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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.01.2002

Posaune? Nebelhorn?
Robert Haasnoot besteigt das Narrenschiff des Jüngsten Gerichts

Stell dir vor, es ist Weltuntergang und du bist nicht da. Der holländische Schriftsteller Robert Haasnoot untersucht in seinem zweiten Roman "Wahnsee" einen historischen Fall von simulierter Apokalypse, religiösem Eifer und wahrhaft mörderischer Gruppendynamik und liefert damit ein eindrucksvolles Portrait der menschlichen Einbildungskraft und ihrer Übersteigerung im visionären Wahn.

Im Jahr 1915 sticht die Noordster, ein holländisches Fischereischiff mit einer fünfzehnköpfigen Besatzung, in See. Draußen, außerhalb des Schiffes und außerhalb des kleinen Fischerdorfes Zeewijk, tobt der erste Weltkrieg. Die Armeen versammeln sich zu einer, wie es den Anschein hat, allerletzten Schlacht. Ein Blinder, wer schon einmal in der Offenbarung gelesen hat und jetzt keine Zeichen sieht.

Der Fischer Arend Falkenier, der mit an Bord der Noordster ist, ist zwar kahl, aber nicht blind, im Gegenteil, er ist ein Seher und ein Auserwählter Gottes, und er weiß, daß Gott Großes mit ihm vorhat in dieser Zeit der großen Ereignisse. Deswegen läßt er von Beginn der Fahrt an nicht davon ab, die Worte des Herrn zu predigen und das Ende der Welt zu prophezeien. Durch sein Charisma von geradezu hypnotischem Ausmaß gelingt es ihm, die Besatzung allmählich in einen religiösen Rausch hineinzutreiben und die Befehlsgewalt über die Noordster an sich zu reißen. Seine Definition von Glauben ist ihm für seine Zwecke dabei äußerst dienlich: "Es ist aber der Glaube ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht!" Denn mit den Augen sehen werden er und die anderen Besatzungsmitglieder zu keiner Zeit etwas Ungewöhnliches. Mit dem inneren Auge des Glaubens aber sehen sie die Geister der auferstandenen Toten überall auf dem Schiff, ganze Armeen von Teufeln und Dämonen, die sie belagern, sowie Engel und einen leibhaftigen Apostel. In weiter Ferne vernehmen sie die Posaune, von der die Offenbarung spricht, und die in ihren gottesfürchtigen Ohren kaum noch wie ein Nebelhorn klingt. Bald wagt keiner der Männer mehr daran zu zweifeln: ihre Welt existiert nicht mehr, Feuerregen hat die Länder verwüstet, alle Schiffe sind in schrecklichen Stürmen untergegangen. Die Menschheit ist ausgelöscht, und nur die Besatzung allein ist auserwählt, das heilige Jerusalem ohne den Umweg über Tod und Auferstehung zu erreichen. Wer doch zu zweifeln wagt, muß schleunigst vernichtet werden. Zweimal schlägt die Verzückung in tödliche Gewalt um.

Erzählt wird die Geschichte vom Zeewijker Stadtschreiber, dessen Tonfall zwischen Seemannsgarn und psychologischer Fallbeschreibung Robert Haasnoot meisterlich handhabt. Der Erzähler, der den falschen Propheten noch während des Krieges als junger Mann getroffen hatte, schreibt die Geschehnisse vierunddreißig Jahre später auf, nachdem zum ersten Mal einige der Beteiligten bereit waren, sich zu äußern. Allerdings nur unter der Bedingung, daß alle Informationen weitere fünfzig Jahre unter Verschluß gehalten werden. Ebenso wie die Ereignisse auf der Noordster ist diese Nachrichtensperre authentisch. Der Bericht, den wir nach ihrem Ablauf zu lesen bekommen, ist es nicht. Er ist das Produkt der erzählerischen Einbildungskraft von Robert Haasnoot, der sich in die religiöse Einbildungskraft der Seeleute hineindenkt und mit ihnen das zu sehen versucht, was es nicht gab.

In dieser Doppelung der Phantasie liegen die Stärken seines Romans, der sich Mühe gibt, jede Wertung dem Leser zu überlassen. Irgendwann aber zückt er doch den moralischen Zeigefinger, wenn der Erzähler bekennt: "Auch ich hätte an Arend geglaubt". Dieser Hinweis auf die Verführbarkeit jedes Menschen ist unnötig, zumal Haasnoot mit einem erzählerischen Haken aus dem Repertoire der Fernsehserie "Akte-X" den Verführten wieder einen Großteil ihrer Schuld abnimmt. Am Ende schildert der Erzähler seine letzte Begegnung mit Arend und das kleine Wunder, dessen Zeuge er werden darf, als eine von diesem in den Boden gerammte Schaufel sich nicht aus dem Boden ziehen läßt - ein Bodensatz des Unerklärlichen in diesem Roman.

SEBASTIAN DOMSCH.

Robert Haasnoot: "Wahnsee". Roman. Berlin Verlag, Berlin 2001. 211 S., geb., 18,- [Euro].

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