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Produktdetails
  • Edition Bauhaus
  • Verlag: Campus Verlag
  • Seitenzahl: 234
  • Abmessung: 240mm
  • Gewicht: 590g
  • ISBN-13: 9783593362557
  • Artikelnr.: 24941903
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.08.1999

Im Reiche des braunen Goldes
Strukturwandel und Naturzerstörung: Gerhard Lenz kartographiert das Verschwinden der Landschaft bei Bitterfeld

Während Architekten und Planer des beginnenden Industriezeitalters mehr oder minder hilflos zusehen mussten, wie die Städte platzten und die Landschaft überschwemmten, und während gerade Baumeister der Postmoderne noch einmal die klaren Straßenräume und Plätze älterer Metropolen beschworen, werden in jüngerer Zeit Stimmen laut, die der Entgrenzung des Stadtraums etwas abgewinnen. Für Rem Koolhaas etwa führt die Nostalgie akkurater Ordnung in die Belanglosigkeit, dagegen entdeckt er im Chaos ein ästhetisches Element. Als die Stiftung Bauhaus Dessau vor einem Jahr im Campus Verlag ihre Reihe "Edition Bauhaus" startete, trug der erste Band den nahezu pragmatischen Titel "Peripherie ist überall".

Eine neuere Publikation dieser Serie, "Verlusterfahrung Landschaft" von Gerhard Lenz, scheint mit ihrem Titel die Aufwertung der Ränder wiederum kritisch zu betrachten. Aber schon das Layout, dass die Stiftung dem Verlag vorgab, spricht eine andere Sprache: Es sprengt den Satzspiegel und rückt Text und Bilder nach außen und nach oben. Die seelische Brisanz der Kategorie des Verlusts wird gleich zu Beginn des Buches entschärft. Der Autor will den Verlust von Landschaft nicht bedauern oder beklagen, sondern ihn als "Wandel" beschreiben. Den Blick auf die Region zwischen Bitterfeld und Dessau einschränkend, dokumentiert er exemplarisch, wie von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an agrarisch kultivierte Flächen von der Industrie überformt wurden.

Wer die ländliche Gegend in vorindustrieller Zeit als Idyll betrachtet, verfällt dem Autor zufolge einer Chimäre. Um wirtschaftlicher arbeiten zu können, nahm man schon im achtzehnten Jahrhundert Flurbereinigungen vor. Zunehmend wirkten wissenschaftliche Kenntnisse und technische Möglichkeiten auf den Landbau ein. Die bäuerlichen Eingriffe in den Naturraum und die nachfolgende Vereinnahmung durch die Industrie bilden für Lenz ein Kontinuum des "Formwandels". Während die Feldarbeit rationalisiert wurde, nahm man im Jahr 1837 bei Bitterfeld die erste Braunkohlegräberei in Betrieb. Im Gefolge des leicht abbaubaren Brennstoffs kamen Kraftwerke, Zuckerraffinerien, baukeramische Fabriken und chemische Industrie.

Zwischen den Fakten, die Lenz darlegt, und seinen Wertungen besteht ein gewisser Widerspruch. Ganz offensichtlich bedeutete der Übergang von der bäuerlich geprägten Landschaft zur Industrielandschaft doch einen dramatischen Wendepunkt. Vom Tempo des Umbruchs beunruhigt, sprach man schon 1851 im "Wochenblatt für den Bitterfelder Kreis" die Mahnung aus, dass ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Landschaft und Mensch nötig sei: Die Natur bedürfe des Geistes, um ihre Schätze zu entfalten, der Geist bedürfe der Natur, um sich zu erhalten. Aber den Kontrast zwischen der Anstrengung der Kräfte und der Entspannung, zwischen Getöse und Stille konnte man immer seltener erleben. Es gab kaum Initiativen, den zentrifugalen Drang der Industrie durch die zentripetale Kraft städtischer Ordnung auszugleichen.

Im Bitterfelder Raum wies schon in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das vollständige Austrocknen von Eichen auf die großflächigen Grundwasserabsenkungen durch den Braunkohletagebau hin, während sich die Beschwerden über Ekel erregende Gerüche und Abgase mehrten und Arbeiter an Hautgeschwüren und Tuberkulose litten. Aber solange die Industrie wuchs, nahmen die Behörden ihre Übergriffe auf den Menschen, den Naturhaushalt und den Landschaftsraum hin. Während des Ersten Weltkriegs wurden Bitterfeld und Wolfen schließlich durch die Herstellung von Sprengstoffen, Chlorgas und Fliegerfilm zu zentralen Orten der deutschen Rüstungsindustrie. Die Heimat selbst wurde gleichsam zum Kriegsgebiet. Stickstoffe, Tötungsgase und Stinkgase, die mangelhaft gesicherten Anlagen entwichen, vernichteten Pflanzen und Bäume und schädigten die Gesundheit der Menschen. Die Einwohnerzahl der Region stieg sprunghaft an. Dabei bildeten sich Orte heraus, die weder Dorf noch Stadt waren, sondern eine Anhäufung von Industriegebäuden und notdürftigen Wohnunterkünften darstellten. Nur gelegentlich konnte man wenigstens die Idee einer Gartenstadt verwirklichen, um die Lebenssituation zu verbessern. Für die meisten Bewohner hatte der Rausch des ökonomischen Wachstums einen bitteren Beigeschmack.

Erste Ansätze einer Regionalplanung während der zwanziger Jahre verliefen in den folgenden Jahrzehnten wieder im Sand. Zwar nutzte die nationalsozialistische Propaganda die Fortschrittsängste, die das Tempo der technischen Entwicklung heraufbeschwor, aber das mitteldeutsche Industriegebiet expandierte weiter im Takt der militärischen Aufrüstung. Nach dem Krieg hing die Energieversorgung der DDR an den Tropfinfusionen der Braunkohlekraftwerke, und die chemische Industrie musste die Knappheit der Rohstoffe kompensieren. 1988 notierte ein Autor im "Schreibzirkel" des Bitterfelder Chemiekombinats: "Verpestete Luft, brikettgeschwärzte Häuser und überall Chemie, Chemie. Eine brodelnde Retorte."

Der Treuhand wirft Lenz vor, dass sie kein Konzept struktureller Entwicklung vorgelegt, sondern "klassische Standortpolitik" bevorzugt habe: Schrumpfung der Betriebe auf lebensfähige Kerne, Abriss der alten Industrieanlagen und großzügige Ausweisung von neuen Gewerbeflächen. Lenz erblickt darin eine "Abräumung der Lebenswelt", wodurch dem Revier die Möglichkeit geraubt werde, sich seiner eigenen Geschichte zu vergewissern. Im Sinne der Bauhausstiftung vertritt er die Position des "Bewahrens und Entwickelns" mit dem Ziel, das Gebiet zwischen Bitterfeld und Dessau zu einer "ökologischen Modellregion" zu machen. Er wendet sich gegen die schnelle Flutung der Gruben mit verschmutztem Wasser oder gegen deren Nutzung für "Events" moderner Tourismusindustrie, wie es die "Expo 2000 Sachsen-Anhalt GmbH" wünscht. Bleibt zu hoffen, dass "klassische Standortpolitik" und "Bewahren und Entwickeln" einander gegenseitig ergänzen. Doch wenn die Städte keine Orientierung mehr schaffen, wird es auch keinen nachhaltigen Landschaftsschutz geben.

ERWIN SEITZ

Gerhard Lenz: "Verlusterfahrung Landschaft". Über die Herstellung von Raum und Umwelt im mitteldeutschen Industriegebiet seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1999. 234 S., br., 48,- DM.

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