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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2011

Angekündigte Ausrottung
Die Wahrnehmung des Holocaust im Zweiten Weltkrieg

"Das haben wir nicht gewusst", hieß es nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes mit Blick auf den Mord an den europäischen Juden. Nur wenige Deutsche gaben zu, von dem Menschheitsverbrechen gewusst zu haben. Selbst Haupttäter versuchten sich aus der Verantwortung zu stehlen. Hermann Göring erklärte am 21. März 1946 auf die Frage "Sagen Sie immer noch, dass weder Hitler noch Sie von der Judenausrottungspolitik etwas wussten?" vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg: "Soweit es Hitler betrifft, habe ich gesagt, dass ich das nicht glaube; soweit es mich betrifft, habe ich immer gesagt, dass ich auch nur annähernd von diesem Ausmaß nicht gewusst habe." Die historische Forschung hat immer genauer den Nachweis erbracht, dass weite Teile der deutschen Gesellschaft um den antisemitischen Ausrottungsfeldzug gegen jüdische Männer, Frauen und Kinder wussten. Der Vorstellung, das millionenfache Morden sei auf Dauer erfolgreich vor der Bevölkerung verborgen worden, wurde auf breiter Quellenbasis die Grundlage entzogen. Der Völkermord wurde spätestens 1943 zu einem offenen Geheimnis, ja sogar zu einem "öffentlichen Geheimnis" (so Peter Longerich).

Der Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung des Holocaust kommt strategische Bedeutung zu. Denn wenn es tatsächlich so gewesen wäre, dass der Genozid hätte geheim bleiben können, so würde dies die Mitverantwortung der deutschen Bevölkerung an dem Völkermord stark einschränken. Das Menschheitsverbrechen könnte dann vor allem Hitler und seinen Komplizen zugeordnet werden. Dies käme einem weitverbreiteten Entlastungswunsch entgegen. Der amerikanische Völkerrechtler und Historiker Alfred de Zayas sucht in dem vorliegenden Buch, diesem apologetischen Bedürfnis zu entsprechen. Schon im Vorwort wird behauptet, dass "die Masse der deutschen Staatsbürger keine Kenntnisse von der Mordmaschinerie" gehabt hätte. "Das System der Geheimhaltung dieser Vorgänge" sei "nahezu perfekt" gewesen. Hier schon scheitert das Buch. Denn es sieht sich genötigt, den mittlerweile erreichten Forschungsstand pauschal zu negieren. Eine Reihe "mangelhaft recherchierter Bücher" sei erschienen, heißt es zu den wegweisenden Studien des israelischen Historikers David Bankier und zu den Veröffentlichungen von Peter Longerich, Frank Bajohr sowie Dieter Pohl.

Die Absicht des vorliegenden Buches lenkt den Blick auf dessen "Beweisführung". De Zayas versucht unter Berufung auf einen grundsätzlichen Geheimhaltungsbefehl Hitlers vom 11. Januar 1940 die zeitgenössische Wahrnehmung des Völkermords zu verneinen, indem er der Anweisung eine hohe und nachhaltige Wirkung unterstellt. Diese Auffassung ist historisch nicht haltbar. Hitlers Geheimhaltungsbefehl erwies sich bereits beim Behindertenmord durch die Nationalsozialisten als wenig wirksam. Sehr schnell entstanden Gerüchte über die Tötungsanstalten. Die "Geheime Reichssache" wurde schnell zum offenen Geheimnis. Auch in Hinblick auf die Kriegslage erwiesen sich die Abschirmungs- und Desinformationsbemühungen des Regimes als wenig nachhaltig. Schon vor dem unter höchster Geheimhaltung vorbereiteten Überfall auf die Sowjetunion kursierten Gerüchte über den angestrebten Waffengang. An den in NS-Medien bis 1945 unermüdlich verkündeten Endsieg glaubten - spätestens nach Stalingrad Anfang 1943 - immer weniger Deutsche. Auch hier ließ sich die wirkliche Lage weder durch Geheimhaltung noch durch Propaganda längere Zeit verschleiern.

Für die Wahrnehmung des Holocaust durch die deutsche Bevölkerung gilt grundsätzlich nichts anderes. Zweifellos waren die Geheimhaltungsbemühungen des Regimes bei der Initiierung des Völkermords und zur Minimierung von Unruhe in der Bevölkerung von großer Bedeutung. Hieraus jedoch abzuleiten, die Geheimhaltung des millionenfachen Mordens sei gelungen, ist schon aus folgendem Grunde abwegig. Das Regime musste, um ein Verbrechen dieser Dimension realisieren zu können, dieses ideologisch-propagandistisch absichern. Mindestens fünfmal hat Hitler in öffentlichen Reden allein im Jahr 1942 an seine Vernichtungsdrohung vom 30. Januar 1939 erinnert. So erklärt er zum Beispiel am 30. September 1942 im Berliner Sportpalast, dass, "wenn das Judentum einen internationalen Weltkrieg zur Ausrottung etwa der arischen Völker Europas anzettelt, dann nicht die arischen Völker Europas ausgerottet werden, sondern das Judentum."

Alfred de Zayas stützt sich weitgehend auf Stellungnahmen führender Akteure des nationalsozialistischen Regimes nach 1945 sowie auf von ihm befragte Zeitzeugen. Deren Schutzbehauptungen und Rückerinnerungen werden nicht ernsthaft quellenkritisch hinterfragt. Als wichtiger Beleg für seine Thesen dienen dem Autor beispielsweise Aussagen des SS-Richters Konrad Morgen. Ein problematischer "Kronzeuge". Von ihm ist bekannt, dass er im Frankfurter Auschwitz-Prozess Falschaussagen gemacht hat. Quellen aus der Zeit des "Dritten Reichs" werden weitgehend übergangen. Dabei ist zeitgenössischen Dokumenten (Reden, Presseartikeln, Justiz- und Polizeiakten, geheimen Lageberichten, Tagebüchern et cetera) am besten zu entnehmen, was über den Völkermord bekannt wurde. Angesichts dessen mag es kaum verwundern, dass de Zayas zu fatalen Fehleinschätzungen gelangt. So behauptet er, es sei bemerkenswert, dass Hitlers immer wieder zitierte Vernichtungsdrohung vom 30. Januar 1939 - ein zentraler Topos der NS-Propaganda - "eigentlich nur selten" von Hitler und Goebbels wiederholt worden sei.

Das vorliegende Buch leistet nicht, was es verspricht. Sein Scheitern zeigt, wie gefestigt der neue geschichtswissenschaftliche Forschungsstand zur Wahrnehmung des Holocaust mittlerweile ist.

BERNWARD DÖRNER

Alfred de Zayas: Völkermord als Staatsgeheimnis. Vom Wissen über die "Endlösung der Judenfrage" im Dritten Reich. Verlag Olzog, München 2011. 204 S., 26,90 [Euro].

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