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Dieses Buch gibt in 24 Studien einen umfassenden Überlick über Helmholtz' Arbeit und zeigt seine Bedeutung für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Produktbeschreibung
Dieses Buch gibt in 24 Studien einen umfassenden Überlick über Helmholtz' Arbeit und zeigt seine Bedeutung für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.1995

Der Reichskanzler der Physik
Hermann von Helmholtz vor den Augen der staunenden Nachwelt

"Übrigens geht es mir gut", schrieb der junge Militärarzt Hermann Helmholtz im April 1847 an seinen Freund Emil du Bois-Reymond. "Ich harre gegenwärtig schon ungeduldig auf Frühling und Frösche." Was Helmholtz erwartungsvoll stimmte, war freilich nicht der Gedanke an romantische oder kulinarische Genüsse, sondern die Aussicht auf präparierte Froschmuskeln. Frösche, "die alten Märtyrer der Wissenschaft", trugen nämlich einen beträchtlichen Teil der Beweislast bei der Begründung der kinetischen Wärmetheorie, die wiederum für Helmholtz eine wichtige Etappe bei der Aufstellung seines Satzes von der Erhaltung der Energie bildete. Sitzend zur Rechten der Dampfmaschine, ist der Frosch das Wappentier jenes physikalischen Forschungsprogramms, das die Natur in einem nicht nur metaphorischen Sinne als arbeitende Maschine entwarf.

Das Gründungsmanifest dieser Naturauffassung, Helmholtz' Vortrag über "Die Erhaltung der Kraft", markiert den Beginn einer ungemein fruchtbaren Forschertätigkeit, die sich über fünfzig Lebensjahre erstreckte, sieben Disziplinen umspannte und in dreihundert wissenschaftlichen Publikationen ihren Niederschlag fand. Wohl keinen anderen Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts, vielleicht mit Ausnahme Alexander von Humboldts, könnte man heute noch ohne Scheu als "Universalgenie" bezeichnen, wie es im Titel eines Sammelbandes geschieht, der sich im "Rückblick nach hundert Jahren" - Helmholtz starb am 8. September 1894 - mit dem Werk des Gelehrten beschäftigt.

Neben den historisch-soziologischen Beiträgen, die seine akademische Karriere von ihren Anfängen bis zu jener überragenden Stellung verfolgen, die Helmholtz als "Reichskanzler der Physik" im wilhelminischen Deutschland einnahm, stehen zwei Themenkreise im Vordergrund: historische Untersuchungen über Helmholtz' mechanistische Grundlegung der Naturwissenschaft; und philosophisch orientierte Analysen über seine erkenntnistheoretische Position.

Wie man weiß, meinte Helmholtz, es sei "das Endziel der Naturwissenschaft, sich in Mechanik aufzulösen". Auf diese Weise gelange man zu Gesetzen von unbedingter Gültigkeit. Die Natur begreifen heiße, das mathematisch formulierte Kausalgesetz ihrer Erscheinungen zu finden. Die Unterscheidung zwischen der experimentellen Feststellung empirischer Regelmäßigkeiten auf der Ebene der bloßen Erscheinungen und einer dahinter liegenden Ebene der objektiven Erklärung, die nur Materie und Kraft kennt, führt Helmholtz zu einer metaphysisch aufgeladenen Deutung der Grundlagen der Naturwissenschaft. Das Kausalgesetz ist die Ursache der Erscheinungen - "Ursache" als dauerhafte, beständige Realität verstanden. Das Kausalgesetz garantiert nicht nur objektive Erkenntnis, es ist selbst objektive Realität. Und in einem kühnen Kurzschluß zwischen epistemologischer und ontologischer Ebene riskiert Helmholtz die Formulierung, das Gesetz als dasjenige, was sich der Willkür unseres Willens entzieht, sei die Kraft.

Kant oder Fichte?

Über die Frage, wie eine solche Begründung des mechanistischen Programms philosophisch zu etikettieren wäre, sind sich die Autoren des Bandes uneinig. Helmholtz selbst hatte sich eine kantianisierende Deutung gegeben. Während Gregor Schiemann die metaphysische Tragweite der Helmholtzschen Erkenntnistheorie offenbar unterschätzt, fühlen sich Lorenz Krüger und Ulrich Röseberg an die rationalistische Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts erinnert, Michael Heidelberger dagegen eher an Fichte, insofern hier wie dort das erkennende Ich außerhalb des naturgesetzlichen Determinismus steht und sein anderes (etwa ein Experiment) als eigene Setzung einsehen kann.

Unter den wissenschaftshistorischen Beiträgen des Bandes verdient der Aufsatz von Robert M. Brain und M. Norton Wise besondere Beachtung, weil er der methodisch avancierteste ist. Die Autoren wollen zeigen, daß in die spezifisch Helmholtzsche Fassung des Energieerhaltungssatzes die Ressourcen einer lokalen Wissenskultur eingegangen sind, die sich einerseits durch ein wissenschaftspolitisch motiviertes Interesse an der Offenheit von Disziplinengrenzen, andererseits durch Amalgamierung theoretischer und technischer Aspekte in der Begriffsbildung auszeichnet.

Zum einen war Helmholtz kein Physiker, sondern ein knapp sechsundzwanzigjähriger "Escadronchirurgus", als er im Juli 1847 vor der Berliner Physikalischen Gesellschaft - die in beträchtlichem Maße nicht aus Physikern, sondern Physiologen, Chemikern, Ingenieuren, Leutnants und "Mechanikern" bestand - einen physikalischen Vortrag hielt, der als Gründungsurkunde eines fast fünfzig Jahre lang erfolgreichen physikalischen Forschungsprogramms gelten sollte. Zum anderen war das Mißtrauen, das die Vertreter der etablierten Physik dem Helmholtzschen Erhaltungssatz gegenüber zeigten, nicht ganz unverständlich, nur zielte es in die falsche Richtung: Nicht das Wiederaufleben romantisch-naturphilosophischer "Prinzipien" war zu gewärtigen, sondern das Eingehen einer spezifischen Technologie in die allgemeinsten Sätze der "reinen" Wissenschaft.

Helmholtz formulierte sein Konstanzprinzip unter Rückgriff auf die Theorie von Carnot und Clapeyron, die die thermodynamischen Verhältnisse im Zylinder einer idealisierten Dampfmaschine als Kreisprozeß beschrieb. Brain und Wise zufolge schlug Helmholtz damit eine Strategie ein, die die Grenzen zwischen der rationalen Mechanik und einer "Maschinenlehre" verwischte. In den begrifflichen Kern seiner physikalischen Theorie hatte sich bereits eine bestimmte Technologie eingenistet - weshalb sich diese Theorie denn auch unmittelbar wieder in experimentelle Anordnungen und technische Konstrukte übersetzen ließ.

Muskulöse Dampfmaschine

Als eine solche Rückübersetzung begreifen die Autoren das Helmholtzsche "Myographion": Ein senkrecht aufgehängter Froschmuskel hebt, wenn er auf eine elektrische Reizung hin zusammenzuckt, ein kleines Gewicht, an dem eine Nadel befestigt ist, die auf eine rotierende Walze ein Diagramm schreibt. Die "Froschcurve" verzeichnet die Hubhöhe eines bestimmten Gewichts im Zeitverlauf - also die mechanische Arbeitsleistung des Muskels. Der Froschmuskel sanktioniert die Technologie der Dampfmaschine, bestätigt den Energieerhaltungssatz und erweist die lebendige Natur anschaulich als arbeitende Maschine. "Es ist ein Schauspiel für Götter", kommentiert du Bois-Reymond, "den Muskel arbeiten zu sehen wie den Zylinder einer Dampfmaschine."

Wie an diesem Beitrag abzulesen ist, hat sich der Blick der Wissenschaftshistoriker auf ihre Gegenstände in den letzten zwanzig Jahren gewandelt. Wenn sie den Energieerhaltungssatz untersuchen, dann nicht mehr aus der Makroperspektive der Frage, ob "die" Wissenschaftsgeschichte kontinuistisch oder sprunghaft, rational oder irrational verläuft. Sie interessieren sich eher detailverliebt für die intrikate Verzahnung begrifflicher Konstruktionen, lokaler Wissensmilieus, universitärer, administrativer und privatwirtschaftlicher Strukturen der Wissensorganisation.

Solche methodologischen Überlegungen sind der Helmholtz-Biographie des Physikers Helmut Rechenberg, die ebenfalls im letzten Jahr erschienen ist, fremd. Sie orientiert sich respektvoll-kritisch an der hagiographisch angelegten dreibändigen Lebensdarstellung Leo Koenigsbergers von 1902/03 und stellt sich die Aufgabe, unter Heranziehung zusätzlicher Quellen und zahlreicher Illustrationen, vor allem aber unter Berücksichtigung der Entwicklungen in der Physik des 20. Jahrhunderts, in dreiundvierzig kurzen Abschnitten "ein Mosaik des großen Gelehrten" zusammenzustellen. Das ist ihr zweifellos gelungen. Freilich bleibt die Frage, ob ein Mensch und seine Biographie der angemessene Leitfaden einer wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchung sein kann.

Genau betrachtet, erzählt Rechenberg auch gar nicht eine Geschichte - sondern zwei. Die erste ist eine chronologische Darstellung von Helmholtz' Forschungsergebnissen, wie sie in Briefen, Artikeln und Büchern dokumentiert sind. Die zweite Geschichte ist die Abfolge biographischer Episoden und Anekdoten. Sie erzählt von Schulzeit und Studium, Freundschaften und Ehen, Ortswechseln und Reisen. Beide Geschichten werden ständig ineinander montiert, in kurzen Kapiteln abwechselnd weiterverfolgt. Wie fremd "interne" und "externe" Faktoren einander dennoch bleiben, zeigt sich gerade dort, wo sie ineinander einzugreifen scheinen: In Bonn verzögert sich die Fertigstellung des bei der Berufung versprochenen Neubaus für Anatomie und Physiologie; "deshalb", schreibt Helmholtz, "habe ich mich hier auf mathematische Arbeiten geworfen". Das "Leben" ist eine fördernde oder störende, jedenfalls kontingente Randbedingung der "Wissenschaft". Kurz, Rechenbergs Biographie hat keinen anderen Mangel als den, daß sie eine Biographie ist. HORST BRÜHMANN

"Universalgenie Helmholtz". Rückblick nach 100 Jahren. Herausgegeben von Lorenz Krüger.Akademie Verlag, Berlin 1994. 422 S., geb., 74,- DM.

Helmut Rechenberg: "Hermann von Helmholtz". Bilder seines Lebens und Wirkens. VCH, Weinheim 1994. 335 S., Abb., geb., 88,- DM.

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