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Im Verfassungsrecht besteht eine Kluft zwischen geschriebenem und angewandtem Recht. Heinrich Amadeus Wolff untersucht die Hintergründe und versucht, Realität und Theorie zusammenzuführen.
Gegenwärtig besteht im Verfassungsrecht eine Kluft zwischen dem geschriebenen Recht und dem Recht, das tatsächlich zur Anwendung kommt. Die Praxis arbeitet mit einer Reihe von ungeschriebenen Verfassungsrechtssätzen, obwohl die dogmatischen Grundlagen ungeklärt sind. Die Staatsrechtswissenschaft ignoriert weitgehend diese Sachlage. Nach dem von ihr überwiegend vertretenen System dürfte es diese…mehr

Produktbeschreibung
Im Verfassungsrecht besteht eine Kluft zwischen geschriebenem und angewandtem Recht. Heinrich Amadeus Wolff untersucht die Hintergründe und versucht, Realität und Theorie zusammenzuführen.

Gegenwärtig besteht im Verfassungsrecht eine Kluft zwischen dem geschriebenen Recht und dem Recht, das tatsächlich zur Anwendung kommt. Die Praxis arbeitet mit einer Reihe von ungeschriebenen Verfassungsrechtssätzen, obwohl die dogmatischen Grundlagen ungeklärt sind. Die Staatsrechtswissenschaft ignoriert weitgehend diese Sachlage. Nach dem von ihr überwiegend vertretenen System dürfte es diese Rechtssätze nicht geben.Heinrich Amadeus Wolff untersucht den Unterschied zwischen Theorie (Verfassungsurkunde) und Praxis (gegenwärtiges Verfassungsrecht). Dazu erörtert er den Unterschied zwischen Verfassungsrecht, Naturrecht und dem einfachen Recht und macht deutlich, wie Rechtsinterpretationen vom geschriebenen Recht abweichen. Abschließend versucht er, Realität und Theorie zusammenzuführen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2000

Unfaßliches Verfassungsrecht
Was unter oder über dem Grundgesetz sehr schwer zu finden ist . . .

Heinrich Amadeus Wolff: Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz. J. C. B. Mohr Siebeck, Tübingen 2000. 526 Seiten, 228,- Mark.

Was ist das "ungeschriebene Verfassungsrecht"? Das weiß niemand so recht zu sagen - und das wird Gründe haben. Der letztlich entscheidende Grund könnte sein, daß das ungeschriebene Verfassungsrecht gar nicht existiert, sowenig wie ein ungeschriebenes Testament. Die Verfasser des BGB haben für das Testament nicht grundlos Schriftform gefordert.

In puncto ungeschriebenes Verfassungsrecht besteht Aufklärungsbedarf. Da ist noch viel zu tun. Ausgezeichnete Vorarbeit leistet Heinrich Amadeus Wolff. Er hat den überbordenden Stoff überaus gründlich und übersichtlich aufbereitet. Der Titel des Werkes zeigt an, wo es gefunden werden soll: "unter dem Grundgesetz". Doch wenn schon, dann suchte man es wohl eher "darüber". Eine Raummetapher, die Naturrecht annonciert.

Tatsächlich dominierte das Naturrecht die Auseinandersetzungen der deutschen Staatsrechtslehrer auf ihrer zehnten Tagung im Jahre 1951. Sie markiert einen Schwerpunkt im bisherigen Verlauf der Debatte. Die Tagung fiel in eine besondere Zeit. Es war die Zeit der Renaissance des Naturrechts in Westdeutschland, eines christlichen Naturrechts. Es hat gute Entscheidungen beschert, die auch ohne Rückgriff auf die göttliche Schöpfungsordnung rechtlich gut begründbar gewesen wären.

Der Autor berichtet über die Tagung von 1951 unter der treffenden Überschrift "Die Belastung durch das Naturrecht". Die seinerzeit in Göttingen vereinigten Dogmatiker haben sich dieser Last nicht entledigt. Sie wurde und wird weitergeschleppt. Aber jeder muß stutzig werden, wenn er liest, was der renommierte Staatsrechtslehrer Ernst von Hippel in einem Grundsatzreferat schrieb: "Die positive und sichtbare Verfassung schwimmt gleichsam im Meer des Unsichtbaren, Ungeschriebenen, zu dem sie eben als Rechtsverfassung gehört." Sollte es vielleicht daran liegen, daß ungeschriebenes Verfassungsrecht so schwer zu fassen ist? Immerhin: Daß es überhaupt "ist", daran glauben viele Verfassungsjuristen heute noch genauso wie 1951.

Die anhaltende Aktualität der Frage eines unsichtbaren Rechts unter oder über der Verfassung belegt nach Wolffs Ansicht der sogenannte Honecker-Beschluß des Berliner Verfassungsgerichtshofes vom 12. Januar 1993, der zu Recht ein lebhaftes Echo fand. Wer das verfolgt, findet dabei - vielleicht wie Wolff - "ohne Mühe . . . eine erhebliche Anzahl von Belegen, die auf das Bestehen ungeschriebenen Verfassungsrechts hinweisen". Die Berliner Richter waren jedenfalls fest davon überzeugt. Und so war es aus ihrer "Sicht" verständlich, wenngleich keineswegs erforderlich, daß sie die "Menschenwürdegarantie als Bestandteil der Berliner Verfassung" auch mit dem Hinweis auf ungeschriebenes Verfassungsrecht belegten.

Die von Wolff ausgewertete Literatur greift allerdings zeitlich und thematisch weit über den genannten Beschluß hinaus. Danach soll es "ungeschriebenes Verfassungsrecht" geben: "Und seine Existenz ist grundsätzlich auch notwendig." Wofür eigentlich? Zumal der Beweis für ebendiese Existenz bis heute nicht geführt worden ist.

Wer sich herausgefordert sehen sollte, das Unbewiesene am Ende doch noch zu beweisen, sähe sich einer Schwierigkeit gegenüber, die Wolff bereits auf den ersten Seiten seiner Schrift exakt umschreibt. Er faßt dort das Ergebnis "einer der besten wissenschaftlichen Untersuchungen auf dem hier in Frage stehenden Gebiet" zusammen. Danach handelt es sich bei dem gesuchten Verfassungsrecht um ein "Konglomerat von rechtlich nicht vollständig greifbaren Fragen". Die listet er in einem Klammerzusatz auf: von der Ethik zur Soziologie, vom Naturrecht zur Machtordnung, Stabilität und Elastizität, Werte, Konventionen und Denkweisen. Mit einem Wort: Der ohnehin wirre Gegenstand des Beweises verliert sich vollends im Nebulösen.

Die von Wolff herangezogene Untersuchung des angesehenen Verfassungsrechtlers Hans Huber stammt allerdings von 1955. Möglicherweise hat sich ja inzwischen einiges zum Besseren gewendet. Das weiß der Leser spätestens nach der Lektüre des Wolffschen Werkes. Er wird ernüchtert sein, gleichwohl aber dem Autor für vieles äußerst dankbar sein. Dazu gehört nicht zuletzt dessen Offenheit: "Wird für eine rechtliche Begründung, gleich welcher Art, ein ungeschriebener Verfassungsrechtssatz herangezogen, müssen ,alle Alarmglocken läuten'. Der Begriff des ungeschriebenen Verfassungsrechts besitzt daher eine Warnfunktion." Richtig. Das Problem aber bleibt, wie es gelingen soll, die Alarmglocken zum Schweigen zu bringen.

Zum zeitweisen Verstummen leistet Wolff Beachtliches. Dazu zählt vor allem, daß es ihm gelingt, das ungeschriebene Verfassungsrecht zunächst einmal aus dem "Sog" des Naturrechts zu befreien. Der dadurch erzielte "Rationalitätsgewinn" ist aber noch steigerungsfähig - sofern man es nicht dabei bewenden läßt, den Begriff des ungeschriebenen Verfassungsrechts so einzuengen, daß er lediglich "eine gewisse Gruppe von geltenden Rechtssätzen unter sich versammelt", die nirgends schriftlich fixiert sind. Doch dieser Schönheitsfehler läßt sich ändern: durch einen "Denkprozeß", in dem jeweils eine bis dahin ungeschriebene Regelung aus einer oder mehreren geschriebenen abgeleitet wird, naturgemäß (!) mit der Folge, daß die abgeleitete Regelung nunmehr selbst zu den geschriebenen gehört.

Alles für diese Prozedur Nötige - außer dem eigenen Denken - findet man im Grundgesetz. Das ganze nennt man "Verfassungskonkretisierung". Die findet indessen nicht Wolffs Wohlwollen. Das muß auch nicht sein. Wichtig dagegen ist, daß der Verfasser die Juristische Methodenlehre keineswegs ausklammert. Sie ist in der Tat der Sitz der Lösung, die am überzeugendsten gelänge, wenn man den ewig unfruchtbaren Rechtsquellenstreit ein für allemal ad acta legte - und zwar zu Gunsten des Richterrechts. Konkreter: der Rechtserzeugung allein durch Rechtsprechung. Dann gäbe es "nur noch" Recht, das zuerst gesprochen und hernach aufgeschrieben wird. Die Zahl derer wächst, die wissen, daß es sich in Wahrheit schon heute so verhält.

WALTER GRASNICK

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Walter Grasnick lobt den Autor für seine "gründliche und übersichtliche" Aufbereitung des "überbordenden Stoffes", doch bleibt in seiner Besprechung spürbar, dass er eigentlich nicht so recht weiß, ob ungeschriebenes Verfassungsrecht überhaupt existiert und ob es notwendig ist. Als besonderes Verdienst rechnet er dem Autor an, dass er das christliche Naturrecht, auf dass sich Anhänger des ungeschriebenen Verfassungsrechts oft berufen, verabschiedet. Damit verschaffe Wolff der Sache einen "Rationalitätsgewinn". Es bleibt ein wenig unklar, was Wolff an die Stelle des Naturrechts setzen will, Grasnick hat dazu jedoch einen Vorschlag: das "Richterrecht. Konkreter: die Rechtserzeugung allein durch Rechtssprechung"

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