72,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Als Folge der nationalsozialistischen Verfolgung flohen zahlreiche jüdische Historiker aus Deutschland und Österreich in die USA. Nach 1945 setzten sie sich für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust ein. In den USA avancierten sie rasch zu Pionieren für die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Obwohl sich die Wissenschaftler um einen Austausch mit in Deutschland verbliebenen Historikern bemühten, blieben ihre Bücher in ihrem Herkunftsland teilweise über Jahrzehnte unbeachtet. Die Gründe für die Missachtung waren vielfältig: Umstritten war vor…mehr

Produktbeschreibung
Als Folge der nationalsozialistischen Verfolgung flohen zahlreiche jüdische Historiker aus Deutschland und Österreich in die USA. Nach 1945 setzten sie sich für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust ein. In den USA avancierten sie rasch zu Pionieren für die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Obwohl sich die Wissenschaftler um einen Austausch mit in Deutschland verbliebenen Historikern bemühten, blieben ihre Bücher in ihrem Herkunftsland teilweise über Jahrzehnte unbeachtet. Die Gründe für die Missachtung waren vielfältig: Umstritten war vor allem, wer deutsche Geschichte schreiben darf, wie deutsche Geschichte geschrieben werden soll, insbesondere ob und wie der Holocaust zu erforschen sei. Erst durch Generationswechsel sowie ein gestiegenes öffentliches Interesse intensivierte sich der Austausch zwischen den in Deutschland verbliebenen und den emigrierten Historikern. Letztere trugen wesentlich zu der wissenschaftlichen Erforschung des Nationalsozialismus und des Holocaust bei. Sie zielten auf eine lückenlose Aufklärung der deutschen Vergangenheit, um das Demokratiebewusstsein in Gegenwart und Zukunft zu stärken."Anna Corstens spannendes und wichtiges Buch präsentiert ein überzeugendes Gruppenporträt emigrierter Historiker, die dazu beigetragen haben, die wissenschaftliche Forschung zum Nationalsozialismus und zum Holocaust in den Vereinigten Staaten zu etablieren und zu prägen. Neben umfangreichen Archivrecherchen hat Corsten Interviews, die sie mit zahlreichen Historikern geführt hat, hervorragend genutzt. Das daraus entstandene Buch ist eine vorbildliche intellektuelle Kollektivbiografie."Alan Steinweis, University of Vermont"This thoughtful book analyzes a group of men, most of them Jews pushed out of Europe by Nazism, who built the academic study of modern Germany and the Holocaust in the United States. Corsten's gracefully written account is as incisive as it is appreciative of Mosse, Iggers, Weinberg, and others whose lives and works shaped History as we know it."Doris Bergen, University of TorontoAusgezeichnet mit dem Franz Steiner Preis für Transatlantische Geschichte 2021.
Autorenporträt
Anna Corsten ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte / Zeitgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsinteressen liegen in der NS- und Holocaust-Forschung, Wissensgeschichte, Eigentumsgeschichte und transatlantischer Geschichte.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

"Augenöffnend" ist die Lektüre dieses Buches von Anna Corsten für Rezensent Robert Probst. Die Historikerin setzt sich in ihrer Dissertation mit der westdeutschen Holocaust-Forschung auseinander und fördert wenig Rühmliches zu Tages, so der Kritiker. Nach Kriegsende setzten sich zunächst nur sehr wenige Historiker mit der Shoa auseinander, lesen wir. Diese klammerten sich oft an relativierende Narrative, in dem sie beispielsweise die Beteiligung der Zivilbevölkerung an den NS-Verbrechen kleinredeten. Schärfere und klarere Analysen kamen von Forschern, die während der NS-Zeit aus Deutschland geflohen waren, wie Raul Hilberg. Corsten widmet sich elf emigrierten Historikern und Soziologen und zeigt, wie deren Positionen von westdeutschen Wissenschaftlern konsequent ignoriert wurden, so der Kritiker, der die Lektüre auch für eine nicht-akademische Leserschaft empfiehlt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.06.2023

Der präzise Blick der Außenseiter
Anna Corsten beleuchtet die westdeutsche Historikerzunft nach 1945 und wie sie sich gegen die Holocaust-Forschung emigrierter Kollegen aus den USA sträubte
Die deutschen Historiker in den ersten Jahrzehnten nach 1945 und die Erforschung des Holocaust, das ist eine nicht gerade ruhmreiche Geschichte. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler (1931 – 2014) sprach einmal von einem „seltsamen Phänomen“. In einem Interview sagte er 1999: „Wir haben in den 60er- und 70er-Jahren den Holocaust, die großen Vernichtungslager, die Judenvernichtung kaum intensiv behandelt. (...) Je größer die Distanz zum Krieg wird, desto mehr nimmt die Holocaust-Debatte an Intensität zu. Naiv könnte man annehmen, dass der größte Schock nach dem Krieg erfolgt sein müsste. Ich erinnere mich, wie die amerikanische Militärpolizei mich im Frühjahr 1945 in ein Kino führte, in dem ein Film über die Befreiung von Dachau und Buchenwald gezeigt wurde. Man sah diese verhungerten Leichen. Da setzte die persönliche Schockwirkung ein – aber nicht unter den Historikern.“
Wehler, Mitgründer der Historischen Sozialforschung („Bielefelder Schule“), schob dann noch hinterher, dass damals vielleicht eine Handvoll Historiker in Westdeutschland sich mit der Vernichtung der Juden im NS-Staat beschäftigt hätte. Anderswo auf der Welt taten dies freilich bereits einige Historiker sehr intensiv – es waren aus Deutschland emigrierte Wissenschaftler, die in den USA forschten und lehrten. Und die bei den deutschen Kollegen auf der anderen Seite des Atlantiks nicht sehr willkommen waren. Weil sie unbequeme Wahrheiten dabeihatten.
Anna Corsten, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Zeitgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat für ihre aufwendige Dissertation „Unbequeme Erinnerer“ den Franz-Steiner-Preis für Transatlantische Geschichte (2021) erhalten. Das Buch, das nun vorliegt, legt den Fokus auf elf Emigranten, die nach 1933 als Erwachsene, als Jugendliche oder als Kind vor den Nazis fliehen mussten und die nach dem Krieg eine Karriere als Historiker, Kulturhistoriker oder Soziologe einschlugen. Im Mittelpunkt steht deren gänzlich anderer Blick auf die NS-Zeit und die Judenvernichtung als bei den Kollegen in der frühen BRD. Im Gegenschnitt wird gezeigt, wie konsequent dann auch die Thesen und Forschungen aus den USA ignoriert oder gar diffamiert wurden. Und damit eröffnet sich ein sehr entlarvendes Sittenbild der westdeutschen Wissenschaftszunft zwischen 1945 und 1998.
Es geht dabei weniger um die Verstrickungen deutscher Historiker in den NS-Apparat oder ihre ideologische Vordenkerschaft, als vielmehr darum, wie nach 1945 in Deutschland Geschichtswissenschaft betrieben wurde und worauf sie abzielte. Diese Lektüre ist – trotz einiger Wissenschaftsfloskeln und diverser Redundanzen – auch für das breite Publikum lehrreich und augenöffnend.
Außer Raul Hilberg, dem zu Recht viel Raum für die Nichtanerkennung seines Hauptwerks „Die Vernichtung der europäischen Juden“ eingeräumt wird, und Fritz Stern sind wohl die meisten Protagonisten heute eher unbekannt. Dennoch lohnt sich der Blick auf den Lebensweg und die Forschungsleistungen von George W.F. Hallgarten, Hajo Holborn, Adolf Leschnitzer, Hans Rosenberg, Henry Friedlander, Georg Iggers, George L. Mosse, Herbert A. Strauss und Gerhard L. Weinberg unbedingt. Bis auf Holborn waren alle durch die NS-Gesetzgebung als „voll-“ oder „halbjüdisch“ stigmatisiert worden. Sie sahen sich dann auch in ihrer Forschertätigkeit einem doppelten Ressentiment ausgesetzt: Als „Betroffene“ den Holocaust zu erforschen – das sei wegen emotionaler Verstrickung abzulehnen. Und wegen „langjähriger Entfremdung vom deutschen Boden“, so formulierte es der Großmeister Gerhard Ritter, sei es abzulehnen, dass „die Deutschen von Fremden über ihre eigene Geschichte belehrt werden“.
Es war also nicht nur Hilberg, der zunächst mit seinen Arbeiten in Deutschland auf breite Nichtbeachtung traf, sondern auch alle anderen anderen zehn Emigranten. Corsten hat dazu vor allem die (Nicht-)Besprechungen in Fachzeitschriften und Zeitungen in den USA und der BRD miteinander verglichen. Das Muster bestätigt sich: Viele innovative Ansätze der in den USA Forschenden und Lehrenden, sei es zu Antisemitismus, zur Kriegsführung oder eben auch zum Holocaust, wurden in Amerika weit wohlwollender aufgenommen als in Westdeutschland. Hierzulande wurden sie meist einfach ignoriert. Hans Rosenberg formulierte es im Rückblick so: „Die restaurierte alte Historikerzunft dagegen ließ es meist entweder beim Totschweigen oder bei griesgrämigen Kommentaren bewenden. Der Denkansatz und die Ergebnisse meiner Untersuchung erregten Unbehagen und emotionale Beunruhigung.“ Nicht nur das Hauptwerk von Hilberg blieb übrigens lange Jahre unübersetzt, auch andere Bücher blieben dem deutschen Publikum vorenthalten – manch eines durch persönliche Intervention von prominenten Fachkollegen. Erst langsam öffnete sich die Geschichtswissenschaft den Ideen der Emigranten, auch der persönliche Austausch kam nur schleppend zustande.
Besonders wertvoll macht die Arbeit die strukturierte Analyse des Bildes, das deutsche Historiker bis in die 1960er-Jahre hinein von sich und ihrer Arbeit hatten – es ist kein schmeichelhaftes. Corsten formuliert es so: „Sich selbst erklärten die deutschen HistorikerInnen zu Beschützern der eigenen Vergangenheit.“ Lange hielten sie – wie schon Nicolas Berg in „Der Holocaust und die westdeutschen Historiker“ 2003 herausgearbeitet hat – am Narrativ fest, dass der Nationalsozialismus eine Art Betriebsunfall mit einer kleinen Gruppe von Tätern gewesen sei, oder arbeiteten sich an Strukturdebatten des NS ab. Wichtig war ihnen der positive Bezug zur nationalen Vergangenheit und die Relativierung des aktiven Beitrags der Bevölkerung an Verbrechen. Die Emigranten betonten hingegen mit scharfem Blick gerade den aktiven Beitrag und die Handlungsspielräume der Menschen, zeigten mit den Fingern auf Kontinuitäten nach 1945, betonten die Einzigartigkeit des Holocaust – alles jenseits des Atlantiks sehr unangenehm, und an nationale Tabus rührend.
Dieser Deutungskampf ging bei vielen – vor allem bei Hilberg, der sich oft, vielleicht über Gebühr, zum „Außenseiter“ stilisierte – mit emotionalen Verletzungen einher, und das nicht nur bei dessen bitterem Streit mit Hannah Arendt. Faszinierend ist allerdings auch zu beobachten, wie etwa Stern, Hilberg oder auch Weinberg im hohen Alter dann doch noch ihre Anerkennung in Deutschland fanden und am Ende als bundesverdienstkreuzgeschmückte „Pioniere“ dastanden. Viele Faktoren spielten hier eine Rolle, etwa der Generationenwechsel, beginnende Pluralisierung oder größeres Interesse der Öffentlichkeit, doch ganz klar werden die Gründe für diese 180-Grad-Wendung nicht.
Auf einer Konferenz in Israel soll Hilberg gesagt haben: „Erst beachten sie (die Deutschen, Anm. d. Red.) mich nicht, dann machen sie mich zu einem Heiligen. Beide Male lesen sie meine Bücher nicht.“ Das war wahr und übertrieben zugleich. Aber auch Corsten sieht hier ein Problem: „Hilbergs Stilisierung zum Klassiker der Zeitgeschichte modelliert eine Geschichte über die Vermeidung des Themas Holocaust zur Erfolgsgeschichte um.“ Geht es also in Wahrheit nur um „Symbolpolitik“, wie die Autorin am Schluss nahelegt, um Kritikern von innen und außen entgegenzukommen? Dass die Inhalte dieser Standardwerke (weiterhin und auf Dauer) zu kurz kommen, kann also leider bis heute nicht ausgeschlossen werden.
ROBERT PROBST
Das Sittenbild
westdeutscher Wissenschaftler
ist nicht recht schmeichelhaft
Wie reagierte man in der BRD?
„Totschweigen oder
griesgrämige Kommentare“
Kam nicht gern nach Deutschland: Raul Hilberg in einer Berliner Schule im Jahr 1992.
Foto: H. Langenheim/akg-images
Anna Corsten:
Unbequeme Erinnerer.
Emigrierte Historiker in
der westdeutschen und US-amerikanischen NS- und
Holocaust-Forschung, 1945-1998. Franz-Steiner-Verlag, Stuttgart 2023.
424 Seiten, 72 Euro.
Download kostenfrei.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr
"Diese Lektüre ist [...] auch für das breite Publikum lehrreich und augenöffnend." Robert Probst Süddeutsche Zeitung Nr. 144, 26.06.2023, S. 16 20230626