getrennt nur durch den ersten, halbfett hervorgehobenen Satz. Die Kolonisation von unbekannten Inseln, fernen Gestaden oder gar Welten und gern auch Frauenkörpern, die Herrschaft und der nationale, internationale oder gleich interstellare Aufstand von Anarchisten gegen sie, die Erfindung von Kunstnahrung, Reproduktionsmedizin, Assoziationsformen und Idealen, die todbringende Anwendung von neuen Waffensystemen gegen Feinde in der Nähe oder auf den Sternen - all das schiebt sich ineinander und übereinander. Nicht weniger als achteinhalb Seiten umfasst die kleingedruckte Bibliographie der zitierten Werke, vollmundig "Patentamt der Illusionen" genannt.
Hinter dieser gigantischen Revue von Zukunftswünschen, von Autor oder Verlag erstaunlicherweise Roman genannt, steht eine bewundernswerte Stoffbeherrschung. Kapfer collagiert mit Blick auf Ähnlichkeiten und Strukturen, nicht auf Plots und Charaktere. So treten neben den Gründer einer Ozeanstadt namens Hohwart ein gewisser Holm, der Atlantis sucht und findet, dann Matthias Urbschad, der eine agrarische, die freie Liebe praktizierende Gemeinschaft leitet, ein jugendbewegter Muck sowie die einsame Frau Mara, eine künftige Heilige. Sie alle und noch viele mehr vermischen sich bald im Kopf des Lesers miteinander, kämpfen sie doch, jeder auf seine oder ihre Weise, an vorderster Front gegen die Menschheitsdämmerung und für wunderbare Sonnenaufgänge.
Kapfer bewegt sich am Rand des deutschsprachigen Literaturkanons, noch lieber jenseits davon. Bekannte Namen wie Gustav Landauer, Carl Einstein und Karl Kraus ("Bumsti! Da kann man Naturschilderungen weglassen.") sind in der Minderheit, es überwiegen eher unbekannte wie Grete von Urbanitzky, Hans von Kahlenberg, Auguste Hauschner und Katarina Botsky. Ihre Bücher firmieren nicht selten als "phantastische Romane", reagieren aber meist erstaunlich realistisch auf eben überstandene Schrecken vor allem der Weltkriege, und sie waren wohl, bis Kapfer die Bibliothek zu ausgedehnten Entdeckungsfahrten betrat, nicht zufällig vergessen. Ihre Figuren wirken nämlich in den meist technoiden Zukunftskulissen wie aus dem Mittelalter stammend, zumindest aus dem Mittelalter des Erzählens. Da donnert ein Erdbeben "sein Machtwort" und fährt manches Schwert "drein", mit oder ohne Donnerhall.
Herbert Kapfers Vertrauen in die vornehmlich belletristische Utopieproduktion kann schon ein wenig erstaunen. Zumal er seinen Vorlieben für Genreliteratur und Kolportage frönt. Wie gut, dass er es bei Auszügen belässt. Die Enzyklopädie der Utopien ist in drei Teile eingeteilt: Auf "Siedler", den naiven, wimmelnden Beginn, folgen "Jünger" mit Idealen und zunehmend kritisierte "Geister". Im letzten Kapitel mit vielen gegenwärtigen Stimmen von Bruno Latour bis Elfriede Jelinek zeigt sich Kapfer als illusionsloser Zeitgenosse. Ein Zukunftsskeptiker hat sich "in der Stille des Lesesaals" über Unerreichtes gebeugt und lässt Latour sagen: "Anthropozän. Seltsam. Gerade in dem Moment, in dem gesagt wird, es sei mit dem Menschen vorbei, wird ihm die Hauptrolle gegeben."
Weil Utopiekritiker selten Romane schreiben, gerät Kapfers Verfahren im dritten Teil an seine Grenze. In "Geister" mehren sich Zitatmontagen, in denen Hannah Arendt, Giorgio Agamben, Ernst Bloch sowie Aktivisten der Gegenkultur knappe Sentenzen von sich geben, während um sie herum die schöne Marsianerin den wackeren Erdenbürger auf Sternenfahrt verführt, der den Gedanken an seine Ingeborg dort nieden kurzzeitig dispensiert. Die Fallhöhe nimmt zu und mit ihr die Erschöpfung. JÖRG PLATH
Herbert Kapfer: "Utop". Roman.
Verlag Antje Kunstmann, München 2021. 440 S., geb., 25,- Euro.
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