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Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • Seitenzahl: 258
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 418g
  • ISBN-13: 9783421050342
  • Artikelnr.: 24002665
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.1997

Richard Schröders Lesebuch zur deutschen Einheit
Kampieren wir unter freiem Himmel, ohne Geschichte, ohne Geschichten?

Richard Schröder: Vom Gebrauch der Freiheit. Gedanken über Deutschland nach der Vereinigung. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996. 260 Seiten, 39,80 Mark.

Am 2. Januar 1991 schrieb Richard Schröder in dieser Zeitung: "Deutschland ist vereinigt, vereinigt sind auch unsere Probleme, aber daß wir sie schon vereint, gemeinsam lösen könnten, davon sind wir noch weit entfernt." Sein damaliges Anliegen war es, einen vernünftigen gesamtdeutschen Umgang mit dem Stasi-Problem zu finden. Dies war und ist bis heute nicht einfach. Die DDR hatte keine funktionierende Presse in die Vereinigung einbringen können, denn es gab sie nicht. Die Westmedien hatten das Thema deshalb fest in der Hand. Im Urteilen und Verurteilen waren sie meist nicht zögerlich. Moralische Urteile wurden von Leuten gefällt, die all das, worüber sie schrieben und urteilten, nicht selbst erlebt hatten. Schröders Ziel war es, einem westdeutschen Publikum die Vielschichtigkeit eines Lebens in der SED-Diktatur und des Umganges mit dem Stasi-Staat zu erklären. Wer ihn selbst erlebt habe, sei vorsichtig mit dem Schwarz-Weiß-Klischee: Hier die Bösen, dort die Guten. Mit dieser Erfahrung, so schien es ihm, "sind wir manchem Westler voraus".

Sein damaliger Versuch, den Westdeutschen eine für die gesamtdeutsche Zukunft wesentliche Erfahrung zu vermitteln - und dabei beiden Seiten und ihrem jeweiligen Erleben und ihren Vorstellungen gerecht zu werden - ist kennzeichnend für Richard Schröder. Es bestimmt sein Wirken, seit Deutschland seine Einheit in endgültigen Grenzen wiedererlangt hat und die Deutschen sich anschicken, die zweite Deutsche Republik zu ihrer Republik zu machen. Schröder ist Pfarrer, Philosoph und Politiker. Es gelingt ihm, diese scheinbar unterschiedlichen Berufungen durchaus schlüssig miteinander zu verbinden. Wie viele, die sich in der Zeit der DDR-Diktatur behaupten und in den Grenzen des Möglichen treu bleiben konnten, fand er sich mit der Wende in politischer Verantwortung wieder, ohne die Politik als Beruf zu begreifen. Er gehöre, nach eigenem Urteil, nicht zu denjenigen, die schon vor dem Umbruch als "Oppositionelle" in den Medien geführt wurden. Er hatte keine Bürgerbewegungen der Wende mitbegründet, sondern war im Dezember 1989 der SPD beigetreten. Eigentlich habe er wenig davon gehalten, daß Pfarrer einer Partei beitreten. Sie seien nämlich für alle da. Andererseits sei er gegen abstrakte Prinzipien. Im übrigen komme es der Politik zugute, wenn sie zwar mit allem Ernst, aber als das Zweitwichtigste betrieben werde. Dieses Zweitwichtigste führte ihn in die freigewählte Volkskammer der DDR, wo er sich, nachdem Ibrahim Böhme zurückgetreten war, als Vorsitzender der SPD-Fraktion wiederfand. Heute lehrt Richard Schröder an der Humboldt-Universität in Berlin. Er ist Vorsitzender des Senats der Deutschen Nationalstiftung.

Eine Auswahl seiner Reden und Aufsätze aus der Zeit von 1990 bis 1995 hat er in dem Buch zusammengefaßt, von dem hier die Rede ist. Was seine Gedanken über Deutschland nach der Vereinigung von anderen Publikationen unterscheidet - und damit zugleich auszeichnet - ist der besondere Zugang zu ihrem Gegenstand. Obwohl es ihm an einschlägigem Sachverstand nicht mangelt - Anmerkungen zu Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zeigen es -, ist die wiedergewonnene Einheit für Schröder nicht in erster Linie ein ökonomischer oder finanzpolitischer Vorgang.

Zwar beschäftigen ihn auch Probleme der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes, der Treuhandanstalt oder der Restitution enteigneter Vermögen. Im Unterschied zur landläufigen öffentlichen Debatte kommt es ihm jedoch in erster Linie auf die "nichtökonomischen Dimensionen" der Einheit an: Auf das Einander-Zuhören-und-Verstehen-Lernen, die unterschiedlichen Erfahrungen und Schicksale der Deutschen in West und Ost, auf das Trennende und Verbindende, die allgemeinen politischen, kulturellen und geistigen Vorgänge, die durch die Wende und die nachfolgende Einheit ausgelöst werden und das geeinte Deutschland verändern, aber auch bereichern werden.

Vor allem jedoch geht es ihm um die wiedergewonnene Nation, ihre Bedeutung, ihre Aufgaben und ihre Zukunft. "Was muß geschehen", fragt Schröder im September 1995, "daß die Einheit gelingt? Wir müssen uns wieder als Nation verstehen." Was uns Deutsche verbindet, so an anderer Stelle, ist unser gemeinsames Haus. Wir wohnen drin und müssen es in Ordnung halten. Aber das geht nur, wenn wir es als unser Haus akzeptieren, seine Geschichte und Gegenwart annehmen und "nicht wahrheitswidrig behaupten, wir würden unter freiem Himmel kampieren, ohne Geschichte, ohne Geschichten."

Es ist die Ausrichtung seiner Texte auf ein neues Verständnis der Deutschen für ihre Nation, die Richard Schröders Buch zu einem Lesebuch der deutschen Einheit werden läßt. Er fordert uns auf, die deutsche Nation von den Aufgaben her zu bestimmen, "die nur wir Deutschen und wir Deutschen nur gemeinsam lösen können, eben unsere gemeinsamen Angelegenheiten". Diese Aufgaben konstituieren die Nation, nicht umgekehrt. Sie ist der politische Ort, an dem wir wohnen und leben und der uns deshalb nicht gleichgültig sein darf (1993).

Zu unseren nationalen Aufgaben gehört es nach Schröders Überzeugung, ringsum ein guter Nachbar zu sein. Das und nichts anderes wird uns äußere Sicherheit geben. So bestimmt sich unsere nationale Identität für ihn schlicht aus dem Kreis der Aufgaben, die wir Deutschen nur gemeinsam lösen können. Durch unsere Fähigkeit, neben unseren eigenen Interessen auch Aufmerksamkeit aufzubringen "für unsere gemeinsamen Angelegenheiten und was aus ihnen wird". Sein Fazit: "Die zweite Republik muß gelingen. Auch das ist eine nationale Aufgabe."

Damit sie gelingen kann, müssen wir aufhören, den Ost-West-Gegensatz zu pflegen. Im Westen muß man verstehen, daß die DDR-Bürger in einen unvorstellbaren Lernprozeß gestoßen wurden, der für jeden ins Persönlichste eingreift und zunächst viele Unsicherheiten und Ängste schafft. Auf dem Wege zur Freiheit erst erfahren sie, was wirklich los war in ihrem Land. Sie erleben zugleich erstmals massenhaft die berechtigte Angst um den Arbeitsplatz. Während die Westdeutschen so weiterleben können wie bisher, da sie auf die bestehenden Verhältnisse trainiert sind, sind die Ostdeutschen gelernte DDR-Bürger ohne DDR (1994). Sie müssen erst die Erfahrung machen, daß Freiheit und Sicherheit vereinbar sein können. Sie müssen die Folgen des unausgesprochenen, aber existenzbestimmenden "Gesellschaftsvertrages" der DDR überwinden, der da hieß: Wohlverhalten gegen Wohlergehen als Staatswohltat - oder: soziale Sicherheit um den Preis der Freiheit, der Wahrhaftigkeit und deshalb der Würde.

Es sind die Erfahrungen mit der Diktatur, die Schröder nutzbar machen möchte zum Schutz der Freiheit aller Deutschen. Wir können uns vor einer Wiederkehr der Diktatur schützen, wenn wir nicht vergessen, was geschehen ist, und daraus die Lehre ziehen: Die Institution des Rechtsstaates respektieren, auch die "unerfreulichen Seiten des demokratischen Rechtsstaates", die öffentlichen Auseinandersetzungen ertragen, diese aber zugleich begrenzen, um im Streit nicht den Grundkonsens der Demokratie zu zermalmen, das Gespräch zwischen den Generationen nicht abreißen lassen und mit unserer Geschichte leben.

Auch um diesen Streit fruchtbar führen zu können, muß man viel mehr voneinander wissen, als wir bisher voneinander erfahren haben. Dazu will die Sammlung von insgesamt neunzehn Texten beitragen. Mit ihrer Hilfe will Schröder die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit uns teilen. Denn dies sei überhaupt das Grundproblem der anstehenden wirklichen Vereinigung: "Wir haben (im Osten) vierzig andere Jahre erlebt als ihr (im Westen) und sind nicht etwa vierzig Jahre zurückgeblieben." Hilfe zur Selbsthilfe brauche der Osten, nicht Nachhilfe für vierzigjährige Sitzenbleiber.

Die Aufgabe des Erfahrens, Lernens und Verstehens ist für beide Seiten schwierig. Sie erfordert Geduld und Toleranz, vor allem auch Gelassenheit. Sie wird erleichtert durch den Umstand, daß weder die Deutschen im Westen noch die im Osten schon wissen, wie die geeinte Nation im Inneren und in ihrem europäischen Umfeld im Jahre 2010 aussehen wird. In die Aufgabe, sie freiheitlich zu gestalten, bringen wir unsere verschiedenen Erfahrungen ein. Indem wir sie als die Aufgabe aller Deutschen annehmen, wächst erst zusammen, was zusammengehört - und was zusammenführt. Das mag viele beschweren und entmutigen. Richard Schröder sieht jedoch keinen Anlaß zur Resignation. Er nehme sich - so in seiner Rede zum 20. Juli 1993 - "die Freiheit, mich an Einigkeit und Recht und Freiheit zu freuen". Mögen sich viele Leser finden, die sich mit ihm freuen können.

KURT H. BIEDENKOPF

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