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Produktdetails
  • Verlag: Klett-Cotta
  • ISBN-13: 9783608936810
  • ISBN-10: 3608936815
  • Artikelnr.: 00031527
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2005

Der Körper ist mein Feind
Die Jugend, das sind die anderen: Wie liest sich Jean Améry heute? Zur Neuausgabe des Essays "Über das Altern"

An den Himmel hat Jean Améry nie geglaubt, und die Hölle, das war für ihn, den Existentialisten und Sartre-Schüler, ein Ort, den man zu Fuß erreichen konnte - jeden Gedanken an ein Jenseits hat er immer als tröstliche Lüge zurückgewiesen. Das ist schon deshalb schade, weil es sonst gar zu reizvoll wäre, sich Améry oder seinen Geist vorzustellen, wie der auf einer schwarzen Wolke hockte und herunterschaute auf dieses 21. Jahrhundert, dessen Bewohner durch die Gegenwart laufen, als wollten sie jeden Satz von Améry dementieren.

Mit fünfundvierzig, hat Améry vor knapp dreißig Jahren in seinem Essay "Über das Altern" geschrieben, mit fünfundvierzig fängt der Mensch zu altern an; und was dann kommt, ist unaufhaltsam: ein Verlust, ein Abstieg, ein Verfall. Was hätte Améry gesagt nach einer Musterung der Fünfundvierzigjährigen von heute, des Jahrgangs 1960 also, zu welchem, nur zum Beispiel, die schönen Filmstars Daryl Hannah und Kristin Scott-Thomas gehören, der Kino-Macho Antonio Banderas, der ungezähmte Regisseur Christoph Schlingensief; und wie hätte er auf all jene geschaut, die nicht ganz so bekannt sind, aber mindestens so jung?

Jean Améry war ein Mann, der das Denken und das Schreiben ausschließlich in der Gegenwartsform betrieb. Keine Theorie verankerte seine Begriffe in der Geistesgeschichte, keine Ideologie verhieß eine große Zukunft, und Revision war jederzeit möglich. Amérys Gegenwart im deutschen Denken dauerte knapp zwölf Jahre, von 1966, als sein Buch "Jenseits von Schuld und Sühne" erschien, bis 1978, als er, der in dem Essay "Hand an sich legen" alles genau durchdacht hatte, sich in Salzburg das Leben nahm. Daß Améry heute, nur siebenundzwanzig Jahre nach seinem Tod, nicht gerade präsent ist in den deutschen Köpfen, muß nicht daran liegen, daß das, was er schrieb, obsolet geworden wäre. Es ist wohl eher eine Folge seiner Integrität: Améry fehlte jeder Sinn für Macht und Einfluß, und Schüler fand er schon deshalb nicht, weil er sich nicht für einen Meister hielt. Er war vierundfünfzig, als er debütierte, er war, auch wenn er über das Altern schrieb, ein Anfänger, er lernte selber noch.

Jean Améry, dessen "Gesammelte Werke" jetzt kommentiert bei Klett-Cotta erscheinen, Jean Améry heute zu lesen oder wiederzulesen ist zuallererst eine Arbeit und fast eine Zumutung, und dann ist es ein großes Rätsel. Amérys Sprache, die kaum Konzessionen macht ans Bedürfnis des Lesers nach Anschauung, Anekdote, Erzählung, diese Sprache, die keinem heute geläufigen akademischen oder literarischen Jargon nur das Geringste verdankt, diese Sprache, die, wo ihr die deutschen Begriffe zu unklar sind, sich beim Französischen bedient, verlangt enorme Konzentration; man muß zurückblättern, noch einmal lesen - und man fragt sich, wie wohl damals, in den späten Sechzigern, als der Essay "Über das Altern" in mehreren Folgen im Südwestfunk ausgestrahlt wurde, die Hörer diesen Sätzen folgen konnten. Helmut Heißenbüttel, der nicht bloß Dichter war, sondern auch ein engagierter Redakteur, Helmut Heißenbüttel förderte Améry, brachte die Essays ins Programm - und weil die Lektüre zu Abschweifungen verführt, taucht hinter den schweren Sätzen Amérys plötzlich ein heiter-nostalgisches Bild auf: die fiktive Erinnerung an die Bundesrepublik vor knapp vierzig Jahren, als ein Redakteur und sein Sender über genügend intellektuelle Autorität verfügten, um Texte zu senden, die heute jeden Programmverantwortlichen in einen Schreikrampf treiben und das Publikum nachhaltig verschrecken würden, eine Bundesrepublik, deren Modernität eben nicht erst von Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh-rufenden Studenten erkämpft werden mußte.

Jean Améry, der als Hans Mayer in Österreich geboren wurde und den erst die Nazis dazu zwangen, ein Jude zu sein, als welcher er, der Atheist, sich nie gefühlt hatte, Jean Améry, der nach Belgien gegangen war, sich dem Widerstand angeschlossen hatte, verhaftet und gefoltert wurde und dem Tod in einem Konzentrationslager nur knapp entkommen war, Jean Améry lebte nach dem Krieg in Brüssel, sprach französisch, schrieb deutsch, und auch sein Denken war nirgendwo zu Hause als in Amérys Biographie und in Amérys Körper.

Und dieser Körper, damit fängt der Essay "Über das Altern" an, wird dem Alternden ein Fremder und ein Feind, jeder Schmerz werde zum Gefängnis, jeder Fleck auf der Haut verstärke nur die Selbstentfremdung; mag schon sein, daß jede Spur, welche mein Leben in und auf dem Körper hinterläßt, ausschließlich mir gehört und meine einzige Gewißheit ist. Ein Gewinn sei es trotzdem nicht, wenn die Zeit, die einer durchmessen hat, sich als Schmerz und Schwäche ablagere - gänzlich unentfremdet lebe nur der junge Mensch, der seinen Körper nicht spüren müsse. Der Schmerz, so hat es Elaine Scarry mehr als zwanzig Jahre nach Améry geschrieben, der Schmerz entziehe sich der Sprache, er verweigere sich der Übersetzung in Wörter und Sätze - und weil Améry vom Schmerz trotzdem zu schreiben versucht, ist auch die Lektüre kein Vergnügen; und besonders bitter ist es zu verfolgen, wie Améry, der doch allen Poststrukturalisten mit unendlicher Skepsis begegnete, kaum verhindern kann, daß auch ihm das Subjekt immer wieder abhanden kommt.

Es mag trivial sein, auf die viel zu vielen Zigaretten zu verweisen, die sich Améry nicht abgewöhnen wollte, es mag weit unter seinem Niveau liegen, wenn man auf die Fortschritte der Medizin und der Ernährungswissenschaft verweist und darauf, wie deutlich man diese Fortschritte heute den fünfzig- oder sechzigjährigen Körpern ansieht. Und natürlich muß man unbedingt Verständnis dafür haben, wenn diesem Intellektuellen der Gedanke an alles, was Sport nur entfernt ähnlich sah, ein großer Graus war. Aber man möchte, wenn man sich von den Schrecken dieses Kapitels erholt hat, Améry eben doch widersprechen, ihm entgegenbrüllen, daß wir unseren Körpern nicht einfach ausgeliefert sind und daß das Konzept, welches den Menschen eher als den Autor und nicht bloß als den Gefangenen seines Körpers versteht, nicht in unseren Fitneßstudios entworfen wurde, sondern unter dem freien Himmel Griechenlands.

Dabei ist ja das Ich, für Améry, vor allem eine Möglichkeit, und das Altern ist der Prozeß, in dem diese Möglichkeit immer mehr beschränkt und eingeengt wird von der Wirklichkeit, bis keine Option mehr bleibt. Und wie schrecklich das ist, hat Améry am Beispiel Sartres beschrieben, in einer der schönsten und zugleich schrecklichsten Passagen des Essays; denn Améry verehrt diesen Mann und bewundert ihn, und dann kann er doch, als er einen von Sartres Auftritten besucht, dem Vortrag gar nicht folgen. Jean-Paul Sartre, dreiundsechzig Jahre alt, spricht zu jungen Leuten über den Vietnamkrieg, und Améry sieht nur, wie dieser Sartre, all seinen intellektuellen und ideologischen Winkelzügen zum Trotz, seinem Sartre-Sein nicht mehr entkommt, zum Sartre-Sein geradezu verdammt ist. Das Gewicht seiner Wirklichkeit ist so groß, die winzige Möglichkeit, plötzlich nicht mehr Sartre sein zu wollen, liefe darauf hinaus, daß er sich lächerlich machte vor sich selbst und seinem Publikum. Das Alter, so hat es Améry hier von Sartre gelernt, das Alter sind immer auch die anderen.

Man muß absolut modern sein, das ist eine Maxime, die im französischen Kulturraum immer ernster als im deutschen genommen wurde - und nicht nur deshalb möchte man all unseren sogenannten Großen Alten Männern sehr dringend die Lektüre des Kapitels über das kulturelle Altern empfehlen. Améry beschreibt da, wie er sich zwingt, auf dem neuesten Stand zu bleiben, literarisch, philosophisch, wie er die neuen Bücher liest, sich die neuen Filme anschaut und wie er dabei deutlich spürt, daß ihm das meiste fremd und falsch erscheint, als Abweichung jedenfalls von jenen Regeln, die er seit seiner Jugend für verbindlich hält. Und dann liest er die Werke seiner Jugend wieder und erkennt, daß das, was er für die ewigen Werte oder zumindest für die verbindlichen Maßstäbe hielt, daß das alles nur die Mode seiner Jugend war, nicht falscher und nicht richtiger als jene Moden, denen er jetzt so schwer folgen kann. Und so grausam diese Erkenntnis ist, den Abendlandsrettern und Gralshütern unter den Zeitgenossen täte es womöglich ganz gut, zu begreifen, daß das, wonach sie sich zu sehnen glauben in den Stunden des Verdrusses über dumme junge Autoren, Musiker, Theaterleute, daß all das, wenn es wirklich wiederkäme, sie zu Tode langweilen würde.

Was der Mensch überhaupt an Kapital hat, das ist Amérys Ökonomie, läßt sich ausbezahlen als Zukunft, als Summe aller seiner Möglichkeiten - und natürlich ist es erkenntnisstiftend, aus dieser Zukunft zurückzublicken auf Jean Améry, der sich selbst nicht viele Möglichkeiten mehr ausrechnete. 1968, als "Über das Altern" erschien, kam der geburtenstarke Jahrgang 1960 in die zweite oder dritte Klasse, und die Zukunft sah aus wie etwas, das Améry nicht mehr verstehen würde. Heute sind diese Kinder fünfundvierzig Jahre alt, der Durchschnitt der Deutschen ist nicht viel jünger, und eigentlich müßte Amérys Essay sich im Jahr 2005 so lesen, als wäre er das medizinische und psychologische Bulletin der ganzen Gesellschaft.

Man muß dieses ernste Buch aber zweimal lesen, und dann zeigt sich, daß es auf viele seiner komplizierten Fragen verblüffend einfache Antworten gibt. Wer nicht altern will, soll jung sterben, heißt eine, und die andere heißt: Er soll jung bleiben. Das ist trivial. Aber vermutlich trotzdem nicht ganz falsch.

CLAUDIUS SEIDL

Jean Améry: Über das Altern. Gesammelte Werke, Band drei. Klett-Cotta 2005. 540 Seiten. 34 Euro

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