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Produktdetails
  • Verlag: Vorwerk 8
  • Seitenzahl: 456
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 710g
  • ISBN-13: 9783930916146
  • Artikelnr.: 06995015
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.01.2000

Wiederfinden im Alten
Theo Girshausen verfolgt, wie antikes Theater weiterwirkt
Identität beruht auf der Sehnsucht, sich die Welt zueigen zu machen – wie sie war, wie sie ist, wie sie immer sein wird. Es ist die Frage nach dem Ursprung, die den Menschen auf kulturhistorische Pfade führt. Es ist der ambivalente Wunsch nach Universalität und Einzigartigkeit, der ihn Reisen zwischen den Zeiten unternehmen lässt. Was von ihnen bleibt, sind kulturgeschichtliche Andenken: Wegbeschreibungen, ins Bewusstsein gravierte Traditionslinien. Theo Girshausen geht ihnen nach auf der Suche nach den Ursprungszeiten des Theaters”. Er zeigt das Theater der Antike mit seinem Identifikationspotential gebrochen durch das Prisma seiner Wirkungsgeschichte.
Noch heute gilt die Poetik des Aristoteles im bürgerlichen Bildungsrepertoire als Quelle für den Ursprung des Dramas und offenbart sich doch selbst als theaterhistorisches Dokument – das den Mythos als festen Bestandteil antiker Identität anerkennt und so als historische Größe etabliert. Eine normative Kraft geht von dieser Schrift aus, die auf jenem „Verhältnis von Mythos und antiker Historiographie” gründet. Gleichwohl bietet die Poetik Projektionsflächen für epochale Bedürfnisse und kollektive Wunschvorstellungen, die mit einem sich wandelnden Antikenbild einhergehen.
Eingesetzt im Sinne einer identitätsstiftenden Idealisierung, findet Antike sich in der italienischen Renaissance, im französischen Klassizismus und im Humanismus der deutschen Klassik. „Ohne solchen Enthusiasmus wäre in allen Fällen kein Wiederfinden im Alten möglich gewesen. ” Ist es in der Renaissance das Bestreben, mit dem Musiktheater, dem „dramma per musica”, die musikalische Kultur zu reformieren, indem man auf die Poetik zurückgreift und deren diesbezügliche Leerstellen mit dem eigenen ästhetischen Bedürfnis ausfüllt, so entspringt das Theater des französichen Klassizismus dem Drang nach gesellschaftlicher Neuordnung. Die Antike liefert hier die formale Legitimation für eine staatliche Einheit, die in der Bühnenkunst eines Corneille, Racine und Molière ihren Ausdruck findet. „Alle drei reflektieren auf den sich zu ihrer Zeit abspielenden alles vereinnahmenden Vergesellschaftungsprozeß – um Unterordnung geht es bei Corneille, um tragisch scheiternde Auflehnung bei Racine, um pragmatische Anpassung bei Molière. ”
Komplexer gestaltet sich die Aneignung antiker Muster im deutschen Humanismus, der über den Umweg winkelmannscher Kunstgeschichtsschreibung die Homogenität antiker Kultur beschört: die Idee von der Einheit des Wahren, Guten und Schönen. So gerät das Idealische zur Lehre, das zeitgenössische Drama zum „Exempel der richtigen Lebensführung”. Die Poetik bleibt normative Dichtungslehre, ohne dass ihre Verweise auf die historischen Ursprünge des Dramas je Beachtung finden. Schiller schließlich setzt mit der Entfremdungsthese in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen dem klassischen Ideal die zeitgenössischen Lebensrealitäten entgegen – das ästhetische Ideal in seiner utopischen Funktion wird „bedeutsam für die Notwendigkeiten der Gegenwart”. Ein humanistischer Ansatz, der sich noch in den Pariser Manuskripten des Karl Marx wiederfindet.
Bei Girshausen erfährt man weit mehr als über die Ursprungszeiten des Theaters” über Formen der Aneignung, über kulturhistorische Bedeutungsverschiebungen. Das Theater der Antike – „zu reaktualisieren war es nie, aber es konnte als Mittel dienen, das ganz und gar Neue zu sagen, das mit anderen Mitteln nicht zu sagen war. ”
STEFANIE SCHWETZ
THEO GIRSHAUSEN: Ursprungszeiten des Theaters. Das Theater der Antike. Verlag Vorwerk 8, Berlin 1999. 450 Seiten, 64 Mark.
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