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Produktdetails
  • Verlag: GB Gardners Books / W&N
  • Seitenzahl: 326
  • Englisch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 533g
  • ISBN-13: 9780297643128
  • Artikelnr.: 36644068
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2000

Unaufhörliches Ende einer Liebe
Ian Buruma hat ein Faible für die europäische Anglophilie

Nach kurzer Haft in der Pariser Bastille ging Voltaire nach London: England war in seinen Augen unter allen Staaten Europas das freiheitlichste Land seiner Zeit. In seinen "Briefen über die englische Nation", 1733 im Londoner Exil auf Englisch verfasst und ein Jahr später in Paris vom Parlament für staats- und religionsfeindlich erklärt (die gesamte französische Auflage wurde beschlagnahmt und verbrannt), feierte Voltaire die Tugenden einer auf Toleranz und Tradition gegründeten Gesellschaftsform und einer die Vorzüge von Monarchie und Demokratie vereinenden Staatsform.

Kurzum, Voltaire fand die englische Verbindung von liberaler Gesetzgebung (Rede-, Presse- und Religionsfreiheit), rationaler Denkart (Francis Bacon, John Locke und Isaac Newton) und moderater Politik nachahmenswert, und die englische Sprache kürte er zur Sprache einer "freien und gelehrten Nation". Voltaire ist "der erste moderne Anglomane", seine "Briefe" sind die "Bibel der europäischen Anglomanie", schreibt Ian Buruma in seinem Buch, das die Beziehung der europäischen Intellektuellen zu England verfolgt.

Buruma, als Abkömmling einer britisch-holländischen Familie in Den Haag geboren, leidet allerdings selbst unter der Krankheit, die er diagnostiziert: Die Anglophilie ist ein hartnäckiges, ein schönes Leiden. Während der Aufenthalte bei den geliebten Großeltern in England reifte in ihm jene Bewunderung für die moralische Eleganz, den gediegenen Lebensstil und die geistige Toleranz, die die Anglophilie - von Voltaire bis zu Isaiah Berlin - begründet hat. Mit distanziert-ironischem Blick und rhetorisch geübter Feder und in einem erzähltechnisch wirkungsvollen Wechsel zwischen Autobiographie und Historie wägt Buruma Vorurteil gegen Urteil ab, sucht die Realität hinter dem Klischee und analysiert die "Anglomanie" in ihren verschiedenen Erscheinungsformen.

Anhand einiger exemplarischer England-Freunde verfolgt seine essayistische Darstellung die Geschichte einer Idee: der Idee "England". Denn Voltaires England war eine Fiktion, an der, das zeigt Buruma, immer weitergedichtet wurde: "England" wurde ein Mythos, der von Europa genährt wurde und seinerseits Europa genährt hat.

So erneuerte sich die deutsche Literatursprache in der Schlegel-Tieck-Übersetzung von Shakespeare, die der kleinstaatlichen Nation eine sprachliche Identität verlieh. Als Shakespearomanie fand die deutsche Anglophilie ihren absurdesten Ausdruck in der Schwärmerei der Nazis: 1939 erklärte der Reichsdramaturg Rainer Schlösser, dass Shakespeare in deutscher Übersetzung als "deutscher Klassiker" zu gelten habe. Und während die Oberbefehlshaber der deutschen Armee die Invasion Englands vorbereiteten, versammelte sich die Nazi-Elite 1940 in Weimar, um Shakespeares Geburtstag zu feiern.

Buruma stellt Höhepunkte und Widersprüche anglophiler Begeisterung dar und zeigt, wie nahe Anglomanie und Anglophobie beieinander liegen. Prinz Hermann von Pückler-Muskau - "Prince Pickle", wie er in London apostrophiert wurde, der "Parkomane", wie ihn Buruma nennt - verwandelte seine Ländereien in fantastische Parkanlagen nach englischem Vorbild, fühlte sich aber vom englischen Adel, der dem emporstrebenden Bürgertum zu leicht nachgebe, verraten. Und Kaiser Wilhelm II., Queen Victorias Enkel, spann hysterische Verschwörungstheorien über eine jüdisch-englische Allianz gegen Deutschland - "Juda-England", das es zu zerstören galt - und trug am liebsten Uniformen, die "englisch" aussahen. Er war "der Anglomane, der England hasste".

Burumas zwischen Biographie und Ideengeschichte angelegte Porträtgalerie ist weitläufig: Baron Pierre de Coubertin, der "Sporting Man", erhoffte sich von einer sportlichen Erziehung nach Art englischer Privatschulen eine geistige Erneuerung der europäischen Jugend und begründete die modernen Olympischen Spiele. Theodor Herzl stellte sich an der Spitze seines jüdischen Staates eine "liberale Regierung von kultivierten Gentlemen" vor, sein "Altneuland" war ein "Miniatur-England".

Der Wiener Ökonom F. A. Hayek, der nach England emigrieren musste, meinte, dort die ideale kapitalistische Gesellschaft aus tüchtigen Geschäftsleuten vorzufinden: "liberalistisch, kultiviert und sehr konservativ". Der deutsche Architekt Nikolaus Pevsner, der 1933 nach England kam, sah den englischen Charakter in einem Traditionalismus verankert, der Neuerungen abmilderte und Dauerhaftigkeit schuf. Mit seinem fünfzigbändigen Werk "The Buildings of England", einer akribischen Auflistung und Beschreibung des architektonischen Bestands - "typisch deutsche Pedanterie", wie seine Kritiker fanden -, trug Pevsner maßgeblich zur Würdigung der englischen Baugeschichte bei.

Buruma zeigt, wie die Anglophilie nicht nur das kontinentale Europa, sondern schließlich das englische Selbstverständnis befruchtet hat. Er zeigt auch, wie Emigranten zwar aufgenommen, aber nicht angenommen wurden. Nicht zufällig kamen Revolutionäre wie Karl Marx, Alexander Herzen oder Garibaldi nach England - aber England ignorierte sie mit gelassener Höflichkeit. Die bewunderte Tradition einer moderaten Politik habe verhindert, dass europäische Extremisten in England reüssieren konnten. Wie leicht Idealisierung in Desillusionierung umschlägt, beschreibt Buruma auch und plädiert deshalb für eine rationale - man kann sagen: "englische" - Haltung gegenüber England.

Zwar hat auch Buruma mit den Begriffen "England" und "Britain" seine Mühe, aber er deckt das Missverständnis auf, wonach "England" bewundert wurde, während es eigentlich um "Britain" ging. Sogar der "englische Gentleman" war ja eine britische Erfindung: Dahinter stand eine durch Bildung, Kleidung, Haltung und Sprache gekennzeichnete und auf den Britischen Inseln verbreitete Elite.

Die Anglophilie galt nicht England, sondern dem Vereinigten Königreich: einem realpolitischen Staatenverbund, in dem Lokalpatriotismus durch eine pragmatische Staatstreue relativiert wurde. Heute, da dieser Zusammenschluss aus England, Schottland, Wales und Nordirland innenpolitisch gelockert und europäisch unterminiert wurde, fürchtet Buruma das Aufflackern eines regionalen Nationalismus, wie ihn schottische Fischer oder englische Hooligans verkörpern. Nicht der Verlust des Imperiums, sondern das Auseinanderbrechen des Königreichs zerstöre schließlich den Mythos eines freiheitlichen, toleranten, kultivierten "England". Und die "europäische Liebesbeziehung", der Buruma nachgespürt hat, scheint sich ihrem Ende zu nähern.

STEFANA SABIN

Ian Buruma: "Anglomania". A European Love Affair. Weidenfeld and Nicolson, London 1999. 326 S., geb., 18,99 brit. Pfund.

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