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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.1997

Die Pflicht wird Pflichtprogramm
Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckung: Die Moralphilosophin Onora O'Neill läßt ihre Kollegen nachsitzen

Der moderne Liberalismus ist kein Freund der Tugend. Tugenden sind in Fleisch und Blut übergegangene Verhaltensdispositionen, die partikular-lebensweltliche Verpflichtungsverhältnisse reflektieren und die Handlungsfreiheit schon diesseits der Gerechtigkeitsgrenzen einschränken. Die radikalste Darstellung des Spannungsverhältnisses zwischen tugendethischer Orientierungsfestigkeit und rationaler Interessenverfolgung findet sich gleich zu Beginn der Neuzeit, in Machiavellis Porträt des principe nuovo, der als charakterloser und vorurteilsfreier Reflexionsvirtuose für alle Handlungsoptionen offen ist, den bei der Suche nach der nutzenmaximalen Alternative keine tugendethischen Festlegungen hindern.

Diesem Mittelvirtuosen des Liberalismus der individualistischen Rationalität korrespondiert im Lager des Liberalismus der universalistischen Rationalität der Kritikvirtuose des Diskurses. Wie ersterer alle überkommenen Werte und Zwecke instrumentalisiert und vor das Tribunal seiner Interessedienlichkeit zerrt, so problematisiert letzterer alle Traditionen und zieht sie vor das Tribunal diskursiver Geltungsüberprüfung. Beide müssen Tugenden als Freiheitsbarrieren und Rationalitätsfesseln betrachten. Jenem könnten sie Mittel verstellen, diesem das Feld der Geltungskritik einengen. Und daß die Kinder dieser Freiheit, die in ihren Individualisierungsidyllen die Autonomie auf Lifestyle-Niveau herunterbringen, sich durch Tugendpflichten nicht den Spaß verderben lassen wollen, versteht sich von selbst.

Der Liberalismus ist nur bereit, seine Freiheit durch allgemeine Prinzipien der Handlungskoordination einzuschränken. Sein ganzes Wohlwollen gilt daher der Gerechtigkeit. Seine moralische Sprache kreist um den Begriff des Rechts; und Pflichten vermag er nur wahrzunehmen, wenn sie rechtlich Geschuldetes zum Inhalt haben. Damit stößt er auf den Widerstand der Kommunitaristen, die die Orientierung an den allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit durch eine Orientierung an den traditionellen Loyalitäten der kleinen Lebenskreise ersetzen und die Herrschaft des Rechts durch eine Herrschaft der Tugend ablösen möchten. Was in den großen moralphilosophischen Werken von Locke und Kant noch unauflöslich zusammengehörte, ist in der gegenwärtigen Ethik in einen polemischen Gegensatz getreten: hier die Gerechtigkeitsfreunde, die die Tugend des Traditionalismus bezichtigen und den Vorrang des Rechts verkünden; dort die Tugendfreunde, die den Vorzug des Guten beschwören und die universalistischen Prinzipien der Gerechtigkeit unter Herrschaftsverdacht stellen.

Onora O'Neill möchte diese unbefriedigende Konfrontation beenden und das Nachdenken über die Gerechtigkeit und das Nachdenken über die Tugend wieder zusammenführen. Die liberale Überzeugung, eine wohlgeordnete Gesellschaft benötige keine Tugend, ist für sie ein genauso törichtes Dogma wie die komplementäre kommunitaristische Befürchtung, daß die Orientierung an allgemeinen Prinzipien die Vielfalt des Lebens zerstöre und den menschlichen Charakter verflache. In beiden Fällen ist eine Verarmung des ethischen Denkens zu beklagen. Beherrscht der Rechtsbegriff den moralischen Diskurs, werden Pflichten nur noch in Abhängigkeit von Rechten wahrgenommen. Pflichten, denen keine Rechte entsprechen, solche der Nächstenliebe und des Wohlwollens, kommen im dürren Kosmos der Rechtsfreunde nicht mehr vor.

Systematische Unzulänglichkeiten sind, zumal in der Moralphilosophie, häufig das Ergebnis von Vergeßlichkeit und gedankenlosen Preisgaben. Daher kann ein Blick in die Geschichte heilsam sein. Onora O'Neill findet die begrifflichen Mittel für die Zusammenführung des Gerechtigkeits-und Tugenddenkens in der Pflichtenlehre des achtzehnten Jahrhunderts. Deren Herzstück ist die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Sind erstere Rechts- oder Schuldigkeitspflichten, die immer Unterlassungshandlungen zum Inhalt haben, so sind letztere Tugend- oder Liebespflichten, die Begehungshandlungen verlangen. Um dem Diebstahlverbot gerecht zu werden, wissen wir, was wir in jeder Situation gegenüber jedermann zu tun haben. Was wir jedoch tun müssen, um der Tugendpflicht der Hilfeleistung nachzukommen, hängt von vielerlei Bedingungen ab, ändert sich von Fall zu Fall, von Person zu Person. Onora O'Neill erweitert zum einen die liberale Gerechtigkeitstheorie um eine Lehre der unvollkommenen oder Tugendpflichten und ergänzt zum anderen die kommunitaristische Tugendtheorie durch eine Lehre der vollkommenen oder Gerechtigkeitspflichten.

Die Autorin begnügt sich jedoch nicht damit, die Verfehlungen der gegenwärtigen moralphilosophischen Konzeptionen zu brandmarken und ihre komplementäre Lückenhaftigkeit im Rahmen einer umfassenden Pflichtenlehre zu korrigieren. Sie verfolgt vielmehr die ehrgeizige Absicht, die universellen Prinzipien der Gerechtigkeit und der Tugend im Rahmen einer "konstruktiven Darstellung des praktischen Denkens" systematisch zu entwickeln. Was hier jedoch abschreckend als "Konstruktion der praktischen Vernunft" bezeichnet wird, ist die sattsam bekannte Idee, daß nur das als gerechtfertigt gelten kann, was universalisierbar, allgemein zustimmungsfähig, für alle Betroffenen nachvollziehbar, als Ergebnis eines hypothetischen Vertrages denkbar und so weiter und so fort ist. Was die sich an diesem Konstruktionsplan entlanghangelnde "vernünftige ethische Überlegung" ans Licht bringt, ist in der Tat, da ist der Befürchtung der Autorin beizupflichten, "schwach und witzlos". Zwischen kategorischem Imperativ und idealer Sprechgemeinschaft, Schleier der Unwissenheit und Vertrag birgt die Logik der Universalisierung wirklich keine Geheimnisse mehr.

Moralische Untersuchungen sind interessant, wenn sie genau und konkret werden, wenn sie an vorfindbaren Problemlagen die Hintergrundüberzeugungen unserer moralischen Kultur erproben. Sie sind langweilig, wenn sie mühselig konstruieren, was sich ohnehin seit geraumer Zeit von selbst versteht. Philosophen, die derartiges tun, gleichen Leuten, die mitten in einer vollmotorisierten Gesellschaft Baupläne für eine Werkstatt zur Erfindung des Rades zeichnen. WOLFGANG KERSTING

Onora O'Neill: "Tugend und Gerechtigkeit". Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Akademie Verlag, Berlin 1996. 333 S., br., 48,- DM.

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