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Die Monographie erzählt - zehn Jahre nach der "Wende" - die Geschichte dieses epochalen Wandels der deutschen Gesellschaft am Beispiel einer Stadt im östlichen Brandenburg. Lebensnah und anschaulich führt Sighard Neckel den Leser in den Mikrokosmos einer lokalen Lebenswelt ein, in dem sich alle Konflikte und sozialen Verwerfungen in den Jahren nach der deutschen Vereinigung wie unter einem Brennglas konzentrieren. Er zeichnet die Biographien der politischen Akteure in "Waldleben" nach und zeigt, durch welche Erwartungen und Ideologien ihr Handeln gekennzeichnet ist. In dem eindringlichen…mehr

Produktbeschreibung
Die Monographie erzählt - zehn Jahre nach der "Wende" - die Geschichte dieses epochalen Wandels der deutschen Gesellschaft am Beispiel einer Stadt im östlichen Brandenburg. Lebensnah und anschaulich führt Sighard Neckel den Leser in den Mikrokosmos einer lokalen Lebenswelt ein, in dem sich alle Konflikte und sozialen Verwerfungen in den Jahren nach der deutschen Vereinigung wie unter einem Brennglas konzentrieren. Er zeichnet die Biographien der politischen Akteure in "Waldleben" nach und zeigt, durch welche Erwartungen und Ideologien ihr Handeln gekennzeichnet ist. In dem eindringlichen Porträt werden typische Muster absehbar, nach denen sich die Positionskämpfe zwischen alten Kadern und neuen Eliten, ostdeutschen Aufsteigern und westdeutschen Führungskräften vollziehen.
Autorenporträt
Sighard Neckel ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Wien sowie Mitglied der Leitung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2000

Im Wellenbad
Eine nachwendliche Dreiecksbeziehung in einer ostdeutschen Stadt

Sighard Neckel: Waldleben. Eine ostdeutsche Stadt im Wandel seit 1989. Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York 1999. 274 Seiten, 48,- Mark.

Der Clou dieser Studie über den Transformationsprozess in einer Kleinstadt östlich Berlins ist eine verblüffende Beobachtung zur Geschichte der Beziehungen zwischen Ost- und Westdeutschen. Natürlich trafen auch hier, in der mit dem Pseudonym "Waldleben" (es ist Eberswalde) bezeichneten Stadt, ortsansässige "Ossis" und zuziehende "Wessis" konfliktreich aufeinander. Aber zunächst, als die Industriebetriebe der Stadt zusammenbrachen und die neuen demokratischen Stadtinstitutionen erst holprig zu funktionieren begannen, wurden sie erwartet: von der Stadtbevölkerung im Allgemeinen und von den 1989 ohne kommunalpolitische Erfahrung an die Macht gekommenen Bürgerrechtlern besonders. Den damaligen Wiedervereinigungserwartungen entsprechend sollten die Westdeutschen Investitionskapital, Verwaltungserfahrung und jede Menge Initiative mitbringen, und von diesem Bedarf konnten auch die ausgehen, die nach Waldleben kamen. Es waren unter anderen, so führt die Studie vor, ein Autohändler aus Kassel, ein westfälischer Gewerkschaftssekretär, ein Justitiar aus Wiesbaden und ein Mann, der bald Baudezernent wurde; aber während sie glaubten, zwar als Fremde, doch als chancenreiche Zweite auf dem Platz der Erstansässigen anzukommen, traten sie in Wirklichkeit als "Dritte" auf - eine numerische Kleinigkeit mit großer Wirkung.

Es gab bereits "Erste" und "Zweite" am Platz. Der Verfasser, Sighard Neckel, nennt "Erste" die entmachteten Administratoren und ökonomischen Kader der DDR-Zeit und "Zweite" die in der DDR geächteten Oppositionellen, die ab 1989/90 die Stadtregierung bildeten und nun als Etablierte galten. Beide Gruppen befanden sich in einem "erbitterten Kleinkrieg", in dem es wie schon vor 1989, nun aber mit demokratischen Vorzeichen, um die Realisierung "lokaler Vorherrschaft" ging, um Statusfragen, Habituszeichen, um die Achtung oder Ächtung als Gruppe. Unabhängig davon, wie sich die "Wessis" hernach im Einzelnen aufführten: Im Augenblick, da sie erschienen, berührten sie bereits als Hinzukommende die Kampflinien.

Schlichter oder lachender Dritter.

Sighard Neckel stützt sich auf ein Theorem Georg Simmels. 1886, in einer Untersuchung der "quantitativen Bestimmtheit der Gruppe", hat Simmel dargelegt, warum ein zu zweien Hinzukommender in deren Verhältnis eingreift. Ob er will oder nicht: Er übernimmt als Dritter, "soziologischer Logik" entsprechend, entweder die Rolle des Schiedsrichters, der auf die Einhaltung von Spielregeln pocht, oder die des Unparteiischen, der zum Streitschlichten angerufen wird, oder er macht sich zum "lachenden Dritten", welcher Streit stiftet, um über die anderen zu herrschen. In der Anwendung dieses Modells auf Waldleben vermeidet Neckel nun jeden Schematismus, und daher treten "Ossis" und "Wessis" hier in einer spannenden Dreiecksgeschichte auf.

Die Rolle des Dritten rotierte im Verlauf der Jahre unter den drei Optionen. Der städtischen Wenderegierung lag daran, mit der Unterstützung westdeutscher Experten neben ihrer moralischen auch ihre sachliche Kompetenz unter Beweis zu stellen. Dadurch jedoch, dass der Baudezernent die Rolle des politisch "Unabhängigen" favorisierte, wobei bei der Privatisierung der "VEB"-Gebäudewirtschaft die damals noch geschmähten früheren DDR-Kader als Bevorzugte erschienen, wurde zuerst einmal das politische Ansehen der Bürgerrechtler geschmälert. Und als bald darauf illegale Geschäfte des zweiten westdeutschen Amtsinhabers, des Justitiars aus Wiesbaden, ans Licht kamen, begann auch das verbliebene moralische Renommee der Wenderegierung zu bröckeln. Im Rückenwind einer ersten Welle öffentlicher Unzufriedenheit startete nun die fast nur mit Journalisten aus der DDR-Zeit besetzte Redaktion der Ortszeitung eine Kampagne gegen den "ungeeigneten" westdeutschen Baudezernenten, um den Bürgermeister zu treffen, worauf die Parteien der Bürgerrechtler die Kommunalwahlen von 1993 verloren. Nun begann die Rotation.

Man kommt sich näher.

Im Wahlkampf kamen sich flexible Westdeutsche und "systemkritisch" eingestellte, geschäftlich aber erfolgsorientierte frühere SED-Kader näher. Auch vereinigten sich nun allerlei Außenseiter - Beleidigte, von Posten Ausgeschiedene, Rachsüchtige und unter ihnen dann auch der westfälische Gewerkschaftssekretär - mit zündenden Reden zu einem "Populistenklüngel". Von hier gingen die Skandalwellen aus, die nun das menschliche Image des verbliebenen Bürgermeisters - eine "moralische Ausnahmegestalt" Waldlebens während der DDR-Jahre - in Zweifel zogen. Bei dem Bürgerentscheid, der seine Absetzung erzwang, spielte eine nicht unwesentliche Rolle, dass er oft mit "Wessis" in der Sauna gesehen wurde. Das vorläufige Ende der politischen Kultur Waldlebens bahnte sich an, als ein so genannter "Parteiloser" das Bürgermeisteramt übernahm: der frühere SED-Bürgermeister einer Nachbargemeinde. Das letzte in der Studie dokumentierte Machtzentrum, von dem noch so etwas wie Lokalpolitik ausging, konzentrierte sich im Waldlebener Unternehmerverband, wo Geschäftsleute, die der PDS angehörten, den Kasseler Autohändler zu ihrem Vorsitzenden wählten.

Für Waldleben also trifft keinesfalls zu, dass sich nach der Wiedervereinigung arrogante "Sieger" und fremdenfeindliche, ohnmächtige "Verlierer" gegenübergestanden hätten. Ob Neckels Beobachtungen exemplarischen Charakter haben, wäre nun zu überprüfen. Allerdings haben der Waldleben-Studie einmalige Forschungsbedingungen zu Grunde gelegen. Zusammen mit einer Soziologengruppe der Freien Universität Berlin begann Neckel mit Feldforschungen schon zu der Zeit, als "Ossi" und "Wessi" nichts weiter als Spitznamen waren, die eine gegenseitige Neugier ausdrückten. Damals ließen sich viele interviewen, und gerade die vormaligen und neuen lokalpolitischen Akteure haben in der Erschütterung unmittelbar nach der Wende von ihrer persönlichen Geschichte, von politischen Erfahrungen und Grundsätzen erzählt. Diese Interviews - im Text ausführlich zitiert - und dazu die Ergebnisse einer sechsjährigen Beobachtung des Stadtgeschehens auch mit anderen Instrumenten klassischer Gemeindeforschung bilden die breite empirische Basis der Studie, die dann auch Interessantes und vieles zu anderen Phänomenen der Transformation zu berichten hat.

JOCHEN KÖHLER

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