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"Erst ein Regen- und dann ein Schneewinter. Als das Jahr 1984 anfing, nach der Trennung, hatte ich von einem zum andern Tag nix mehr. Auch keine Wohnung, kein Selbstbild, noch nicht einmal Schlaf ist mir übriggeblieben. Wie es scheint, fängst du dein Leben alle paar Jahre neu und von vorn an. Mitten in der Katastrophe, wie aus der Welt gefallen. Kaum ist es hell, setzt der Tag sein Verhör mit mir fort. Eine Abstellkammer in einer fremden Wohnung. Ende Januar eingezogen. Ich steckte Notizzettel ein und ging meine Tochter besuchen". So beginnt das Buch, das erste von vier Büchern eines…mehr

Produktbeschreibung
"Erst ein Regen- und dann ein Schneewinter. Als das Jahr 1984 anfing, nach der Trennung, hatte ich von einem zum andern Tag nix mehr. Auch keine Wohnung, kein Selbstbild, noch nicht einmal Schlaf ist mir übriggeblieben. Wie es scheint, fängst du dein Leben alle paar Jahre neu und von vorn an. Mitten in der Katastrophe, wie aus der Welt gefallen. Kaum ist es hell, setzt der Tag sein Verhör mit mir fort. Eine Abstellkammer in einer fremden Wohnung. Ende Januar eingezogen. Ich steckte Notizzettel ein und ging meine Tochter besuchen".
So beginnt das Buch, das erste von vier Büchern eines autobiographischen Romans. Eine poetische Chronik, Stadt- und Zeitgeschichte, die Gegenwart, das alte Jahrhundert, ein Buch über Deutschland. Mit Menschen, wie sie in der Literatur sonst kaum oder gar nicht vorkommen. Und das Buch soll jedem von ihnen zu seiner eigenen Sprache verhelfen.
Autorenporträt
Peter Kurzeck ist 1943 in Böhmen geboren. Aufgewachsen in Staufenberg bei Gießen. Lebt in Frankfurt am Main und in Uzès (Südfrankreich). Für sein literarisches Werk wurde Kurzeck mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis 2007.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.1997

Wer keinen Dauerauftrag hat
Im Moll der Winterreise: Peter Kurzeck geht übers Eis

Seit längerem schon wird seine Karriere von zwei Formeln begleitet: der Alfred-Döblin-Preisträger Peter Kurzeck, der hessische Provinz- und Stadtchronist in Joyce-Manier. Das ist praktisch, auf die Dauer aber ein bißchen hinderlich, verstellen doch die Etikettierungen den Blick auf den jeweils jüngsten Text dieses Autors. Gewiß lassen sich bei ihm Konstanten literarischer Weltbetrachtung feststellen, eine Vervollkommnung seines Personalstils. Stets hat er aus eigenen Erfahrungen geschöpft, er berichtete von den zwanghaften Kneipenbesuchen eines gelernten Trinkers, der Nachkriegsenge im Dorf Staufenberg bei Gießen, wohin es ihn als Flüchtlingskind aus Böhmen verschlagen hatte.

Zwei Titel aus seinem OEuvre, "Das schwarze Buch" und "Kein Frühling", scheinen besonders charakteristisch für sein Schreiben. Denn der helle, unbeschwerte Tag hat in Kurzecks Prosa ebensowenig Platz wie Wärme und Geborgenheit. Fast immer herrscht draußen und drinnen Winter, ist es naß und kalt und neblig. Mit meteorologischer Plausibilität kann man einem Schriftsteller eben kaum je beikommen. Das Wetter ist hier naturgemäß Stimmungssache, Verstimmungssache. Frostig und trüb geht es auch in Peter Kurzecks neuestem Werk zu. Angeblich bildet "Übers Eis" die Ouvertüre zu einem vierbändigen autobiographischen Romanprojekt.

Wer davon eine Fülle privater Details erwartet, der wird wohl enttäuscht sein. Peter Kurzeck enthüllt im Grunde nicht viel, dies freilich mit obsessiver Hingabe. Im November 1983 trennte sich seine Gefährtin Sibylle von ihm. Eine neue Zeitrechnung beginnt. Die Frau, die gemeinsame Tochter, die Frankfurter Wohnung - alles verloren. Kleinkatastrophe reiht sich an Kleinkatastrophe, der Ich-Erzähler ist tatsächlich aus der Lebensbahn geworfen. Gleich auf der ersten Seite wird die Beziehung zur viereinhalbjährigen Carina beschworen: "Ein Vater. Ein Kind." Keine peinlich sentimentale Vatergeschichte nimmt ihren Anfang. So schlicht, wie sie anhebt, fährt sie fort. Da ist bloß von den Stofftieren des Kindes die Rede, von den verschieden bedruckten Schlafanzügen: mal mit Marienkäfern, mal mit Giraffen oder mit Enten und Gänseblümchen. Solch lakonische Verlustbilanz hat segensreichen Effekt: Statt geschwätziger Klage liefert sie uns Chiffren von Schmerz und Trauer. Der Kampf um ein Dach über dem Kopf, um Brotarbeit und gegen Entfremdung zieht sich durch beinah sämtliche Kapitel. Im Hintergrund lauert allzeit die Angst eines reformierten Alkoholikers, rückfällig zu werden, endgültig zum Penner herabzusinken.

Peter Kurzeck protokolliert seinen schwankenden Gang "übers Eis" nach Art eines Selbstverhörs, einer Litanei mit Motiv- und Satzwiederholungen. Gleich einer Filmkamera registriert er nichts als Wirklichkeitspartikel, die er scheinbar wahllos aufeinanderhäuft. Allein, das vermeintliche Chaos ordnet sich beim Lesen zu einem Gesamteindruck, dem man sich schwer zu entziehen vermag. Ein leiser, eindringlicher Ton von Verzweiflung und Vergeblichkeit erklingt, eine Melodie in "Winterreise"-Moll, voll Sehnsucht des nächtlichen Wanderers nach Sicherheit und einem Zuhause: "Wie Honig das Licht in den Fenstern."

Daß uns dergleichen weder auf die Nerven fällt noch abgeschmackt wirkt, hat zweierlei Ursache. Zum einen blitzt in Kurzecks Formulierungen des öfteren Galgenhumor auf, ein zynischer Reflex auf die Tristesse der Warengesellschaft und das Glück der Normalität: "Heimwerker. Flaschenbier. Kennt sich aus. Alles mit Dauerauftrag, alles im Großhandel." Kürzer ist Hohn nicht denkbar. Auch ein Schuß finsterer Romantik und Expressionismus in den Bildern darf hin und wieder nicht fehlen: "Das Haus steht und zittert. Und die Nacht fängt zu keuchen an." Zum anderen entwickelt Kurzecks verknappte Sprache beträchtliche Sogkraft. Kein Zweifel: Die sehr persönliche Syntax mit meist abgehacktem Verbum ist gewöhnungsbedürftig. Aber bald treiben wir im epischen Strom dahin. Er entläßt uns erst, wenn ihm der Dichter und Lastträger Peter Kurzeck ein Ende bereitet. ULRICH WEINZIERL

Peter Kurzeck: "Übers Eis". Roman. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Basel und Frankfurt am Main 1997. 330 Seiten, geb., 38,- DM.

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