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Produktdetails
  • Edition Künstlerhaus
  • Verlag: Wunderhorn
  • Artikelnr. des Verlages: 2040801
  • 1996. Aufl.
  • Seitenzahl: 64
  • Unbestimmt
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 226g
  • ISBN-13: 9783884231081
  • ISBN-10: 3884231081
  • Artikelnr.: 25279400
Autorenporträt
Peter Kurzeck ist 1943 in Böhmen geboren und als Flüchtlingskind in Staufenberg im Kreis Gießen aufgewachsen, lebte seit 1970 viele Jahre in Frankfurt am Main und in Uzès, Südfrankreich. Verschiedene Literaturpreise und Stipendien: Alfred-Döblin-Preis 1991, Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1999, Hans-Erich-Nossack-Preis 2000, Stadtschreiber von Bergen 2000/2001. 2008 erhielt Peter Kurzeck den Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis. Der Autor verstarb 2013.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2016

Flug durch die oberhessische Dunkelheit

Postum erscheint Peter Kurzecks Fragment "Bis er kommt". Der Roman sollte der sechste Teil seiner Chronik "Das alte Jahrhundert" werden. Auch in ihm wappnet er sich mit Alltagsbeschreibungen gegen die Angst.

Schreiben werde ich sowieso immer", notierte Peter Kurzeck in "Ach, Deutschland, ein Triptychon" aus "Vor den Abendnachrichten". Der Stroemfeld Verlag hat nun das zuerst 1996 im Verlag "Das Wunderhorn" erschienene, vergriffene Bändchen wieder aufgelegt. Erweitert wurde es um ein Nachwort der Malerin und Schriftstellerin Bianca Döring, die Lebensgefährtin des Autors war. "Vor den Abendnachrichten" entstand, als Kurzeck an "Übers Eis" arbeitete, dem ersten Teil seiner poetisch-autobiographischen Chronik "Das alte Jahrhundert". Dass der Autor wie besessen geschrieben hat, beweisen nicht nur die zu Lebzeiten erschienenen Romane, sondern auch sein Nachlass, in dem sich mehrere, teilweise weit ausgearbeitete Romanentwürfe erhalten haben. Im Oktober 2013 übergab er einen von ihnen, die Niederschrift von "Bis er kommt", dem Verlag. Im November 2013, knapp ein halbes Jahr nach seinem siebzigsten Geburtstag, starb Peter Kurzeck.

"Bis er kommt", der als sechster Band von "Das alte Jahrhundert" geplant war und mit siebzehn Kapiteln rund die Hälfte des geplanten Umfangs umfasst, beginnt mit einer Panikattacke. Sie ereilt Peter, den Erzähler, eines Nachts. Er imaginiert einen Flug durch die Dunkelheit. Auf den Gesimsen der Häuser sieht er Scharen mythisch anmutender "Menschenvogelgespenster" sitzen: "Frierende Seelen. Vergessen. Abgenutzt. Müde Seelen, an die lang schon keiner mehr denkt." Die Panik des Erzählers bildet sich in der stakkatoartigen Reihung der Worte glaubwürdig ab: "Angst nicht! Keine Panik! Allein in der Nacht." Dagegen setzt er das Beschreiben des Alltäglichen, mit dem er die Angst zu bändigen versucht: "Du hast das alles um dich her sorgsam aufgestellt. Jedes Ding an seinem Platz." Der Versuch glückt, jedenfalls für den Moment. Kurz darauf heißt es: "Auch diesmal den Panikanfall überstanden."

Im Ordnen der ungeordneten oder stets von Unordnung bedrohten Wirklichkeit begründet sich die Sisyphusarbeit des Erzählers Peter. Leser von "Das alte Jahrhundert" haben auch in "Bis er kommt" Anteil daran. Man verfolgt, wie die Rolle des ordnenden Erzählers gegen alle Widerstände verteidigt wird, dass jeder "Lebenstext", auch jenseits der Literatur, gegen die Zentrifugalkräfte einer kontingenten Wirklichkeit entsteht. Das oft grandiose, zugleich fragile, von Angst und Selbstbestimmungswunsch gleichermaßen motivierte Erzähler-Ich Peters lädt auf dieser elementaren Ebene zur Identifikation ein. Ist der Kampf gewonnen, kehrt für eine Weile Ruhe ein. Das sind für Erzähler und Leser Atempausen, in denen ein ruhigerer, oft humorvoller Fluss strömt. Dann entstehen eindrucksvolle Genrebilder, oft aus dem linken Milieu im Frankfurt der achtziger Jahre. Ein Höhepunkt ist die Beschreibung eines Flohmarktsamstags samt illustren Plattenverkäufern, die Scheiben von Bob Dylan, den Beatles, Donovan, Joan Baez und den Doors im Angebot haben: "Vorsortiert. Alphabetisch. Aber guck lieber selbst durch, sagt der Händler. Jeder nimmt welche raus und tut sie dann falsch zurück." Doch immer, und das entkräftet jeden Harmlosigkeitsverdacht, geht es im Beschreiben des Alltäglichen um mehr als Zeit- und Lokalkolorit. Die Spannung aus drohendem Zerfall und erschriebener Ordnung ist als Grundton so gegenwärtig, wie die Konstellation der Handlung von "Bis er kommt" bekannt ist.

Denn "Das alte Jahrhundert" erzählt vom ersten Band an von den prekären ökonomischen Verhältnissen des Erzählers Peter, der seine Stelle im Antiquariat verloren hat und von seiner Freundin verlassen worden ist, von dessen Entschluss, Schriftsteller zu sein, von Gängen durch Frankfurt, allein oder mit der kleinen Tochter, von Peters Erinnerungen. Im Umkreisen einer kurzen Zeitspanne verknüpfen sich die Bände untereinander. Das Fragment von "Bis er kommt" steht dabei in besonders engem Zusammenhang mit "Oktober und wer wir selbst sind" (2007), dem vierten Band. Darin ruft Jürgen, Freund des Erzählers, aus dem französischen Städtchen Barjac an, wo er mit seiner Freundin Pascale ein Restaurant führt: Pascale hat ihn verlassen. Dieser Anruf wurde der Nukleus für "Bis er kommt", als Kurzeck merkte, dass sich der Anruf zu einem eigenen Buch verselbständigte. Der Anruf stellt in "Bis er kommt" eine spezifische Erzählsituation her, da der Anrufers nur indirekt präsent ist. Er sorgt auch für Spannung, da der Erzähler das ganze Buch hindurch mit Jürgen hofft, Pascale möge doch zurückkommen. Der Leser wartet und hofft mit und mäandert derweil mit dem Erzähler durch dessen Alltags- und Erinnerungsschleifen.

Wer noch nie Kurzeck gelesen hat, wird schnell bemerken, ob er damit etwas anfangen kann oder nicht. Erfahrenere Kurzeck-Leser könnten dagegen annehmen, vieles aus "Bis er kommt" sei schon in früheren Bänden zu lesen gewesen. Doch das trifft so nicht zu. Die Chronik ist in der Zeit zurückschreitend erzählt. Dadurch lädt sich das Erzählte im Anwachsen des Werks anders auf: Wer mit vorangegangenen Bänden vertraut ist, weiß bei der Lektüre von "Bis er kommt" von Anfang an, dass Pascale nicht zu Jürgen zurückkommen wird, weiß auch, dass der Erzähler von seiner Freundin Sibylle verlassen worden ist. Jürgens verzweifelte Hoffnung ist Peters. Und Peters Panik am Romanbeginn speist sich vor diesem Hintergrund in gewisser Weise schon aus der Verzweiflung eines Verlassenen.

Im Anwachsen der Chronik werden solche zeitlichen Wechselbezüge und Spiegelungen der Figuren aneinander immer komplexer, der Kontrast zur (eben nur vermeintlichen) Unmittelbarkeit des Alltäglichen krasser, die Grundspannung immer straffer. Das klingt kompliziert, doch bezieht dieses Werk daraus einen Reiz, der die Handlungsarmut an der Oberfläche kompensiert. Es leuchtet ein, dass sich der Verlag der Herausgabe des Nachlasses widmet, deren akribische Umsetzung Peter Kurzeck sicherlich gefallen hätte: Je mehr vom Werkganzen erschlossen wird, umso mehr vertieft sich die Tiefe, umso deutlicher zeigt sich, wie herkulisch dieser Autor tatsächlich gegen die Vergänglichkeit angeschrieben hat. "Das alte Jahrhundert" geht über die Arbeit des Chronisten weit hinaus. Es lotet aus, wie sich Zeit und Erinnerung im Ich konstituieren, wie sie es dabei locken und lähmen, beschwichtigen und berauschen.

Apparat und Nachwort zu "Bis er kommt" verdeutlichen, in welchem Ausmaß die ordnende Geste des Erzählers auch dem Autor eigen war. Kurzeck legte Wortlisten an, sortierte Themen mit Hilfe verschiedener Farben. Aufzeichnungen, die er zur Not auch auf Teebeutelhüllen festhielt, schrieb er später ab und überarbeitete sie: "Das erste Kapitel fertig. So gut wie fertig. Muß noch ein paarmal abgeschrieben werden, damit dann jeder Ton stimmt", beschreibt der Erzähler das Verfahren. Sollte es im Fragment an mancher Stelle noch leise kratzen, darf man höchstens den Tod selbst dafür belangen.

BEATE TRÖGER

Peter Kurzeck: "Bis er kommt". Romanfragment. Hrsg. aus dem Nachlass von Rudi Deuble und Alexander Losse.

Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main 2015, 350 S., geb., 24,80[Euro].

Peter Kurzeck: "Vor den Abendnachrichten".

Nachwort von Bianca

Döring. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main 2015. 88 S., geb., 14,80[Euro].

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