen ab.
Tatsächlich verzeichnet die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung seit ein paar Jahren einen Anstieg der Anfragen, dreißig Prozent aller Kinder und Jugendlichen befinden sich heute in Behandlung von Ergotherapeuten, Logopäden und Psychotherapeuten, und ein Viertel aller Schulabgänger hat Schwierigkeiten während der Ausbildung. Anders als früher, so Winterhoffs Resümee nach dreißig Jahren psychiatrischer Praxiserfahrung, könnten viele Kinder heute nicht mehr richtig sprechen, sich nicht mehr konzentrieren, seien motorisch unterentwickelt und unfähig zu Freundschaft: "Jeder Zugang zu ihnen scheint unmöglich geworden zu sein, sie terrorisieren ihre Umwelt mit einem inakzeptablen Verhalten und sind gegen Steuerungsversuche von außen absolut immun." Ihr Sozial- und Leistungsverhalten sei viel schlechter als das vergleichbarer Altersgruppen vor fünfzehn Jahren. Und während die Öffentlichkeit verhaltensauffällige Kinder allzu oft in verwahrlosten Verhältnissen verortet, begegnet Winterhoff in seiner Sprechstunde immer häufiger Kindern aus sogenannten intakten Familien, deren Eltern sich besonders liebevoll um den Nachwuchs bemühen.
Gerade darin liegt für den Autor ein großes Problem, das er auf dem Feld der Tiefenpsychologie und der Psychiatrie diskutiert: Nicht die Kinder sind demnach krank und müssen therapiert werden; vielmehr sind es die Eltern, deren beziehungsgestörtes Verhalten dazu führe, dass Kinder oftmals psychisch unterentwickelt sind. "Die heutige Misere ist deshalb keine Bildungsmisere, sondern eine Beziehungsmisere", glaubt der Kinderarzt. Weil Kinder heute nicht mehr geführt, in ihrem Verhalten gespiegelt und also geschützt, sondern durch Kumpelei der Erwachsenen um ihre Entwicklung gebracht würden: Eltern machten sich Kinder als kleine Erwachsene ebenbürtig und überforderten sie damit restlos. Eltern verwechselten Geborgenheit mit Grenzenlosigkeit und wollten in einer Gesellschaft, die Bedürfnisse nach Anerkennung und Ordnung kaum erfüllt, die innere Leere mit der Liebe ihrer Kinder kompensieren. Dass die Kinder zum Partner erhoben werden und als Zuwendungslieferant herhalten müssen, stellt für Winterhoff einen emotionalen Missbrauch an Kindern dar auf den Stufen der Partnerschaft, Projektion und Symbiose. Er fordert, Kinder wieder als Kinder wahrzunehmen, was freilich schon Rousseau nicht anders empfahl.
Dass der Autor die gesellschaftliche Fehlentwicklung unserer Tage mit den Erziehungskonzepten der siebziger und achtziger Jahre begründet, die ihre Hauptaufgabe im Schleifen des Autoritätsbegriffs sahen, verwundert nicht. Er propagiert ein Erziehen im Sinne von Leiten und Führen, weil er es für die Psyche der Kinder als hochproblematisch ansieht, ihnen nahezu unbegrenzte Selbstverwirklichung zuzugestehen. Das aber tun ihm zufolge heute alle, die die kindliche Entwicklung beeinflussen können, neben Eltern also auch Erzieher, Lehrer, Großeltern und Therapeuten. Mit ihrer Wellness-Pädagogik - Liebe statt Grenzen, Argumente statt Vorschriften - brächten sie die unglücklichen kleinen Despoten erst hervor: Die Kindergärten praktizierten statt Regeln und verlässlichen Strukturen offene Konzepte, die Grundschulen freien Unterrichtsbeginn und selbständiges Lernen. Was eigentlich dazu gedacht sei, den Kindern den Druck zu nehmen, führe in Wahrheit zu Überforderung, "weil die Kinder keinerlei Orientierung im schulischen Alltag geboten bekommen".
Winterhoff gilt der Harmoniedrang als eines der Hauptprobleme moderner Erziehung. Und in einem scheinen die Pädagogen sich einig: Der Wandel der Beziehungen und des Familienlebens, das Schwinden traditioneller Werte sowie Fernsehen und Internet haben Erziehung schwieriger und anstrengender gemacht. Auf die Veränderungen der modernen Kindheit hat die Erziehungswissenschaft bislang kaum Antworten gefunden.
Kinderland ist also abgebrannt? Michael Winterhoffs Pamphlet, angereichert mit bestürzenden Fallbeispielen und Szenen aus dem Kinderalltag, scheint keinen anderen Schluss zuzulassen. Dennoch möchte man dem Autor entgegenhalten, dass Eltern besser sind als ihr Ruf. Die allermeisten nehmen das Projekt Erziehung sicherlich ernst und nähern sich diesem mit Menschenverstand und Intuition, wissend um das hierarchische Generationsverhältnis. Ein gewisser Grad an Verunsicherung lässt sich wohl nicht leugnen. Viele Eltern, bombardiert von Expertenratschlägen, wissen oft eher, was sie nicht wollen: weder die autoritäre Strenge ihrer Großeltern noch die nachfolgenden Konzepte, als Eltern sich von ihren Kindern Stefan und Ulrike nennen ließen.
Eltern sind nie perfekt. Jede Familie ist eine Welt für sich, in der gesamtgesellschaftliche Thesen oft nicht greifen. Deshalb führt es auch nicht sonderlich weit, den "Erziehungsnotstand" allein den Siebzigern und Achtzigern in die Schuhe zu schieben, wie der Autor es tut. Es hat sich schließlich gezeigt, dass aus den Kinderladen-Kindern keineswegs nur Schulversager hervorgegangen sind, sondern ebenso wissbegierige, tolerante und kommunikative Menschen wie zuvor - und sei es aus Protest gegen die Eltern.
SANDRA KEGEL
Michael Winterhoff: "Warum unsere Kinder Tyrannen werden". Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2008.
191 S., geb., 17,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Unterschiede in der Kompetenz müssen sich in der Hierarchie widerspiegeln. In Firmen z.B. ist das selbstverständlich - und es ist immer wieder sonderbar anzusehen, wie selbst führungserfahrene Manager im privaten Bereich gegen dieses Prinzip verstoßen und sich aus Angst vor Liebesverlust an die Kinder anbiedern.
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danke für die gute Rezension!
Leider haben wir vergessen, dass Kinder das Wichtigste auf der Welt sind.
Nicht die Abgrenzung sondern tiefe, innige Bindung zu unseren Kindern ist die Lösung.
Sie haben recht Kinder (Menschen)
sind den Erwachsenen ja eher noch
überlegen, da sie ja noch typischen Erwachsenen-
fehler wie Neid usw. nicht kennen.
Wir könne froh sein Kinder als Freunde und Berater
haben zu dürfen.
Grüße W.G.
Das Buch wird völlig falsch verstanden. Hier geht es auch nicht um Machtausübung und Unterwerfung, sondern darum, dass sich die Eltern ihrer Rolle als Eltern bewusst sein sollen. Es geht um klare Gesetze und Abgrenzung voneinander innerhalb eines Familiensystems, die hier überschritten werden, weil Kinder zur Ersatzbefriedigung der eigenen Defizite herangezogen werden. Bei Ihnen scheint es ja funktioniert zu haben, aber es gibt leider genug Beispiele, die belegen, dass es nicht immer mit partnerschaftlichem Verhalten geht. Es gibt diesen wunderbaren Satz:" wenn Kinder klein sind, geb ihnen Wurzeln, wenn sie groß sind, dann geb ihnen Flügel." Kleine Kinder brauchen einfach einen klar abgegrenzten Raum, in dem sie sich bewegen - das gibt zum einen Sicherheit, verhindert aber auch, dass man aus dem Rahmen fallen kann. Ich finde das Buch gut. Es ist keine Aufforderung zur Prügelstrafe, sondern ein Spiegel für Eltern, die es einfach nicht im Griff haben.