Gedanken "Über das Unglück, ein Grieche zu sein". Sie wurden in Griechenland zum Bestseller und sind es noch. Warum es fast vier Jahrzehnte dauerte, bis das Werk endlich auf Deutsch vorliegt, wissen die Götter. Anderseits wäre das Buch früher kaum bemerkt worden, während es nun sozusagen "unverdränglich" ist.
Dimous hellenisches Sudelbuch hat dem Autor außer begeisterten Lesern auch die treue Abneigung griechischer Nationalisten eingetragen. Kein Wunder, bei solchen Sätzen: "Die Griechen sehen ihren eigenen Staat so, als wäre er immer noch eine türkische Provinz. Recht haben sie." Die griechische Kirche war nicht angetan von Dimous Ansicht, im vergangenen Jahrhundert habe sie treu und hingebungsvoll vielen Herren gedient, "nur nicht dem Einen". Versöhnend wird auch die Behauptung "Andere Völker haben eine Religion. Wir haben Popen" nicht gewirkt haben; und die Feststellung "Ein Widerspruch in sich: die griechisch-christliche Kultur", schon gar nicht.
Dimous Buch ist aber mehr als eine lose Sammlung von Gedankensplittern. Es rankt sich um die Idee, dass, wer Unglück als Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit definiere, die Griechen als besonders unglückliches Volk erkennen müsse: "Jedes Volk, das von den alten Griechen abzustammen meint, wäre automatisch unglücklich. Es sei denn, es könnte sie vergessen oder übertreffen." Obwohl es beim Vergessen der alten Griechen große Fortschritte gab, sind die neuen Griechen laut Dimou ein Volk ohne Gesicht. "Nicht, weil wir kein Gesicht hätten. Sondern weil wir es nicht wagen, uns im Spiegel zu betrachten. Weil man uns dazu gebracht hat, uns für unser wahres Gesicht zu schämen. Wir hassten uns, weil wir nicht hochgewachsen und blond waren und weil wir kein "griechisches Profil" haben wie der Hermes von Praxiteles. Wir hassten unsere Nachbarn ... weil wir ihnen gleichen." Dimou, der lange im Ausland lebte (auch in Deutschland), sah seine Landsleute 1975 als Opfer eines rückständigen Erziehungssystems, "das den alten Griechen mit einer derart kleinkarierten Ehrfurcht begegnet, dass diese in Glorie und Unnahbarkeit erstarren". Daraus sei ein doppelter nationaler Minderwertigkeitskomplex entstanden: "Der eine in der Zeit - den Vorfahren gegenüber. Der andere im Raum - den ,Europäern' gegenüber." Man sollte nicht fehlgehen: Dimou mag seine Griechen. Deshalb ist er so streng mit ihnen. Wer Dimous Aphorismen aneinanderreiht (was ein Rezensent keinesfalls tun sollte!), erhält ein pointiertes Bild Griechenlands von vor 35 Jahren, das heute natürlich längst überholt ist: "Das griechische ,Establishment'! Eine armselige, blasse Imitation eines Establishments ... Seine einzige Rettung ist, dass das griechische Antiestablishment noch erbärmlicher ist. Das Schlimmste, was man von der griechischen Bourgeoisie sagen kann, ist, dass sie nicht existiert. Das Fehlen jedes Systems in Griechenland hat selbst die Entstehung eines Klassensystems verhindert. Hingegen sind unsere nagelneuen Bürger eigentlich europäisch verkleidete (und leicht verwirrte) Bauern. Das griechische Bürgertum hatte im Übrigen auch gar keine nennenswerte Tradition, die es ... hätte weitergeben können - und hätte es eine gehabt, so wäre es nicht möglich gewesen, dass einige tausend Bürger einige Millionen Bauern in einer Generation assimilieren.
Die griechische Wirtschaft setzt sich im Wesentlichen aus ungefähr dreißig großen Unternehmen zusammen, die alle von einer Bank abhängen, die wiederum vom Staat abhängt. (Also haben wir doch auch Sozialismus in Griechenland ...). Nutznießer der griechischen Arbeit sind weniger unsere Kapitalisten, als vielmehr die Vertreter der glorreichen griechischen Tradition der Windbeutel: Mittelsmänner, Agenten, Trickser und Dealer (ob griechischstämmige Amerikaner oder andere). Während die eine Hälfte der Griechen sich bemüht, Griechenland in ein fremdes Land zu verwandeln, ist die andere Hälfte ausgewandert. Mit Methode und System, die unserem Alltagsleben und unserer Arbeit fehlen, konzentrieren wir uns auf unsere geheime Mission: das wunderbare Land, das uns das Schicksal zugeteilt hat, so effektiv wie möglich zu zerstören. Tief in uns glauben wir, dass wir es nicht wert sind, in einem so schönen Land zu leben. So versuchen wir, es ,auf unseren Standard' zu bringen. Auf unser Niveau. Deshalb verbauen wir es mit Zement und Müll ... Wie europäisch sind wir also? Wer sind wir nun eigentlich? Die Europäer des Orients oder die Orientalen Europas?"
MICHAEL MARTENS
Nikos Dimou: Über das Unglück, ein Grieche zu sein. München 2012, Verlag Antje Kunstmann, 72 Seiten, 7,95 Euro.
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