schleunigst den Rückzug anzutreten: "Genug! Genug. Eines Tages ist es genug. / Kauern wir unter wehenden Eisfahnen? / Liegen wir erschöpft unter dem Kreuz des Südens / in einer mondlosen Tropennacht? / Es ist genug. / So weit sind wir gegangen, / so hoch sind wir hinaufgestiegen, immer höher, / bis uns der nächste Schritt ins Blaue geführt hätte, / in die Wolken, nur noch ins Leere."
So beginnt Christoph Ransmayrs "Ballade von der glücklichen Rückkehr", und das Gedicht steht für eine ganze Reihe anderer, die der Band "Unter einem Zuckerhimmel" versammelt. Sie schildern Expeditionen, die den Reisenden an seine Grenzen bringen, erzählen vom beharrlichen Kampf in unwirtlicher Umgebung und immer wieder davon, was es kostet, ein Ziel ins Auge zu fassen, um es zu erreichen: "Denn wie weit, unendlich weit, / ist selbst ein Gipfel in Sichtweite, ja Rufweite, / ein Gipfel zum Greifen nah!, / entfernt für einen, / der mit schwindender Kraft auf ihn zusteigt."
Seit mehr als zwanzig Jahren betreibt der vielgereiste Autor Ransmayr sein Projekt "Spielformen des Erzählens", mit dem er in loser Folge und exquisiter Gestaltung auslotet, mit welchen Mitteln sich die Welt abbilden lässt. "Unter dem Zuckerhimmel" ist der neueste Beitrag dazu. In der Vorrede erinnert sich Ransmayr an seine Kindheit, in der er die Erfahrung machte, dass "Verse und gesungene Strophen die vollendete Form einer Geschichte" darstellten, schließlich hätten ihn viele Reisen gelehrt, dass die "unzerstörbarsten" Geschichten nicht schriftlich, sondern mündlich und gesungen überliefert würden. Das knüpft an eine Entwicklung der vergangenen Jahre an, die national (der Deutsche Buchpreis für Anne Webers "Annette") und international (Anne Carsons "Rot" und viele andere) die Form des Versepos und generell das Erzählen in gebundener Form neu entdeckt hat.
Was das bedeutet, hatte Ransmayr bereits 2006 in seinem meisterlichen Expeditionsroman "Der fliegende Berg" gezeigt und dabei etwa mit dem unvergesslichen Bild der aufsteigenden und gefroren herunterfallenden Schmetterlinge eine räumliche Struktur vorgegeben, die sich in den meisten Gedichten des neuen Bandes wiederfindet. Immer und immer neu geht es um den Weg nach oben, einen Weg, der auch durch die Luft noch weiterführt: "Auf höchste und heilige Berge sind wir gestiegen" heißt es in der "Ballade von der glücklichen Rückkehr", nur weil sie existierten: "Ach ja, sie standen im Weg / zwischen uns und der Ferne, / ach ja, und eine unsichtbare Linie / schien durch Gletscherabbrüche / und Kaskaden aus Stein / in die Höhe zu führen, weiter hinauf /ein Faden, nur für uns sichtbar / durch ein vertikales Labyrinth / ins Leere. / Unser Weg!"
Damit ist dieser Band in seinem Zentrum angekommen, denn um das Sichtbarmachen dieses unsichtbaren Fadens geht es dem Autor, um das Vermitteln dessen, was ihn in die schwindelnden Höhen, in die Wüste und Moräste treibt. Ihm gegenüber aber steht das große "Genug!", denn auch der zu entrichtende Preis ist in Ransmayrs Gedichten allgegenwärtig. Es ist die Erschöpfung und Einsamkeit des Reisenden, der immer in Gefahr schwebt, seinen Weg, den er nicht mehr vor sich sieht, zu verlieren. Und es droht der Verlust einer mit anderen geteilten Perspektive.
In dem Gedicht "Der Einzige" hält der Erzähler seine Perspektive gegen die aller anderen: Da klingt das, was die anderen "Regen" nennen, für ihn wie Motorenlärm, die Bäume der Übrigen sind ihm rostige Antennen: "Seltsam, der Einzige zu sein, / der sieht, was zu sehen ist, / und hört, was zu hören ist", heißt es dort, "weil sie zu einer Schuttwüste Garten / und taghell zur Finsternis sagen. / Und zum Kreischen von Kreissägen / Engelsmusik."
Der Verlust an Verbindlichkeit, jedenfalls was den Austausch mit anderen betrifft, prägt diesen Band erheblich, und wenn er tatsächlich an den in der Kindheit erfahrenen mündlichen, gesungenen Vortrag anknüpfen soll, wie Ransmayr ihn in seiner Vorrede beschreibt, dann tragen manche dieser Gedichte den Charakter eines Abgesangs, in dem der Augenblick gefeiert wird, aber vor dem Hintergrund der umfassend wahrgenommenen Vergänglichkeit dessen, was den Erzähler umgibt. Er hält das Organische gegen die abweisende Steinmasse der Berge, und was dem Reisenden nicht vergönnt ist, darf einzig der Steinschleifer für sich beanspruchen: "Etwas von dieser Arbeit / wird überdauern. / Nicht für immer, aber länger, / viel länger als alles, / was welken, faulen / und schmerzen kann."
Ein früherer Band von Ransmayrs "Spielformen des Erzählens" widmet sich unter dem Titel "Der Ungeborene" dem Künstler Anselm Kiefer. Er geht aus von einem Besuch im französischen Atelier des Malers, beschreibt "mit gipsübergossenen Pflanzenskeletten behängte Tafelbilder", die "zur Nachahmung jener chaotischen Kräfte gezwungen" seien, "die Lichtjahre und Lichtjahre über unseren Köpfen Spiralen und Milchstraßen in die Unendlichkeit brennen".
Nun hat Kiefer eine Reihe der Gedichte in diesem Band illustriert, mit Aquarellserien von bis zu zwanzig Seiten, die Textzeilen herausgreifen und mit Bleistift auf den Bildern selbst zitieren. Die Schreibweise des Schriftstellernamens wie auch den Wortlaut der Gedichte variiert Kiefer: Im Titelgedicht werden aus den für "Ewigkeit" gehaltenen "flackernden" Strohfeuern "aufflammende". Die Bilder nehmen auf, was den Text durchzieht; das Flüchtige der zerlaufenen Flächen, die sich farblich den wechselnden Stimmungen annähern, steht im Kontrast zu den unterschiedlichen Graden der Fixierung auf den Seiten, und wenn der durch die Mongolen von Göttern entvölkerte Himmel leer wird, ist die Dynamik dieses wechselhaften Prozesses den Bildern aufs Schönste abzulesen. Und auch, dass sich mit dem Autor und dem Illustrator zwei Künstler respektvoll zusammengefunden haben, die das, was sie können, gegen das große Bröckeln der Welt setzen. TILMAN SPRECKELSEN
Christoph Ransmayr, Anselm Kiefer: "Unter einem Zuckerhimmel". Balladen und Gedichte.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 208 S., Abb., geb., 58,- Euro.
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