Patrick Modiano
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Unfall in der Nacht
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Nobelpreis für Literatur 2014»Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte. Zunächst glaubte ich, er habe mich gestreift, dann spürte ich einen stechenden Schmerz vom Knöchel bis hinauf ins Knie.« Leicht verletzt wird der Zwanzigjährige zusammen mit der Fahrerin des »wassergrünen Fiats« ins Krankenhaus gebracht. Während er von Äther betäubt in einen tiefen Schlaf fällt, verschwindet die Frau.'Unfall in der Nacht' erzählt von der Suche nach e...
Nobelpreis für Literatur 2014
»Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte. Zunächst glaubte ich, er habe mich gestreift, dann spürte ich einen stechenden Schmerz vom Knöchel bis hinauf ins Knie.« Leicht verletzt wird der Zwanzigjährige zusammen mit der Fahrerin des »wassergrünen Fiats« ins Krankenhaus gebracht. Während er von Äther betäubt in einen tiefen Schlaf fällt, verschwindet die Frau.
'Unfall in der Nacht' erzählt von der Suche nach einer verschwundenen Frau in den Pariser Straßen, Kneipen und Cafés der sechziger Jahre und zugleich von der Kindheit des Ich-Erzählers, dessen Vater eines Tages ebenfalls spurlos verschwand.
»Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte. Zunächst glaubte ich, er habe mich gestreift, dann spürte ich einen stechenden Schmerz vom Knöchel bis hinauf ins Knie.« Leicht verletzt wird der Zwanzigjährige zusammen mit der Fahrerin des »wassergrünen Fiats« ins Krankenhaus gebracht. Während er von Äther betäubt in einen tiefen Schlaf fällt, verschwindet die Frau.
'Unfall in der Nacht' erzählt von der Suche nach einer verschwundenen Frau in den Pariser Straßen, Kneipen und Cafés der sechziger Jahre und zugleich von der Kindheit des Ich-Erzählers, dessen Vater eines Tages ebenfalls spurlos verschwand.
Patrick Modiano, 1945 geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française und den Prix Goncourt. 2012 wurde ihm der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur verliehen und 2014 der Nobelpreis für Literatur.

©Catherine Hélie / Editions Gallimard
Produktdetails
- dtv Taschenbücher 14434
- Verlag: DTV
- Originaltitel: Accident Nocturne
- 1. Auflage
- Seitenzahl: 142
- Erscheinungstermin: 1. Dezember 2014
- Deutsch
- Abmessung: 190mm x 120mm x 17mm
- Gewicht: 161g
- ISBN-13: 9783423144346
- ISBN-10: 3423144343
- Artikelnr.: 41624433
Herstellerkennzeichnung
dtv Verlagsgesellschaft
Tumblingerstraße 21
80337 München
produktsicherheit@dtv.de
Auf der Suche nach der schönen Fahrerin des wassergrünen Fiat
Mit dem Aufzug ins Glück: Patrick Modianos eleganter Roman beschwört den Zauber der Pariser Topographie
Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte."
Das ist einer dieser typischen ersten Sätze von Patrick Modiano, denen man nicht entkommen kann, weil sie so nachdrücklich präsent sind. Mit dem Präsens hat diese Präsenz jedoch nichts zu tun. Denn Modianos Element ist der Äther, seine Bewegungsformen sind die Flucht, das Verschwinden und die Suche nach dem Verschwundenen, sein Tempus ist die Vergangenheit. So
Mit dem Aufzug ins Glück: Patrick Modianos eleganter Roman beschwört den Zauber der Pariser Topographie
Spät in der Nacht, vor sehr langer Zeit, kurz bevor ich volljährig wurde, da überquerte ich die Place des Pyramides in Richtung Concorde, als ein Wagen aus der Dunkelheit auftauchte."
Das ist einer dieser typischen ersten Sätze von Patrick Modiano, denen man nicht entkommen kann, weil sie so nachdrücklich präsent sind. Mit dem Präsens hat diese Präsenz jedoch nichts zu tun. Denn Modianos Element ist der Äther, seine Bewegungsformen sind die Flucht, das Verschwinden und die Suche nach dem Verschwundenen, sein Tempus ist die Vergangenheit. So
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auch im neuen Roman, wo der Erzähler von einem "wassergrünen Fiat" angefahren und danach zusammen mit der Fahrerin des Fiats ins Krankenhaus gebracht wird. Als er aus dem Ätherrausch wieder erwacht, ist diese Fahrerin verschwunden. Ihren Namen hat er allerdings erfahren: Jacqueline Beausergeant. Die Suche nach ihr bildet das Skelett des Buches. Man darf und sollte verraten, daß diese Suche erfolgreich ist, für Modiano ein ungewöhnlicher Fall. Die Suche nach der geheimnisvollen Unbekannten etwa in "Aus tiefstem Vergessen" bleibt erfolglos, und in den vorhergehenden Romanen oder im Erzähltriptychon "Unbekannte Frauen" ist das jeweilige Verschwinden endgültig. Insofern nimmt der neue Roman in Modianos Werk eine Sonderstellung ein.
Das Skelett des Buches ist allerdings nicht der Roman selber. Die Geschichte ist, wie immer bei diesem Autor, überaus spannend. Ebenfalls wie immer will man jedoch nicht vorrangig wissen, wie sie ausgeht. Vielmehr möchte man mit Modiano unterwegs sein. Man möchte etwas von den Menschen wissen, die durch seine Bücher im Wortsinn hindurchgehen und sich dann irgendwo im Nebel verlieren. Das ist nicht einfach, weil auch der Erzähler selber nicht viel von ihnen weiß. Das hört sich vertrackt nach pseudoavantgardistischen Erzähltheorien an, ist hier aber vor allem lebenspraktisch bedingt: Modianos Figuren sind gleichsam Durchreisende im Leben des Erzählers. Dr. Bouvière etwa, ein philosophischer Guru, der eine kleine Gruppe um sich geschart hat, zu der sich auch der Erzähler gesellt, taucht eines Tages zum Gruppentreffen mit blutunterlaufenen Augen auf, aber niemand fragt ihn, was geschehen ist. Zum Schluß bleibt ein kleines Pflaster auf der Wange übrig. "Es würde nie herauskommen, wer ihn verprügelt hatte. Er würde nicht auspacken. Selbst das blonde Mädchen, das jedesmal zu ihm in den Wagen stieg, würde es nicht erfahren, da war ich mir sicher. Die Menschen sterben mit ihren Geheimnissen."
Oder aber sie verschwinden eines Tages mit ihren Geheimnissen, wie Hélène Navachine, eine Musikerin, die ebenfalls die Gruppe von Dr. Bouvière besucht und mit der der Erzähler dann eine Affäre hat. Man geht in Hotelzimmer und trägt sich unter allerlei Phantasienamen und -adressen ein (wir befinden uns im Paris der frühen und mittleren sechziger Jahre, jener Zeit, in der fast alle Bücher Modianos spielen). Dann fährt Hélène Navachine nach London und kommt nie zurück.
"Meine einzigen guten Erinnerungen bis zum heutigen Tag waren Fluchterinnerungen", heißt es in einem früheren Roman Modianos, und ein paar Seiten später erwähnt er "jene vertraute Trunkenheit, die ich jedesmal in mir aufsteigen fühlte, wenn ich die Flucht ergriff". Von dieser Trunkenheit ist auch im neuen Roman viel zu spüren. Zugleich aber ist eine Gegenbewegung zu registrieren. Dieser Erzähler möchte im eigenen Leben nicht mehr nur ein Durchreisender sein: "Das Vergessen frißt mit der Zeit ganze Abschnitte unseres Lebens auf und manchmal winzige Verbindungsstücke. Und bei diesem alten Streifen ruft der Schimmelpilz auf dem Film Zeitsprünge hervor und läßt uns glauben, zwei Ereignisse, zwischen denen Monate lagen, hätten am selben Tag oder sogar gleichzeitig stattgefunden. Wie soll man auch nur die mindeste Chronologie herstellen, wenn man diese verstümmelten Bilder vorbeiziehen sieht . . ."
Gegen die verstümmelten Bilder kämpft der Erzähler an. Im Zuge seiner Suche nach der unbekannten Fahrerin des wassergrünen Fiats glaubt er, plötzlich einen vergessenen Zipfel seiner Kindheit erwischen zu können, die er bis dahin bewußt hatte vergessen wollen. Die Geschichte vom Vater, einer Mischung aus Schieber und Hochstapler, der eines Tages spurlos verschwindet, zieht sich als traumatisches Motiv durch Modianos Werk. Hier nun will der Erzähler sich und anderen beweisen, daß es ihn gibt. "Ich bin aufgestanden und habe aus dem obersten Fach des Wandschranks die dunkelblaue Pappschachtel heruntergeholt, in der ich die ganzen alten Papiere gesammelt hatte, die später einmal meinen kurzen Aufenthalt auf Erden beweisen würden."
Dieser Anstrengung dient nicht nur der Rekurs auf das unwiderruflich Vergangene, sondern vor allem die Topographie. Modiano, ein Schriftsteller, dessen ganzes Werk der Suche nach der verlorenen Zeit gilt, ist besessen von topographischen Angaben und von Ortsnamen. Man sollte diesen Roman mit dem "Paris Pratique" in Reichweite lesen. Er wimmelt von Ortsangaben, und er beschwört die Magie von Orts-, Straßen-, Hotel-, Restaurant- und Personennamen in einer Weise herauf, die unmittelbar an Proust denken läßt. In der "Recherche" ist der letzte Teil des ersten Bandes überschrieben: "Ortsnamen. Namen überhaupt". Das könnte über Modianos gesamtem bisherigen Werk stehen. Dieser Autor glaubt an den Zauber von Namen, wie etwa Fossombronne-la-Forêt, und nennt sie wieder und wieder, Beschwörungsformeln gleich. Als er die Fahrerin des Fiats endlich findet, mit dem Rücken zu ihm in der Bar eines Restaurants sitzend, legt er ihr die Hand auf die Schultern und nennt als erstes ihren Namen.
In dieser Schlußsequenz geschieht dann etwas für Modiano sehr Ungewöhnliches. Bisher diente die Eleganz, ja Schwerelosigkeit seiner Sätze und seines Erzählens dazu, die Trauer über das Vergangene, das Verlorene oder das schon immer Entbehrte nur um so eindringlicher zu machen. Zwischen Modianos Helden und der Welt hat es bei aller überscharfen Wahrnehmungsfähigkeit stets einen Schleier gegeben, den sie nicht zerreißen konnten. Immer sind sie eingesponnen gewesen in einen Kokon, waren Unzugehörige, nicht in Hinsicht auf irgendeine Gruppe oder Gemeinschaft, sondern auf die Welt selber.
Nun aber, als der Erzähler und Jacqueline Beausergeant das Restaurant verlassen, heißt es wörtlich: "Auf der Straße war ein Schleier zerrissen." Was danach auf den letzten Seiten folgt, ist ein zartes Bild des Glücks - zukünftigen, nicht vergangenen Glücks -, wie wir es bisher aus Modianos Büchern nicht kennen. Das bleibt zunächst Versprechen, und das Buch endet mit dem Augenblick, in dem die beiden im Fahrstuhl zur Wohnung hochfahren, die Jacqueline Beausergeant derzeit für den eigentlichen Bewohner hütet. Dort kommt die Geschichte allerdings nicht mehr an. Sie endet mit dem Verlöschen der Treppenhausbeleuchtung, während der Fahrstuhl langsam nach oben gleitet. Das Ende bleibt wie immer offen.
Modiano ist ein Schriftsteller von hohem Wiedererkennungswert. Das sollte niemanden zum Glauben verleiten, ihn schon zu kennen oder gar zu meinen, er schreibe immer dasselbe Buch. Längst hat er ein eigenes Universum geschaffen, wie es nur wirklich großen Autoren gelingt, eine überaus brüchige Welt voller Verluste, aber auch mancher kostbarer Momente des Glücks. Dieses Glück teilt sich auch dem Leser durch alle Trauer hindurch mit.
Patrick Modiano: "Unfall in der Nacht". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisbaeth Edl. Hanser Verlag, München 2006. 143 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Skelett des Buches ist allerdings nicht der Roman selber. Die Geschichte ist, wie immer bei diesem Autor, überaus spannend. Ebenfalls wie immer will man jedoch nicht vorrangig wissen, wie sie ausgeht. Vielmehr möchte man mit Modiano unterwegs sein. Man möchte etwas von den Menschen wissen, die durch seine Bücher im Wortsinn hindurchgehen und sich dann irgendwo im Nebel verlieren. Das ist nicht einfach, weil auch der Erzähler selber nicht viel von ihnen weiß. Das hört sich vertrackt nach pseudoavantgardistischen Erzähltheorien an, ist hier aber vor allem lebenspraktisch bedingt: Modianos Figuren sind gleichsam Durchreisende im Leben des Erzählers. Dr. Bouvière etwa, ein philosophischer Guru, der eine kleine Gruppe um sich geschart hat, zu der sich auch der Erzähler gesellt, taucht eines Tages zum Gruppentreffen mit blutunterlaufenen Augen auf, aber niemand fragt ihn, was geschehen ist. Zum Schluß bleibt ein kleines Pflaster auf der Wange übrig. "Es würde nie herauskommen, wer ihn verprügelt hatte. Er würde nicht auspacken. Selbst das blonde Mädchen, das jedesmal zu ihm in den Wagen stieg, würde es nicht erfahren, da war ich mir sicher. Die Menschen sterben mit ihren Geheimnissen."
Oder aber sie verschwinden eines Tages mit ihren Geheimnissen, wie Hélène Navachine, eine Musikerin, die ebenfalls die Gruppe von Dr. Bouvière besucht und mit der der Erzähler dann eine Affäre hat. Man geht in Hotelzimmer und trägt sich unter allerlei Phantasienamen und -adressen ein (wir befinden uns im Paris der frühen und mittleren sechziger Jahre, jener Zeit, in der fast alle Bücher Modianos spielen). Dann fährt Hélène Navachine nach London und kommt nie zurück.
"Meine einzigen guten Erinnerungen bis zum heutigen Tag waren Fluchterinnerungen", heißt es in einem früheren Roman Modianos, und ein paar Seiten später erwähnt er "jene vertraute Trunkenheit, die ich jedesmal in mir aufsteigen fühlte, wenn ich die Flucht ergriff". Von dieser Trunkenheit ist auch im neuen Roman viel zu spüren. Zugleich aber ist eine Gegenbewegung zu registrieren. Dieser Erzähler möchte im eigenen Leben nicht mehr nur ein Durchreisender sein: "Das Vergessen frißt mit der Zeit ganze Abschnitte unseres Lebens auf und manchmal winzige Verbindungsstücke. Und bei diesem alten Streifen ruft der Schimmelpilz auf dem Film Zeitsprünge hervor und läßt uns glauben, zwei Ereignisse, zwischen denen Monate lagen, hätten am selben Tag oder sogar gleichzeitig stattgefunden. Wie soll man auch nur die mindeste Chronologie herstellen, wenn man diese verstümmelten Bilder vorbeiziehen sieht . . ."
Gegen die verstümmelten Bilder kämpft der Erzähler an. Im Zuge seiner Suche nach der unbekannten Fahrerin des wassergrünen Fiats glaubt er, plötzlich einen vergessenen Zipfel seiner Kindheit erwischen zu können, die er bis dahin bewußt hatte vergessen wollen. Die Geschichte vom Vater, einer Mischung aus Schieber und Hochstapler, der eines Tages spurlos verschwindet, zieht sich als traumatisches Motiv durch Modianos Werk. Hier nun will der Erzähler sich und anderen beweisen, daß es ihn gibt. "Ich bin aufgestanden und habe aus dem obersten Fach des Wandschranks die dunkelblaue Pappschachtel heruntergeholt, in der ich die ganzen alten Papiere gesammelt hatte, die später einmal meinen kurzen Aufenthalt auf Erden beweisen würden."
Dieser Anstrengung dient nicht nur der Rekurs auf das unwiderruflich Vergangene, sondern vor allem die Topographie. Modiano, ein Schriftsteller, dessen ganzes Werk der Suche nach der verlorenen Zeit gilt, ist besessen von topographischen Angaben und von Ortsnamen. Man sollte diesen Roman mit dem "Paris Pratique" in Reichweite lesen. Er wimmelt von Ortsangaben, und er beschwört die Magie von Orts-, Straßen-, Hotel-, Restaurant- und Personennamen in einer Weise herauf, die unmittelbar an Proust denken läßt. In der "Recherche" ist der letzte Teil des ersten Bandes überschrieben: "Ortsnamen. Namen überhaupt". Das könnte über Modianos gesamtem bisherigen Werk stehen. Dieser Autor glaubt an den Zauber von Namen, wie etwa Fossombronne-la-Forêt, und nennt sie wieder und wieder, Beschwörungsformeln gleich. Als er die Fahrerin des Fiats endlich findet, mit dem Rücken zu ihm in der Bar eines Restaurants sitzend, legt er ihr die Hand auf die Schultern und nennt als erstes ihren Namen.
In dieser Schlußsequenz geschieht dann etwas für Modiano sehr Ungewöhnliches. Bisher diente die Eleganz, ja Schwerelosigkeit seiner Sätze und seines Erzählens dazu, die Trauer über das Vergangene, das Verlorene oder das schon immer Entbehrte nur um so eindringlicher zu machen. Zwischen Modianos Helden und der Welt hat es bei aller überscharfen Wahrnehmungsfähigkeit stets einen Schleier gegeben, den sie nicht zerreißen konnten. Immer sind sie eingesponnen gewesen in einen Kokon, waren Unzugehörige, nicht in Hinsicht auf irgendeine Gruppe oder Gemeinschaft, sondern auf die Welt selber.
Nun aber, als der Erzähler und Jacqueline Beausergeant das Restaurant verlassen, heißt es wörtlich: "Auf der Straße war ein Schleier zerrissen." Was danach auf den letzten Seiten folgt, ist ein zartes Bild des Glücks - zukünftigen, nicht vergangenen Glücks -, wie wir es bisher aus Modianos Büchern nicht kennen. Das bleibt zunächst Versprechen, und das Buch endet mit dem Augenblick, in dem die beiden im Fahrstuhl zur Wohnung hochfahren, die Jacqueline Beausergeant derzeit für den eigentlichen Bewohner hütet. Dort kommt die Geschichte allerdings nicht mehr an. Sie endet mit dem Verlöschen der Treppenhausbeleuchtung, während der Fahrstuhl langsam nach oben gleitet. Das Ende bleibt wie immer offen.
Modiano ist ein Schriftsteller von hohem Wiedererkennungswert. Das sollte niemanden zum Glauben verleiten, ihn schon zu kennen oder gar zu meinen, er schreibe immer dasselbe Buch. Längst hat er ein eigenes Universum geschaffen, wie es nur wirklich großen Autoren gelingt, eine überaus brüchige Welt voller Verluste, aber auch mancher kostbarer Momente des Glücks. Dieses Glück teilt sich auch dem Leser durch alle Trauer hindurch mit.
Patrick Modiano: "Unfall in der Nacht". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisbaeth Edl. Hanser Verlag, München 2006. 143 S., geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Schriftsteller Jochen Schimmang lässt keinen Zweifel daran, dass er ein großer Bewunderer und Kenner seines französischen Kollegen Patrick Modiano ist. Mit Blick auf Modianos Gesamtwerk kann Schimmang in dieser Erzählung von einer glücklichen Wiederbegegnung einen erstaunlichen Wandel festzustellen. Früher, meint er, hätte es das nicht gegeben: Ein Glück, das in die Zukunft weist, das mehr ist als nur Reminiszenz, Erinnerung an Geschehnisse und Menschen, die vorübergingen. Üblicherweise nämlich sind die Figuren dieser Romane, auch die Erzähler selbst, nicht viel mehr als Besucher in eigenen und fremden Leben. Hier aber trifft der Erzähler die Frau, die er bei einem Unfall kennenlernte und hinterher gleich wieder aus den Augen verlor, zuletzt doch wieder. Sonst aber, beeilt sich Schimmang hinzuzufügen, ist das meiste wie immer bei diesem Autor. Er zeigt sich verzaubert von Namen und Orten und Namen von Orten, von Vergangenheit, ihrem Verlust und ihrer Beschwörung. Monotonie gebe es in diesem Werk dennoch nicht, so der Rezensent, und der Grund ist denkbar einfach: Patrick Modiano ist einer der "wirklich großen Autoren".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Die Beständigkeit, mit der im selben Verlag und seit Jahren nun schon mit derselben Übersetzerin die Werke Patrick Modianos in Deutschland erscheinen, ist ein Glücksfall. Elisabeth Edl hält mit solider Motivkenntnis, feinem Sprachsinn und eleganter Wortpräzision die komplexen Assoziationswirbel des Romans im Fluss. Modiano gehört zu den leiseren, aber wichtigen Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur. Hier bleibt sie bis in die letzte Silbe verständlich." Joseph Hanimann, Die Zeit, 09.03.06 " ... eine wirkliche Offenbarung selbst für eingefleischte Modiano-Fans ... "Unfall in der Nacht" strömt den Geruch von Äther aus. Aber es ist die Literatur, die hier berauscht: das stille, aber meisterhafte Verweben einzelner Fäden zum Stoff." Martina Meister, Frankfurter Rundschau, 15.03.06 "Das größte Rätsel, das der Erzähler Modiano aufgibt, war aber immer die Frage, wie er mit seiner leisen Stimme so dringlich von unscheinbaren Dingen, unmerklichen Veränderungen zu erzählen weiß,dass wir ihm ein ums andere Mal ins schwebend Ungefähre folgen." Karl-Markus Gauss, Süddeutsche Zeitung, 29.03.06
Der wassergrüne Fiat
«Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren» lautet ein Zitat, dem Nobelpreisträger Patrick Modiano in vielen seiner Werke als Leitgedanken folgt, so auch in dem Roman «Unfall in der Nacht». Peter Handke ist es zu …
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Der wassergrüne Fiat
«Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren» lautet ein Zitat, dem Nobelpreisträger Patrick Modiano in vielen seiner Werke als Leitgedanken folgt, so auch in dem Roman «Unfall in der Nacht». Peter Handke ist es zu danken, dass der in Frankreich hochangesehene Autor auch in Deutschland bekannt wurde, ohne allerdings den Durchbruch bei einem breiteren Lesepublikum erreichen zu können. Wie der vorliegende Roman eindrucksvoll belegt, ist eine derartige Zurückhaltung nicht nur unbegründet, sie stellt vielmehr einen unnötigen Verzicht der Leserschaft dar, ein Versäumnis besser gesagt, wird doch Modiano als skeptischer Romantiker schon zu Lebzeiten als ein Klassiker der Weltliteratur angesehen. Ein Schriftsteller, der eine Fülle zeitloser Kunstwerke geschaffen hat, denen zweifellos eine sehr individuelle, so nur ihm eigene schöpferische Intention zugrunde liegt.
In Form einer literarischen Collage beschreibt der Autor die Suche des zwanzigjährigen Ich-Erzählers, der als Fußgänger Opfer eines Autounfalls wurde, nach der jungen Lenkerin des Wagens und ihrem wassergrünen Fiat. Ein geheimnisvoller Mann, dessen Funktion zunächst unklar bleibt, im Roman als brünetter Klotz bezeichnet, hatte ihn und die Fahrerin nach dem Unfall in die Klinik begleitet, ihn später ein Dokument unterschreiben lassen und ihm einen Umschlag überreicht, in dem sich ein dickes Bündel Geldscheine befand. Die spannende Geschichte ist in den 1960ziger Jahren angesiedelt, und auch hier finden sich die für Modiano so typischen, minutiösen geografischen Angaben, denen andererseits recht vage Zeitangaben gegenüberstehen. Namen unzähliger Straßen und Plätze also, Cafés und Kneipen der französischen Metropole, die der orientierungslose Protagonist, stundenlang und oft nachts, seltsam rastlos durchstreift. Bei diesem odysseeähnlichen Herumstreifen begegnet er, von dessen Vergangenheit und gegenwärtigen Lebensumständen der Leser nur andeutungsweise etwas erfährt, einem mysteriösen Philosophen, der wie ein Guru eine Schar von Jüngern um sich versammelt, zu denen auch Hélène gehört, die Musik studieren will. Ihre kurze Zweisamkeit endet abrupt, als sie nach London geht. Geradezu traumverloren sucht der Held der Geschichte nach Orientierung, nach festem Boden unter dem Treibsand seines Lebens. «Und ich zählte», heißt es dazu im Roman, «auf den wassergrünen Fiat und seine Fahrerin, um ihn zu entdecken». Er findet schließlich beide, und ganz Modiano-untypisch geht die nebulöse Geschichte diesmal gut aus.
Der kurze Roman ist flüssig geschrieben, in einer eleganten Sprache, die stark der gesprochenen Sprache ähnelt, wie die Übersetzerin angemerkt hat, zugleich aber sehr poetisch sei, ohne deshalb jedoch in einen gehobenen Ton zu verfallen. Eine Fülle von Assoziationen drängt sich dem Leser auf, mysteriös ineinander verwoben, dem Ätherrausch ähnelnd, der sich leitmotivisch in der Geschichte findet und die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwischt. Es ist eine leise Stimme, mit der Modiano da spricht, lakonisch oft von unwichtig scheinenden Dingen erzählend, die uns gleichwohl aber in Bann schlagen, die uns geradezu zwingen, dem Fluss der Erzählung zu folgen, die subtilen Prozessen des Seelenlebens nachzuspüren. Ihm ist es wichtig, Stimmungen einzufangen, das Vergessene wiederzuentdecken.
Mit den Anklängen an die «Ewige Wiederkehr» Friedrich Nietzsches, wie sie sich im Verschwinden der Fahrerin, der Freundin Hélène oder des unnahbaren Vaters, ja auch dem eines Hundes zeigt, mit dem stets Nebelhaften seiner Geschichte zudem, in der vieles nur angedeutet wird, fordert der Autor vom Leser ein reflektierendes Mitwirken über die bloße Lektüre hinaus. Wer dazu willens ist, wird reich belohnt.
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