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Ausgangspunkt für diese Studie ist die Erfahrung, daß wir Tun und Unterlassen, aktives Eingreifen und passive Untätigkeit moralisch deutlich verschieden beurteilen. Zugespitzt manifestiert sich diese unterschiedliche Auffassung etwa beim Problem der Sterbehilfe. Der Autor betrachtet das Thema umfassend und differenziert unter begriffsanalytischen, kausaltheoretischen, psychologischen, normativen, juristischen Aspekten. Eine Reihe von praktischen Fällen ('hard cases') wird einer möglichen Lösung zugeführt.

Produktbeschreibung
Ausgangspunkt für diese Studie ist die Erfahrung, daß wir Tun und Unterlassen, aktives Eingreifen und passive Untätigkeit moralisch deutlich verschieden beurteilen. Zugespitzt manifestiert sich diese unterschiedliche Auffassung etwa beim Problem der Sterbehilfe. Der Autor betrachtet das Thema umfassend und differenziert unter begriffsanalytischen, kausaltheoretischen, psychologischen, normativen, juristischen Aspekten. Eine Reihe von praktischen Fällen ('hard cases') wird einer möglichen Lösung zugeführt.
Autorenporträt
Dieter Birnbacher, geboren 1946, Studium der Philosophie, Anglistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft in Düsseldorf, Cambridge und Hamburg. B.A. 1969 (Cambridge), Promotion 1973 (Hamburg), Habilitation 1988 (Essen). Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent an der Pädagogischen Hochschule Hannover und als Akademischer Rat an der Universität Essen. Von 1993 bis 1996 Professor für Philosophie an der Universität Dortmund, seit 1996 an der Universität Düsseldorf. Mitglied der Philosophisch Politischen Akademie.
Rezensionen
Es gehört zu den Verdiensten von Birnbachers Buch, dass es die von Juristen, insbesondere von Strafrechtlern, geleistete einschlägige Begriffsarbeit, von der Philosophie lange Zeit übersehen, für die Erörterung ethischer Prinzipienprobleme fruchtbar macht. (...)

Der wesentliche Ertrag von Birnbachers Untersuchungen liegt nicht so sehr in der Hauptthese, die die Berechtigung verneint, dem Unterschied von Handeln und Unterlassen prinzipielle moralische Bedeutsamkeit zuzusprechen, sondern in dem ungewöhnlichen Reichtum an Gesichtspunkten, die aufgeboten werden, um jene Unterscheidung aus immer wieder anderen Richtungen zu beleuchten. Frankfurter Allgemeine Zeitung

Dieter Birnbacher hat sich mit seinem Buch "Tun und Unterlassen" das Verdienst erworben, die Frage nach der moralischen Rechtfertigbarkeit dieser Unterscheidung zum ersten Mal präzise gestellt zu haben; er hat darüber hinaus einen Antwortversuch vorgelegt, der durch die Breite und Tiefe seiner argumentativen Durcharbeitung besticht. Dass dabei von vornherein Fragestellung und Antwortversuch im Hinblick auf konkrete praktische Probleme formuliert werden, macht die Arbeit für den eher an handlungsphilosophischen Aspekten Interessierten ebenso lesenswert wie für den, der sich v.a. moralphilosophischen Erkenntnisgewinn erwartet: Sie ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass die im Disziplinkanon der Philosophie oft weit getrennt geführten Bereiche nicht unabhängig voneinander zu betreiben sind. Zeitschrift für philosophische Forschung…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.1995

Lassen gleich Tun?
Dieter Birnbacher relativiert / Von Wolfgang Wieland

Als der Strafrechtler Karl Binding im Jahre 1920 die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens forderte, gab er den Anstoß zu einer Entwicklung, deren Spätfolgen damals nur wenige für möglich hielten. Auch abgesehen von der Todesstrafe wollte Binding das Leben und das Lebensrecht von Menschen zur Disposition von Instanzen stellen, die an individuelles Dasein einen Wertmaßstab anzulegen befugt sein sollten. Es ist schwerlich ein Zufall, daß diese Streitschrift, obwohl sich ihr Verfasser bemüht hatte, den Regeln juristischer Argumentationskunst Genüge zu tun, nicht in einem der angesehenen rechtswissenschaftlichen Fachverlage publiziert werden konnte. In der Öffentlichkeit fanden ihre Thesen freilich ein lebhaftes, wenngleich kontroverses Echo.

Mehr noch als diesen Thesen selbst und ihren Begründungen war dem Unwort des lebensunwerten Lebens eine erstaunliche bewußtseinsbildende Karriere beschieden. Immerhin konnte mutiger Widerstand bewirken, daß die Nationalsozialisten an ihrem Euthanasieprogramm zumindest nach außen hin Abstriche machen mußten. Auf jeden Fall war jedoch in Deutschland nach 1945 die Sensibilität für diese Dinge in einem Maße geschärft, daß es für einige Jahrzehnte ausschloß, Euthanasie und Sterbehilfe öffentlich zum Thema zu machen. Die neue Bioethik, vor allem in den angelsächsischen Ländern entwickelt, hat mittlerweile aber auch bei uns wieder dazu gezwungen, sich mit der Frage nach der Verfügbarkeit menschlichen Lebens zu beschäftigen. Allerdings wird diese Debatte jetzt unter Bedingungen geführt, die von den immens erweiterten Möglichkeiten medizinischer Techniken bestimmt werden.

Noch vor wenigen Generationen konnte den Arzt die Verpflichtung, ohne Einschränkung alles zu tun, was zur Erhaltung des Lebens seines Patienten dient, nur in Ausnahmefällen in Konflikte führen. In der modernen Medizin ist aber der Einsatz der Techniken der Lebenserhaltung und Lebensverlängerung für den Patienten nicht selten mit Leiden verbunden; schon heute werden überdies die ökonomischen Schranken deutlich, an die die Bereitstellung dieser Techniken stößt. Daher wird immer wieder die Frage gestellt, ob es in bestimmten Fällen erlaubt, ja tunlich ist, von dem Einsatz bestimmter Mittel Abstand zu nehmen. So pflegt man eine aktive, mit geplantem und eingreifendem Handeln verbundene Gestalt der Sterbehilfe von einer passiven Form zu unterscheiden, bei der man lediglich auf den unbeschränkten Einsatz des ganzen Arsenals der Medizintechnik verzichtet und insoweit der Natur ihren Lauf läßt. Diese Unterscheidung einer durch Handeln von einer durch Unterlassen vermittelten Sterbehilfe ermöglicht Kompromisse: Passive Sterbehilfe halten heute unter definierten Voraussetzungen viele für erlaubt, die für ein striktes Verbot aktiver Euthanasie eintreten.

Die gegenwärtigen Debatten über die Zulässigkeit der Sterbehilfe liefern freilich nicht das Thema, sondern nur die Veranlassung zu den Untersuchungen, die den Hauptteil von Dieter Birnbachers neuem Buch ausmachen. Birnbacher untersucht die Frage, ob es überhaupt möglich ist, generelle Differenzen zwischen Handeln und Unterlassen auszumachen, die unterschiedliche Normierungen beider Verhaltenstypen rechtfertigen könnten, auch dann, wenn ein und dasselbe Resultat sowohl durch aktives als auch durch passives Verhalten vermittelt werden kann. Die Frage nach Handeln und Unterlassen überhaupt verliert die bioethische Problematik nicht aus dem Blick; thematisch zielt sie jedoch unmittelbar auf eines der Grundprobleme der allgemeinen Ethik. In der Vergangenheit hatte die Ethik ihr Interesse freilich mehr auf die Legitimation von Normen als auf jene Analyse des Handelns konzentriert, wie sie vor allem von Juristen, aber auch von Moraltheologen gepflegt wurde. Es gehört zu den Verdiensten von Birnbachers Buch, daß es die von Juristen, insbesondere von Strafrechtlern, geleistete einschlägige Begriffsarbeit, von der Philosophie lange Zeit übersehen, für die Erörterung ethischer Prinzipienprobleme fruchtbar macht.

Birnbacher weiß natürlich, daß gerade in der vortheoretischen Weltorientierung Handlungen und Unterlassungen auf ganz unterschiedliche Weise eingeschätzt werden. Das betrifft nicht nur die Überschaubarkeit der aus jeder der beiden Verhaltensweisen resultierenden Konsequenzen, sondern auch das unterschiedliche Maß des mit ihnen jeweils verbundenen Fehlerrisikos; es betrifft die Tatsache, daß es vornehmlich Unterlassungen und nicht so sehr Handlungen sind, die vom Menschen gerade in den elementaren Stadien der Erziehung und der Sozialisation zunächst gefordert werden, es betrifft aber auch die unterschiedlichen Valenzen, die Handlungen und Unterlassungen zuwachsen können, wenn man sie im Rückblick bewertet.

Birnbacher gesteht jedoch allen derartigen von ihm mit großer Sorgfalt analysierten Differenzen letztlich immer nur pragmatische und psychologische Bedeutsamkeit zu, prinzipielle Relevanz spricht er ihnen ab. Nur in bezug auf eine einzige Gruppe von Fällen gesteht Birnbacher der Differenz von aktivem und passivem Verhalten ausnahmsweise Relevanz auch für die Normierung zu: Es ist der unmittelbar wahrnehmbare größere Bedrohlichkeitseffekt, der vom aktiven, viel weniger dagegen vom passiven Verhalten überall dort ausgeht, wo Schädigungen an Leib und Leben zu erwarten sind. Es ist diese Bedrohlichkeit, die in solchen Fällen - und nur in ihnen - eine im Vergleich mit Unterlassungen strengere Beurteilung von Handlungen rechtfertigen. Dieser Gesichtspunkt der wahrgenommenen Bedrohlichkeit liefert auch den Schlüssel für die Lösung von Extremfallkonstruktionen, die gelegentlich die Grenze des Makabren streifen, etwa von "Überlebenslotterien", wie sie in der bioethischen Diskussion erörtert zu werden pflegen.

Der wesentliche Ertrag von Birnbachers Untersuchungen liegt nicht so sehr in der Hauptthese, die die Berechtigung verneint, dem Unterschied von Handeln und Unterlassen prinzipielle moralische Bedeutsamkeit zuzusprechen, sondern in dem ungewöhnlichen Reichtum an Gesichtspunkten, die aufgeboten werden, um jene Unterscheidung aus immer wieder anderen Richtungen zu beleuchten: Ergebnisse linguistischer Analysen des Verhaltensvokabulars kommen ebenso zur Sprache wie Befunde der Individual- und der Sozialpsychologie; deskriptive und normative Fragestellungen werden sorgfältig auseinandergehalten; die intuitiven, vortheoretischen Weltorientierungen des Alltags kommen in gleicher Weise zu ihren Recht wie Resultate juristischer Distinktionskultur. Daraus wird jeder Nutzen ziehen können, der mit den einschlägigen Themen befaßt ist, ganz unabhängig davon, ob man Birnbachers Nivellierung der Differenz von Tun und Lassen oder die von ihm vorgeschlagenen, an der Realität von Körperbewegungen orientierten terminologischen Festlegungen zu akzeptieren bereit ist oder nicht.

In einem Schlußabschnitt unternimmt es Birnbacher, die Resultate der Prinzipienreflexion für die Lösung der mit der Sterbehilfe verbundenen Probleme fruchtbar zu machen. Den Leser wird es nicht überraschen, daß auch im Umkreis der Euthanasie das Bestreben vorherrscht, Differenzen in der Normierung der aktiven und der passiven Sterbehilfe soweit wie möglich einzuebnen, sofern nicht pragmatische Gesichtspunkte ihr eigenes Recht fordern. Doch nicht dies ist es, was an diesem Buch zum Befremden Anlaß geben kann. Was befremdet, ist eine Haltung, die beispielsweise die in den Niederlanden herrschenden Verhältnisse gewiß nicht kritiklos akzeptiert, die ihnen aber immer noch ein beträchtliches Maß an Verständnis entgegenbringt.

In den Niederlanden wird aktive Sterbehilfe bekanntlich nicht nur auf mehr oder weniger ausdrücklich geäußertes Verlangen hin praktiziert, sondern oft auch in Fällen, in denen der Patient - oder besser gesagt: das Opfer - gar keinen Todeswunsch geäußert hat. Birnbacher meint, die Zulassung aktiven Tötens auch ohne ernstlichen Todeswunsch des Opfers signalisiere hier entgegen dem ersten Anschein nicht notwendig einen Dammbruch im Hinblick auf die Anerkennung des Lebensrechtes des Mitmenschen, jedenfalls nicht dann, wenn man sich jetzt nur offen zu einer ohnehin schon lange geübten Praxis bekenne.

Birnbacher ist nicht unsensibel gegenüber dem Argument des Dammbruchs, der eintreten kann, wenn eine Erlaubnis, die unter Kautelen erteilt wird, Hemmschwellen beseitigt und in der Folge die Respektierung dieser Kautelen illusorisch macht. Gewiß richten Dammbruchargumente, wie Birnbacher richtig sieht, nur wenig an, wenn zugleich bereits die moralischen Basisprinzipien kontrovers sind. Aber gerade deswegen sollte man nicht den Euthanasiegegnern unschuldige oder gar böswillige Mißverständnisse unterstellen, wenn sie darauf aufmerksam machen, daß die Motive derer, die unter dem Euphemismus einer Mitleidstötung Sterbehilfe zur Leidensverminderung praktizieren, irrelevant werden könnten, sobald eine derartige Praxis erst einmal legalisiert ist.

Naiv wäre es, wollte man ignorieren, daß der Streit um die Euthanasie, wie immer es auch mit den Intentionen der unmittelbar Beteiligten stehen mag, heute unter Randbedingungen geführt wird, unter denen die aus der demographischen Entwicklung resultierenden sozialen und ökonomischen Belastungen, im niederländischen Sozialsystem bereits jetzt offenkundig, allmählich wahrnehmbar werden. Birnbacher plädiert nur für die Zulassung einer von Ärzten - warum eigentlich von ihnen? - durchgeführten selbstbestimmten Sterbehilfe zur Leidensminderung unter Sicherheitsvorkehrungen; eine weitergehende Freigabe werde ohnehin von niemandem ernstlich ins Auge gefaßt.

Wie kommt es dann aber zu den schon heute diskutierten Vorschlägen einer Altersgrenze, jenseits deren Bürgerrechte wie etwa das Wahlrecht erlöschen und keine lebensverlängernden medizinischen Behandlungen mehr zulässig sein sollen; wie sind die Planspiele einzuschätzen, die Gesundheitsökonomen schon jetzt im Blick auf eine zukünftige Rationierung medizinischer Leistungen entwerfen? Der Dammbruch in der Frage der Anerkennung des Rechts auf Leben, vor dem immer wieder gewarnt wird, hat sich längst ereignet.

Dieter Birnbacher: "Tun und Unterlassen". Reclam Verlag, Stuttgart 1995. 389 S., br., 18,- DM.

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