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"Eine Geschichte vom schönen Glück erzählt Dagmar Leupold in ihrem neuen Roman. Er handelt von den hellen und den dunklen Seiten des Menschlichen und von einer seltsamen "Schwarzarbeit": Ein italienischer Mäzen ermöglicht es einer Frau namens Minna, zu schreiben. Allerdings ist an seinen Auftrag eine ungewöhnliche Bedingung gebunden: Sie soll den Menschen Freude bringen. Ist es ein Märchen, das hier erzählt wird, ist es die reine Wahrheit, ist es beides? Der Roman ist Literatur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten: Raffiniert und doppelbödig werden hier Wirklichkeit und Erfindung ineina...
"Eine Geschichte vom schönen Glück erzählt Dagmar Leupold in ihrem neuen Roman. Er handelt von den hellen und den dunklen Seiten des Menschlichen und von einer seltsamen "Schwarzarbeit": Ein italienischer Mäzen ermöglicht es einer Frau namens Minna, zu schreiben. Allerdings ist an seinen Auftrag eine ungewöhnliche Bedingung gebunden: Sie soll den Menschen Freude bringen. Ist es ein Märchen, das hier erzählt wird, ist es die reine Wahrheit, ist es beides? Der Roman ist Literatur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten: Raffiniert und doppelbödig werden hier Wirklichkeit und Erfindung ineinander gewoben. Als Minna einer alten, aus Ostpreußen stammenden Dame begegnet, beginnt sich ein Beziehungskarussell zu drehen, bei dem Vergangenheit und Gegenwart durcheinandergewirbelt scheinen und der Glanz früherer und ferner Zeiten sich ins heutige München mischt. Einmal mehr zeigt sich, dass das Leben ein Kreislauf aus Geburt und Tod ist. Als Frühchen ist Minna auf die Welt gekommen, und auch ihr Ende, ob wahr oder erfunden, lässt nicht allzu lange auf sich warten. In aller Abgründigkeit führt "Unter der Hand" nach Utopia und wieder zurück. An ein Ziel, das es wirklich gibt: Schwarzort."
geboren 1955 in Niederlahnstein, Rheinland-Pfalz, studierte Germanistik, Philosophie und Klassische Philologie in Marburg, Tübingen und New York, lebt als Autorin und Übersetzerin in München. Ihr Werk umfasst Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Für die Romane Unter der Hand (2013) und Die Witwen (2016) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert.
Produktdetails
- Verlag: Jung und Jung
- Seitenzahl: 296
- Erscheinungstermin: Juli 2013
- Deutsch
- Abmessung: 189mm x 123mm x 28mm
- Gewicht: 368g
- ISBN-13: 9783990270448
- ISBN-10: 3990270443
- Artikelnr.: 38084344
Herstellerkennzeichnung
Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Kein Geld ausgegeben und niemanden gekränkt
Dagmar Leupolds Kammerspiel mit Liebhaber
Minna, die Heldin von Dagmar Leupolds neuem Roman, ist knapp über fünfzig, Single und ohne feste Beschäftigung. Damit ist fast schon alles gesagt. Kommt freilich noch hinzu, dass sie als "Frühchen" auf die Welt kam, mit einem verkürzten Finger obendrein und also mit einem Fehlbedarf an Glück, den aufzuholen unmöglich scheint. Ein Motto aus Laurence Sternes "Tristram Shandy", das vor Nachlässigkeiten beim Zeugungsgeschäft warnt, bekräftigt die früh gestiftete Misere. Das kann nicht gutgehen. Dennoch sollte man Minna nicht unterschätzen. Ein Wohnungsnachbar stellt ihr ein gutes Zeugnis aus: der Körper drahtig und wendig,
Dagmar Leupolds Kammerspiel mit Liebhaber
Minna, die Heldin von Dagmar Leupolds neuem Roman, ist knapp über fünfzig, Single und ohne feste Beschäftigung. Damit ist fast schon alles gesagt. Kommt freilich noch hinzu, dass sie als "Frühchen" auf die Welt kam, mit einem verkürzten Finger obendrein und also mit einem Fehlbedarf an Glück, den aufzuholen unmöglich scheint. Ein Motto aus Laurence Sternes "Tristram Shandy", das vor Nachlässigkeiten beim Zeugungsgeschäft warnt, bekräftigt die früh gestiftete Misere. Das kann nicht gutgehen. Dennoch sollte man Minna nicht unterschätzen. Ein Wohnungsnachbar stellt ihr ein gutes Zeugnis aus: der Körper drahtig und wendig,
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unerschrocken die Person. "Witzige Erzählerin, scharfe Beobachterin. Neigung zu altklugen Bemerkungen. Am Ende Tränen." Er hat in allem recht. Leider macht er seine Bemerkung erst, als er die Nachbarin tot - allerdings so wie Dornröschen - auf ihrem Bett vorfindet. Das geschieht am Anfang des Romans, ihr hinterlassenes Manuskript ist der Roman.
Die Konstruktion, literarisch so alt wie Laurence Sterne, bringt ein paar Schwierigkeiten mit sich. Wie versteckt man die Arbeit an einem Roman in diesem selbst? Die Existenz eines Manuskripts wird nie so recht deutlich, natürlich auch nicht der Schreibvorgang. Nichts also von der Schriftstellerexistenz und ihren Mühen. Stattdessen erleben wir einen kargen Elfenbeinturm in einem städtischen Nirgendwo, das zufälligerweise München heißt, wenige ungeregelte Tätigkeiten - "ich bewirke nichts, ich arbeite nur" -, eigentlich nur ein paar Nachhilfestunden, Wohnungsaufsichten, Korrekturlesen und ein beängstigend zartes Lebensgewebe, das aus kaum einer Handvoll Personen besteht.
"Die Gier nach Stoff" - das ist ein vielsagender Seufzer. Dagmar Leupold hat ihn ihrem Kleist in den Mund gelegt, den sie in einer Art Totengespräch mit Ulrike Meinhof verwickelt. Der gleichwohl monologische Roman, in dem dies geschieht ("Die Helligkeit der Nacht", 2009), greift nach repräsentativen Figuren aus Vergangenheit und Gegenwart, doch sie bleiben Sprachrohre eigener Befindlichkeiten. Ein anderer Versuch, sich fremde, opake Wirklichkeit zu eigen zu machen, war Leupolds Roman über ihren Vater im Krieg ("Nach den Kriegen", 2004). Doch die Sättigung mit Realität, Merkmal des klassischen Romans, will nicht recht gelingen. Die Erfahrungen des eigenen Ich bleiben das schmale Reservoir, aus dem diese Autorin schöpft, die nicht von ungefähr auch als Lyrikerin hervorgetreten ist. Umso heikler der "Zweifel an der Biographie", den einer ihrer wohltuend klaren Essays behandelt, der Zweifel an der "Geschichtshaltigkeit" des literarischen Subjekts, dem, so scheint es, jede platte Fernsehgröße den Rang abläuft. "Ich glaube an Begabung, und ich glaube an Zeitgenossenschaft", hält sie fast trotzig dagegen.
Minna gehört zur Familie der Melancholiker - damit ist für ihre Begabung gesorgt. "Durch mich läuft ein Schwarz wie Tinte", sagt sie, und sie weiß, dass sich mit dieser Tinte gut schreiben lässt (bevor es den PC gab). Mit gläserner Haut sei sie zur Welt gekommen, zerbrechlich und durchsichtig - auch dieser kapriziöse Wahn gehört zur Symptomatik der Melancholie. Sie liebt Wortspiele, die "Zungenfertigkeit der Worte", besonders solche mit dem Wort "Schwarz": sie sei in die schwarze Grube gefahren, sie verrichte Schwarzarbeit, sie fährt nach Schwarzort. Aber sie weiß auch, dass sich "Schwarzgalligkeit" kurieren lässt. Minnas Manuskript ist eine solche Kur.
Es beginnt nach einem ersten Suizidversuch in einer toskanischen Reha und mit einem merkwürdigen italienischen Mäzen. Vico heißt er, verdient viel Geld mit Abfallwiederverwertung und besticht durch einen zusätzlichen Zahn, einen "Löwenzahn". Er möchte Minna zu einer "Glücksmissionarin" machen, aber wie? Wieder zu Hause, erlebt sie das Übliche. "Auf dem Küchentisch vor mir die vertrauten Gegenstände ..." Fernsehen und Wein. Der Liebhaber Franz, den sie beim Neurologen kennengelernt hat. Minna und ihr Körper "eine einzige Vermisstenanzeige", ohne Wärme, Leidenschaft, Zärtlichkeit und Frohsinn. Das alte Lied kann also wieder beginnen? "Immerhin kein Geld ausgegeben heute und niemanden gekränkt", sagt sie nach einem solchen Tag.
Und doch ist etwas geschehen, das ihr Leben in eine andere Richtung lenkt - leise, unspektakulär, zufällig. "Unter der Hand" nennt der Romantitel das, Minna will von Zufall nichts wissen, sie selbst sei der "Agent", aber Genaueres weiß auch sie nicht. Sie ist Lotte Schuchardt begegnet, an einer Bushaltestelle, einer älteren Frau, die sie schon häufig gesehen hat, einer Ostpreußin, wie sie im Buche steht. Und Minna nimmt die Bekanntschaft an, besucht die über Achtzigjährige, hört ihre Geschichte, steht ihr bei, als ein Schlaganfall sie trifft, ist für sie da, wie eine Tochter. "Ich bin ... in ihr Leben getreten" - sie lernt buchstäblich, was das heißt.
Und auf einmal füllt sich der Alltag rundum mit Leben. Der iranische Nachhilfeschüler ruft Neugier und Anteilnahme wach und wird zur Person. Am wichtigsten natürlich: Heinrich, ein neuer Liebhaber, erscheint, diesmal der richtige. "Von allen Maßnahmen die schönste", sagt sie, als sie die Arme um ihn legt. Und wo bislang nichts als Labilität war, ist auf einmal alles "im Lot". Endlich Wärme, nachdem sie einundfünfzig Jahre gefroren hat.
Dagegen kommt die schwarze Galle nicht mehr an. Und Glück wirkt offenbar ansteckend, es breitet sich aus, erfasst den ganzen kleinen Lebenskreis Minnas. Die traurigen Solitäre werden zu einer Art Familie, die zusammen kocht, Mahlzeiten einnimmt, Ausflüge macht - bis hin zu einer Bahnfahrt nach Salzburg, die wie ein Opernfinale alle Figuren versammelt. Wo sonst Gram war, kehrt eine neue Überschwänglichkeit ein. "Lebensentzücktheit": Was für ein freundliches Wort, das sich da zuletzt im Gesicht der alten Ostpreußin spiegelt. Literarischer Takt sorgt freilich dafür, dass sich in das Ende kräftige Molltöne mischen.
Wie Dagmar Leupold das macht, wie ihr Roman sich "unter der Hand" aufhellt und die schwarze Misere hinter sich lässt, das hat Geschmack und Stil. Routiniertes Romangeplapper gibt es bei ihr nicht. Auch braucht sie nichts Grelles, Wildes, Extremes, um sich Gehör zu verschaffen. Wache und wortgewitzte Aufmerksamkeit für das Alltägliche rundum, das ist das Pfund, mit dem sie wuchert. Kammermusik in Romanform. Aus einem schönen Essay weiß man, dass ihr bei den Nöten des Schreibens Musik beisteht. Man möchte annehmen, dass es diesmal Haydn gewesen ist.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Dagmar Leupold: "Unter der Hand". Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2013. 289 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Konstruktion, literarisch so alt wie Laurence Sterne, bringt ein paar Schwierigkeiten mit sich. Wie versteckt man die Arbeit an einem Roman in diesem selbst? Die Existenz eines Manuskripts wird nie so recht deutlich, natürlich auch nicht der Schreibvorgang. Nichts also von der Schriftstellerexistenz und ihren Mühen. Stattdessen erleben wir einen kargen Elfenbeinturm in einem städtischen Nirgendwo, das zufälligerweise München heißt, wenige ungeregelte Tätigkeiten - "ich bewirke nichts, ich arbeite nur" -, eigentlich nur ein paar Nachhilfestunden, Wohnungsaufsichten, Korrekturlesen und ein beängstigend zartes Lebensgewebe, das aus kaum einer Handvoll Personen besteht.
"Die Gier nach Stoff" - das ist ein vielsagender Seufzer. Dagmar Leupold hat ihn ihrem Kleist in den Mund gelegt, den sie in einer Art Totengespräch mit Ulrike Meinhof verwickelt. Der gleichwohl monologische Roman, in dem dies geschieht ("Die Helligkeit der Nacht", 2009), greift nach repräsentativen Figuren aus Vergangenheit und Gegenwart, doch sie bleiben Sprachrohre eigener Befindlichkeiten. Ein anderer Versuch, sich fremde, opake Wirklichkeit zu eigen zu machen, war Leupolds Roman über ihren Vater im Krieg ("Nach den Kriegen", 2004). Doch die Sättigung mit Realität, Merkmal des klassischen Romans, will nicht recht gelingen. Die Erfahrungen des eigenen Ich bleiben das schmale Reservoir, aus dem diese Autorin schöpft, die nicht von ungefähr auch als Lyrikerin hervorgetreten ist. Umso heikler der "Zweifel an der Biographie", den einer ihrer wohltuend klaren Essays behandelt, der Zweifel an der "Geschichtshaltigkeit" des literarischen Subjekts, dem, so scheint es, jede platte Fernsehgröße den Rang abläuft. "Ich glaube an Begabung, und ich glaube an Zeitgenossenschaft", hält sie fast trotzig dagegen.
Minna gehört zur Familie der Melancholiker - damit ist für ihre Begabung gesorgt. "Durch mich läuft ein Schwarz wie Tinte", sagt sie, und sie weiß, dass sich mit dieser Tinte gut schreiben lässt (bevor es den PC gab). Mit gläserner Haut sei sie zur Welt gekommen, zerbrechlich und durchsichtig - auch dieser kapriziöse Wahn gehört zur Symptomatik der Melancholie. Sie liebt Wortspiele, die "Zungenfertigkeit der Worte", besonders solche mit dem Wort "Schwarz": sie sei in die schwarze Grube gefahren, sie verrichte Schwarzarbeit, sie fährt nach Schwarzort. Aber sie weiß auch, dass sich "Schwarzgalligkeit" kurieren lässt. Minnas Manuskript ist eine solche Kur.
Es beginnt nach einem ersten Suizidversuch in einer toskanischen Reha und mit einem merkwürdigen italienischen Mäzen. Vico heißt er, verdient viel Geld mit Abfallwiederverwertung und besticht durch einen zusätzlichen Zahn, einen "Löwenzahn". Er möchte Minna zu einer "Glücksmissionarin" machen, aber wie? Wieder zu Hause, erlebt sie das Übliche. "Auf dem Küchentisch vor mir die vertrauten Gegenstände ..." Fernsehen und Wein. Der Liebhaber Franz, den sie beim Neurologen kennengelernt hat. Minna und ihr Körper "eine einzige Vermisstenanzeige", ohne Wärme, Leidenschaft, Zärtlichkeit und Frohsinn. Das alte Lied kann also wieder beginnen? "Immerhin kein Geld ausgegeben heute und niemanden gekränkt", sagt sie nach einem solchen Tag.
Und doch ist etwas geschehen, das ihr Leben in eine andere Richtung lenkt - leise, unspektakulär, zufällig. "Unter der Hand" nennt der Romantitel das, Minna will von Zufall nichts wissen, sie selbst sei der "Agent", aber Genaueres weiß auch sie nicht. Sie ist Lotte Schuchardt begegnet, an einer Bushaltestelle, einer älteren Frau, die sie schon häufig gesehen hat, einer Ostpreußin, wie sie im Buche steht. Und Minna nimmt die Bekanntschaft an, besucht die über Achtzigjährige, hört ihre Geschichte, steht ihr bei, als ein Schlaganfall sie trifft, ist für sie da, wie eine Tochter. "Ich bin ... in ihr Leben getreten" - sie lernt buchstäblich, was das heißt.
Und auf einmal füllt sich der Alltag rundum mit Leben. Der iranische Nachhilfeschüler ruft Neugier und Anteilnahme wach und wird zur Person. Am wichtigsten natürlich: Heinrich, ein neuer Liebhaber, erscheint, diesmal der richtige. "Von allen Maßnahmen die schönste", sagt sie, als sie die Arme um ihn legt. Und wo bislang nichts als Labilität war, ist auf einmal alles "im Lot". Endlich Wärme, nachdem sie einundfünfzig Jahre gefroren hat.
Dagegen kommt die schwarze Galle nicht mehr an. Und Glück wirkt offenbar ansteckend, es breitet sich aus, erfasst den ganzen kleinen Lebenskreis Minnas. Die traurigen Solitäre werden zu einer Art Familie, die zusammen kocht, Mahlzeiten einnimmt, Ausflüge macht - bis hin zu einer Bahnfahrt nach Salzburg, die wie ein Opernfinale alle Figuren versammelt. Wo sonst Gram war, kehrt eine neue Überschwänglichkeit ein. "Lebensentzücktheit": Was für ein freundliches Wort, das sich da zuletzt im Gesicht der alten Ostpreußin spiegelt. Literarischer Takt sorgt freilich dafür, dass sich in das Ende kräftige Molltöne mischen.
Wie Dagmar Leupold das macht, wie ihr Roman sich "unter der Hand" aufhellt und die schwarze Misere hinter sich lässt, das hat Geschmack und Stil. Routiniertes Romangeplapper gibt es bei ihr nicht. Auch braucht sie nichts Grelles, Wildes, Extremes, um sich Gehör zu verschaffen. Wache und wortgewitzte Aufmerksamkeit für das Alltägliche rundum, das ist das Pfund, mit dem sie wuchert. Kammermusik in Romanform. Aus einem schönen Essay weiß man, dass ihr bei den Nöten des Schreibens Musik beisteht. Man möchte annehmen, dass es diesmal Haydn gewesen ist.
HANS-JÜRGEN SCHINGS
Dagmar Leupold: "Unter der Hand". Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2013. 289 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit Dagmar Leupolds neuem Roman "Unter der Hand" hat Rezensentin Kristina Maidt-Zinke eine hübsche Erzählung gelesen, an der sie nur ein klein wenig zu bemängeln hat. Erzählt wird die Geschichte der einsamen, durchaus amüsanten fünfzigjährigen Minna, die sich als Nachhilfelehrerin in München durchschlägt und ihr Single-Dasein mit gelegentlichen Treffen mit dem Physiotherapeuten Frank und dessen Programm "Massage, Essen, Beischlaf" unterbricht. Die überraschende Wendung tritt nach einem Suizidversuch und dem darauffolgenden Sanatoriums-Aufenthalt in der Toskana ein, wo Minna einem Mäzen begegnet, der hier finanzielle Unterstützung für ihre Schriftsteller-Existenz bietet, wenn sie im Gegenzug anderen Menschen Freude bringt. Ein anrührender und sensibler Roman von "leiser Abgründigkeit", urteilt die Kritikerin, die sich allerdings gewünscht hätte, dass Leupold bisweilen etwas poetischer und weniger "geistreich" formuliert hätte.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Mensch, Dagmar
Mit einem Zitat aus «Tristram Shandy» von Laurence Sterne wird dieser moderne, aber auch melancholische Schelmenroman wunderbar stimmig eingeleitet. Und es wird auch gleich dramatisch: Minna liegt tot auf dem Bett, als ihr Nachbar sie findet, wie hindrapiert, an …
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Mensch, Dagmar
Mit einem Zitat aus «Tristram Shandy» von Laurence Sterne wird dieser moderne, aber auch melancholische Schelmenroman wunderbar stimmig eingeleitet. Und es wird auch gleich dramatisch: Minna liegt tot auf dem Bett, als ihr Nachbar sie findet, wie hindrapiert, an Dornröschen erinnernd. Neben ihr ein Manuskript, in Leder eingeschlagen. Er beginnt zu lesen … und taucht dann erst im letzten Kapitel wieder auf, er bildet quasi eine Klammer um das Ganze. Denn was wir da eigentlich lesen, so will es Dagmar Leupold, ist genau dieser nachgelassene Text, dessen Entstehung märchenhafte Züge trägt, ein von der Autorin kunstvoll eingesetztes Stilelement, auch wenn ihre Protagonisten der Jetztzeit entstammen und ein glücklicher Ausgang nicht recht passen würde dazu. Aber man wird doch noch träumen dürfen!
Während der Reha nach einem Zusammenbruch, der medizinisch unbenannt bleibt, trifft die an Melancholie leidende Minna, Single-Frau um die fünfzig, in der arkadischen Landschaft der Toskana auf Vico, einen mit dem Recycling von Abfall erfolgreichen, so gar nicht mafiosen Unternehmer, der ihr gleichwohl diskret dicke Geldumschläge zuschiebt, damit sie sich zu Hause schriftstellerisch betätigen kann, als Nachkur gewissermaßen. Ein eigenwilliges Mäzenatentum, der Italiener will nämlich sein reichlich vorhandenes Geld wenigstens zum Teil selbstlos einsetzen, um Freude zu stiften. Er hofft, dieses Glück möge sich dann auch weiter übertragen auf andere, und ihre Erfahrungen in diesem Prozess solle Minna aufschreiben. So beginnt eine turbulente Geschichte, mit viel Wortwitz ebenso zielstrebig wie kurzweilig und nachdenklich erzählt.
Kaum zurück in München, ihrer Wahlheimat, trifft Minna, die sich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten durchschlägt, auf Lotte, eine rüstige ältere Dame über achtzig, mit der sie schon bald eine liebevolle Freundschaft verbindet, ein unerhofftes Glück für die zurückgezogen lebende betagte Frau, die aus Schlesien stammt. Nach und nach erweitert sich Minnas dürftiges Beziehungsnetz, wir lernen ihren Liebhaber Franz kennen, dann zwei halbwüchsige Nachhilfeschüler und den ehemaligen Lehrer Heinrich, der sich als ihr Froschkönig erweist, wie aus dem grimmschen Märchen entsprungen, ihre wahre Liebe. Und ihr Glück wirkt in der Tat ansteckend, ihr kleiner Lebenskreis blüht auf, man findet fast familiär zueinander.
Die lakonischen Reflexionen einer erwachsenen Frau, die als Frühgeburt auf die Welt kam, ein Mängelexemplar nach eigenem Bekunden, zeigen die Ich-Erzählerin als gleichermaßen witzige wie scharfe Beobachterin des alltäglichen Wahnsinns um sie herum. Jeder bekommt da sein Fett ab in deren Gesellschaftskritik, ob das nun die treffsicher aufs Korn genommene Schickeria Münchens ist oder die wunderliche Fahrradgruppe in der Toskana. Der Schwung der Handlung flaut ganz zum Schluss hin leider etwas ab, es wird deutlich konventioneller erzählt, auch der Ausgang der Geschichte kann mich nicht wirklich überzeugen. Gleichwohl, alles was wir lesen in diesem Roman ist pointiert und geistreich formuliert, unterhaltsam, spannend, lebensklug, oft auch ironisch, manchmal gar zynisch. Die Figuren wirken allesamt sympathisch, trotz aller Melancholie gibt es komische Situationen und immer wieder amüsante Dialoge zwischen ihnen. Minna wirkt erstaunlich stark mittendrin, burschikos wie sie ist, es macht einfach Spaß, ihr als Leser durch diesen intelligenten Plot zu folgen. Und so flüstert sie einmal, ganz nonchalant, ihrem Franz beim Liebesakt zufrieden ins Ohr: «Mensch, Franz»!
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