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»Soziale Konflikte sind nie einfach nur da, sie werden auch gesellschaftlich hergestellt: entfacht, angeheizt, getriggert.«
Von einer »Spaltung der Gesellschaft« ist immer häufiger die Rede. Auch in der Alltagswahrnehmung vieler Menschen stehen sich zunehmend unversöhnliche Lager gegenüber. So plausibel sie klingen mögen, werfen entsprechende Diagnosen doch Fragen auf: Wie weit liegen die Meinungen in der Bevölkerung wirklich auseinander? Und ist die Gesellschaft heute wirklich zerstrittener als zur Zeit der Studentenproteste oder in den frühen Neunzigern? Nicht zuletzt weil man eine…mehr

Produktbeschreibung
»Soziale Konflikte sind nie einfach nur da, sie werden auch gesellschaftlich hergestellt: entfacht, angeheizt, getriggert.«

Von einer »Spaltung der Gesellschaft« ist immer häufiger die Rede. Auch in der Alltagswahrnehmung vieler Menschen stehen sich zunehmend unversöhnliche Lager gegenüber. So plausibel sie klingen mögen, werfen entsprechende Diagnosen doch Fragen auf: Wie weit liegen die Meinungen in der Bevölkerung wirklich auseinander? Und ist die Gesellschaft heute wirklich zerstrittener als zur Zeit der Studentenproteste oder in den frühen Neunzigern?
Nicht zuletzt weil man eine Spaltung auch herbeireden kann, tut mehr Klarheit not. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser kartieren aufwendig die Einstellungen in vier Arenen der Ungleichheit: Armut und Reichtum; Migration; Diversität und Gender; Klimaschutz. Bei vielen großen Fragen, so der überraschende Befund, herrscht einigermaßen Konsens. Werden jedoch bestimmte Triggerpunkte berührt, verschärft sich schlagartig die Debatte: Gleichstellung ja, aber bitte keine »Gendersprache«! Umweltschutz ja, aber wer trägt die Kosten? Eine 360-Grad-Vermessung der Konflikte um alte und neue Ungleichheiten, die eine unverzichtbare Diskussionsgrundlage bietet und viele Mythen entzaubert.
Autorenporträt
Steffen Mau, geboren 1968, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Buch Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (st 5092) stand auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von ZDF, Zeit und Deutschlandfunk Kultur. 2021 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Thomas Lux, geboren 1979, lehrt am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschung zur politischen Soziologie der Ungleichheit wurde unter anderem mit dem Preis der Fritz Thyssen Stiftung ausgezeichnet. Linus Westheuser, geboren 1989, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zu politischen Konfliktstrukturen, Klassen und Moral.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension

Steffen Mau und Thomas Lux erklären im Tagesspiegel-Gespräch, was sie unter "Triggerpunkten" verstehen: "Das sind Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, bei denen sachliche Diskussionen in emotionale umschlagen und sich die Menschen anders positionieren, als sie es zuvor getan haben", führt Mau aus.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2023

Die gespaltene Gesellschaft gibt es nicht

Doch manchen Streit: Drei Berliner Soziologen

legen eine Analyse von Konflikten vor, an denen sich die Gemüter in Deutschland erhitzen.

Sie ist ein großer Wurf.

An soziologischen Diagnosen, die eine tiefe Spaltung und Polarisierung der deutschen Gesellschaft in zwei unversöhnliche Lager beschwören, herrscht kein Mangel. Aber auch die gegenteilige Argumentation, dass es für dieses Narrativ des einen großen Konflikts zwar eine große öffentliche Nachfrage gibt, die empirischen Befunde der Sozialforschung es aber nicht stützen, sind zahlreich und vielfach publiziert worden. Die Gesellschaft ist demnach nicht gespalten, sondern eher zerklüftet - eine Landschaft vieler Konflikte, die sich an ganz unterschiedlichen Fragen entzünden. Aber ein soziologischer Atlas der deutschen Konflikte wäre noch keine Gesellschaftstheorie. Diese müsste die Konflikte aus einer verbindenden Erfahrung erklären, mit deren Hilfe man die Konfliktlandschaft erstens in ein erklärendes Schema verwandeln könnte. Und zweitens begründen könnte, warum manche Konflikte kaum wahrgenommen werden, während andere die volle öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Eine politische Konfliktsoziologie sozialer Ungleichheiten also, ergänzt durch ein sozialpsychologisches Interesse an Wahrnehmungsdifferenzen. Ungleichheiten, die ganz ungleich polarisieren: Eine Studie, die mit dieser Formel die deutsche Gesellschaft genauer und (politisch) brauchbarer darstellen könnte als die vorhandenen Gesellschaftstheorien, wäre ein großer Wurf. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser ist das gelungen.

Die drei Berliner Soziologen stellen gleich zu Beginn ihres Buches klar, dass sie von der These einer Spaltung der deutschen Gesellschaft im Sinne der Cleavage- oder Klassen-Theorie nichts halten. Man müsste dazu von einer zunehmenden Identität der sozialen und der politischen Landkarte ausgehen, etwa in ein kosmopolitisches Oben und ein rechtskonservatives oder kommunitaristisches Unten. Die Empirie stütze diese These einer gleichzeitigen kulturellen, materiellen und politischen Polarisierung der Gesellschaft ganz eindeutig nicht. Sie tauge als "argumentativer Reibebaum", aber im Kern des Buches stehe ein tieferes Verständnis der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und ihrer sozialstrukturellen "Lagerung": Wer streitet mit wem worüber und warum in welchen Konfliktarenen?

Die Forschungsstrategie von Mau, Lux und Westheuser ist also ein Disaggregieren des angeblichen polaren Konfliktraums in viele Räume, die sie Ungleichheitsarenen nennen. Das Ergebnis lässt sich natürlich nicht so griffig erzählen wie die Spaltungsgeschichte. Dafür sind die Befunde dieser Studie zahlreicher, präziser und unerwartet. Die Lektüre des Buches hat streckenweise etwas von einem Wahlabend vor dem Fernseher: Die Prognosen der Spaltungsthese erweisen sich als falsch, es gibt vielmehr überraschende Gewinner und Verlierer, und selbst neue Mehrheiten erweisen sich als möglich.

Methodisch ist dafür nötig, sich auf bestimmte Konflikte zu konzentrieren, die für eine politische Soziologie und Gesellschaftstheorie ergiebiger sind als andere. Die Autoren ziehen dafür Ungleichheitskonflikte heran, also Auseinandersetzungen, in denen es um Soll und Haben geht, um Begünstigung und Privilegierung einiger und der Benachteiligung und Diskriminierung anderer, um Lebenschancen, Ressourcen, Rechte und Anerkennung. Wer soll gerechterweise wie viel bekommen? Wer gehört dazu, wer soll draußen bleiben? Was schulden wir den nach uns Kommenden?

Das allein für die deutsche Gesellschaft in der Kombination eigener quantitativer und qualitativer Erhebungen zu kartographieren wäre schon ein respektables Unternehmen. Gesamtpanoramen werden, wie die Autoren zu Recht bemerken, in der zersplitterten Ungleichheitsforschung schließlich kaum noch versucht. Doch wie der Titel schon verspricht, geht das Buch einen entscheidenden Schritt weiter: Was die Forschung etwa als dramatische Ungleichheit innerhalb der Gesellschaftsstruktur identifiziert, kann die Mitglieder dieser Gesellschaft völlig kaltlassen, während kleine und feine Unterschiede in anderen Ungleichheitsarenen Stürme kollektiver Entrüstung auslösen können.

Bekanntlich öffne sich die Schere zwischen Arm und Reich in der deutschen Gesellschaft immer mehr. Zwar langsam, aber stetig. Doch gerade dieser sehr reale Ungleichheitskonflikt lasse die Deutschen erstaunlich kalt, so die Verwunderung der Soziologen. Es "triggert" kaum jemanden so richtig. Ließen sich dafür typische Gründe herausarbeiten, also immer wieder vorkommende Normalitätsverstöße, Verlustbefürchtungen, Überforderungen oder Grenzverletzungen? Was geht den Deutschen an die Substanz, wann reicht es den Menschen, wann kippt eine Stimmung oder bricht eine Grunderwartung endgültig auseinander? Das analytische Werkzeug der Triggerpunkte ist neu, in Verbindung mit einer fundierten Konfliktsoziologie hat das noch niemand für den deutschen Kontext genutzt. Aber wie unübersichtlich wird das? Endet so ein Vorhaben in einem sozialpsychologischen Wimmelbild der deutschen Gereiztheit, der Launen, Beleidigungen, Empörungen, hysterischen Aufgeregtheiten und nervösen Stimmungen?

Es zählt zu den analytischen Leistungen dieses Buchs, dass die Autoren hier zu einer ordnenden Typologie von vier Triggern finden: gebrochene Egalitätserwartungen, Enttäuschungen von Normalitätserwartungen, Verletzungen von Kontrollerwartungen und Eingriffe in Autonomieerwartungen. Man könnte diese Erwartungen auch auf die Formel bringen, dass sie eigentlich den stillschweigend vorausgesetzten Gesellschaftsvertrag repräsentieren. Das Aufblitzen von Konflikten an diesen Punkten erhelle darum auch die "Gesamtkontur des gesellschaftlichen Moralgerüstes", das ansonsten im Dunkeln bliebe. Das Buch enthält viele solcher erhellenden Sätze, die die Härte der heutigen Konflikte und ihre politische Brisanz verraten. So würden die unteren Schichten mangels anderen, die noch weiter unten stünden, inzwischen nach außen treten: Insbesondere in den unteren Statuslagen würden Oben-unten-Konflikte in "ethnisierte Innen-Außen-Konflikte" umgedeutet. Was diejenigen, die da unten noch arbeiten, also triggere, seien die "faulen Arbeitslosen" und die "angeblichen Flüchtlinge". Hier zeigten sich "entscheidende Bruchstellen der kollektiven Solidarität". Aber auch hier finden die Autoren dann wieder eine überraschende Koalition: Denn wer stimme eher der Aussage zu, dass Armut in erster Linie eine Frage der Leistungsbereitschaft ist? Die Arbeitgeber und die Arbeiter. Aber nicht die akademisierten Angestellten. Die neigten ohnehin eher einer "privatisierten Statussicherung" zu, soll heißen: Armut sei schon schlimm, heißt es da in der oberen Mittelschicht. Aber man selbst sei ja nicht betroffen, sondern schicke die Kinder dann eben auf die Privatschule, wenn die öffentlichen Schulen ethnisch kippten. Auch so zerfällt Gesellschaft.

Es ist Mau, Lux und Westheuser anzurechnen, dass sie ihre Studie im Unterschied zu manchem Kollegen nicht gleich zum Anlass nehmen, die neue Epoche einer "Triggergesellschaft" auszurufen. Und das, obwohl ihre "moralische Kosmologie der deutschen Gesellschaft" keinen Zweifel daran zulässt, dass in unserer Gesellschaft derzeit wohl vieles vielen viel zu weit geht. GERALD WAGNER

Steffen Mau / Thomas Lux / Linus Westheuser: "Triggerpunkte". Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 540 S., Abb., br.,

25,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»[Dieses] Buch hat die Kraft, die gängige Erzählung zu verändern. Denn der Berliner Makrosoziologe Steffen Mau ... zerrupft gemeinsam mit zwei Kollegen eine der populärsten Thesen seines Fachs: die gesellschaftliche Polarisierung ...« Tobias Becker DER SPIEGEL 20231211

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.12.2023

Geschenke
für den Kopf
Weihnachten ist die Zeit der Bücher,
Filme und Musik.
Empfehlungen aus dem
Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“.
Von SZ-Autorinnen und -Autoren, Illustrationen: Felix Hunger
Marie Schmidt
Einen historischen Augenblick lang mag man gedacht haben, Marlen Haushofers Literatur sei altmodisch geworden. Die Isolation ihrer weiblichen Hauptfiguren, die in aller Normalität lauernde Grausamkeit, die Entfremdung zwischen den Geschlechtern, der Wunsch, alles abzubrechen und die unheilvolle Zivilisation hinter sich zu lassen, gehörten zu einer Frauenbiografie der Nachkriegszeit. Heute liest man ihr Werk unter dem Eindruck neuer Katastrophen, ökologischer Zerstörung, immer wieder ausbrechender Kriege vielleicht anders. Aber ihr schlichter Stil, ihre psychologische Gnadenlosigkeit bleiben unvergleichlich. Am bekanntesten wurde ihr Roman „Die Wand“, aber die anderen Romane und vor allem ihre Erzählungen sind, weil sie ohne das sensationelle Plot-Element der unsichtbaren Wand im Gebirge auskommen und schrecklich realistisch wirken, noch erschütternder. Der Mangel an einer Gesamtausgabe ist lange beklagt und jetzt behoben worden. In sechs Bänden mit Vorworten von Clemens J. Setz, Antje Rávik Stubel, Monika Helfer und anderen und Nachworten der Herausgeber gibt es nun die ganze Haushofer. Die Atmosphäre ihrer Bücher verändert das Leben ihrer Leserinnen und Leser für immer.
Marlen Haushofer: Die gesammelten Romane und Erzählungen. Claassen, Berlin 2023, 6 Bände, 2000 Seiten, 90 Euro.
Jens-Christian Rabe
Bücher, die sich an einer schlüssigen Analyse der anhaltenden Krise unserer Gesellschaft und Demokratie versuchen, gab und gibt es viele. Keines konnte in diesem Jahr so überzeugen wie „Triggerpunkte“, das der Berliner Soziologie-Professor Steffen Mau gemeinsam mit Thomas Lux und Linus Westheuser geschrieben hat. Mithilfe einer großen Menge sozialstatistischer Daten und der Ergebnisse eigener Umfragen gingen die Forscher der Frage nach, wie groß die viel beschworene Uneinigkeit bei Themen wie dem Klimawandel, Armut und Reichtum, Diversität und Gender und Migration wirklich ist. Ergebnis: eigentlich viel kleiner als gedacht. Hinter diesem beruhigenden Befund entdeckten Mau und Co. allerdings einen ungleich beunruhigenderen: Die Radikalisierung der politischen Ränder frisst sich langsam in die Mitte – und sachliche Politik hat es zunehmend schwer gegen eine Politik, die nur noch nach dem nächsten Aufregerthema schielt. Kein besinnliches Buch, aber eines über den unschätzbaren Wert der Besonnenheit.
Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser: Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 534 Seiten, 25 Euro.
Gustav Seibt
Deutsche Geschichte seit 1942 als kollektive Autobiografie, so lässt sich das Besondere von Frank Trentmanns Darstellung zusammenfassen. Es geht nicht nur um soziale Prozesse und dramatische Wendepunkte, sondern darum, was in der deutschen Gesellschaft dazu gefühlt, erkannt, gewollt, moralisch geurteilt und besprochen wurde. Trentmann legt über die Ereignisgeschichte eine zusätzliche Schicht, die der begleitenden Selbstreflexion, mit all ihren Widersprüchen, ihrem Streit, ihren Irrtümern und Lernprozessen. Das ist originell, erleuchtend und unterhaltsam. Wir erkennen uns wieder und staunen!
Frank Trentman: Aufbruch des Gewissens – Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute. Fischer, Frankfurt am Main, 2023, 1036 Seiten, 48 Euro.
Tanja Rest
Schon klar, Deutscher Buchpreis 2023, zurzeit also auf wirklich jedem Büchertisch prominent in die Höhe gestapelt, aber wenn ein Buch dann so lustig, böse, sentimental und entertaining ist (also wienerisch), wenn es die Coming-of-Age-Geschichte eines Computerspiele-Nerds im Dunstkreis eines Wiener Elitegymnasiums ansiedelt, wo sich feuerzangenbowlehafte Streiche mit dem Erleben puren Terrors verbinden, wenn darin so herrliche Figuren auftreten wie Feli und Fina aus der Raucherecke, Lord Voldemort alias „der Dolinar“ als Klassenvorstand sowie die Top-Ten-Spieler von „Age of Empire 2“, dann ist dieses Deutsche-Buchpreis-Buch gar nicht fürs Bildungsbürgerpublikum geschrieben, sondern für jeden, der einmal wirklich jung war.
Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Rowohlt, Hamburg 2023, 368 Seiten, 24 Euro.
Moritz Baumstieger
In der Geschichte der Menschheit sind schon ein paar Bücher über Rom geschrieben worden. Und ein, zwei, drei davon sind auch sicher lesenswert. Mit „Die Stadt der Lebenden“ ist ein weiteres dazugekommen, auch wenn sein Sujet zunächst wie True-Crime-Trash wirken mag: Es erzählt einen Mord von 2016 nach, im Drogenrausch stachen da zwei junge Männer einen Gelegenheitsstricher bestialisch ab. Der Fall erregte in Italien großes Aufsehen, packte auch Nicola Lagioia, Journalist, Schriftsteller und Leiter der Turiner Buchmesse. Seine Collage aus akribischer Recherche, Interviews mit Angehörigen und Überlebenden und Beobachtung erzählt viel über Italien, dessen Medien und Politik, über die Menschen – und ja, eben auch über Rom.
Nicola Lagioia: Die Stadt der Lebenden. btb, München 2023, 512 Seiten, 25 Euro.
Kathleen Hildebrand
Ein Roman mit einem Riesenkalmar, also einer Art sehr großem Kraken als Hauptfigur, wäre schon ungewöhnlich. Wenn es sich nicht um ein Kinderbuch handelt: noch ungewöhnlicher. Wenn es weitgehend aus der Perspektive nicht des Kraken selbst, sondern eines seiner Arme erzählt ist: sehr, sehr ungewöhnlich. Luca Kiesers hochexperimenteller und dennoch rasend unterhaltsamer Roman stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Er ist an keiner Stelle erwartbar, herkömmlich, und ja, manchmal ist er nicht ganz leicht zu lesen, sondern Vollwertkost fürs Gehirn, ein Buch, das verändert, wie man über das Tier als Gegenüber des Menschen denkt. Er erzählt von einem Riesenkalmar, mit dem mehrere Generationen einer Menschenfamilie verbunden sind, und von der unentwirrbaren Verflechtung von Mensch und Natur, die oft genug ein Problem sein kann. Aber manchmal auch die Lösung.
Luca Kieser: Weil da war etwas im Wasser.
Picus Verlag, Wien 2023, 320 Seiten, 26 Euro.
Wenn man das nur auch so hinbekäme. Der kleine Bo soll ins Bett, er will aber nicht so richtig. Stellt sich auf ein Bein und sagt: Ich schlafe doch schon. Ich bin ein Papagei. Und die Mutter: schimpft nicht, sondern steigt ein in sein Spiel und lenkt es geschickt. Der Vogel muss was essen, dann wird er zum Otter in der Badewanne, zum Walross, das Zähne putzt, und schließlich zum Erdmännchen, das sich zwischen vielen Kuscheltieren im Bett einmummelt. Kjersti Skomsvold ist eine der bekanntesten norwegischen Schriftstellerinnen, sie hat ein berückendes Buch über Mutterschaft geschrieben, und auch ihr Kinderbuchdebüt ist warmherzig, originell, besonders. Die wilden, warmfarbigen Illustrationen von Mari Kanstad Johnsen sind lustige Suchbilder, in denen die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen. Ein Gutenachtbuch, nach dem in Träumen alles möglich ist.
Kjersti Annesdatter Skomsvold: Alle schlafen (bis auf Bo), Gerstenberg, Hildesheim 2023, 72 Seiten, 20 Euro.
Laura Hertreiter
Normalerweise, schreibt Emmanuel Carrère, versuche Propaganda, das Grauen zu kaschieren. „Hier stellt es sich aus.“ Er schreibt über das Jahr 2015, als sich an einem Freitag, dem 13. im November – einem vendredi 13, wie man in Frankreich sagt –, in der Pariser Konzerthalle Bataclan, auf den Terrassen mehrerer Cafés und vor einem Stadion sieben IS-Terroristen in die Luft sprengten. 131 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Den darauffolgenden Gerichtsprozess „V13“ hat Carrère im vergangenen Jahr als Reporter für den Nouvel Observateur begleitet und daraus ein unglaubliches Buch gemacht. Darin montiert er mit Zeugenaussagen und Massakerbeschreibungen zm historischen Dokument. Er erzählt, wie sich Menschen in Todesgefahr zueinander verhalten. Erzählt von den Schuldgefühlen Überlebender, die sich über tote Körper hinwegretteten. Und er fragt nach den Gründen, die Menschen zu Terroristen machen. Er hat, ohne es zu wissen, mitten ins Jahr 2023 hineingeschrieben.
Emmanuel Carrère: V13: Die Terroranschläge in Paris. Matthes & Seitz, Berlin 2023, 275 Seiten, 25 Euro.
Cornelius Pollmer
Sie habe, schreibt Anja Reich, niemanden in der DDR gekannt, dem es so gut gegangen war wie ihrer Freundin Simone. Die Freiheit treibt beide nach dem Mauerfall auseinander, aber sie halten Kontakt. Eines Tages telefonieren sie, Reich passt es gerade nicht und auch nicht am Tag darauf. Zwei Stunden später nimmt Simone sich das Leben. Und 27 Jahre später gibt es dieses Buch, das einfach so heißt wie sie, die verlorene Freundin: „Simone“. Wer war diese Frau, und warum hat sie ihr Leben beendet? Anja Reich hat diese Frage nie verlassen – und sie geht ihr nun in beeindruckender Weise behutsam nach, mit aufrichtigem Interesse, mit Akribie und ohne jeden Kitsch.
Anja Reich: Simone, Aufbau, Berlin 2023, 304 Seiten, 23 Euro.
Peter Richter
Jörg Buttgereit ist tatsächlich der Sohn eines Bierkutschers und hatte das Glück, im Berlin der Siebziger und Achtziger aufzuwachsen, auch noch auf der richtigen Seite der Mauer. Jedenfalls war er bei absolut allen Konzerten dabei, beim ersten der Dead Kennedys im SO36 und beim allerletzten von Led Zeppelin, er war Dekorateurslehrling neben Dirk Felsenheimer, Schlagzeuger von Die Ärzte, und er hat auf Super-8 Filme gedreht, die zum Welterbe des transgressiven Kinos gehören, darunter „Nekromantik“ und „Nekromantik 2“. Seine Autobiografie ist ein großes, oft ein bisschen ekliges Vergnügen – und eigentlich eine aus dem privaten Fotoalbum hinreißend illustrierte Kulturgeschichte des späten West-Berlin.
Jörg Buttgereit: Nicht jugendfrei! Tagebuch aus West-Berlin. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2023, 368 Seiten, 36 Euro.
Jonas Soubeyrand ist tatsächlich der Sohn von Wolf Biermann und hatte das Glück, im Berlin der Siebziger und Achtziger aufzuwachsen, auch noch auf der richtigen Seite der Mauer. Das sah er zwar oft anders, etwa wenn Halbschwester Nina Hagen Karten aus New York schrieb. Aber so war er Zeitzeuge des Ostberliner Undergrounds: Wenn das Rhizom der Musiker um Bands wie Die Firma, Ich-Funktion, Freygang und Feeling B eine Art Zentrum hatte, dann war das offensichtlich er. Seine Autobiografie (unter dem Pseudonym eines Puppenspielers Klaus Thaler) hat auf den ersten Blick eine verwirrende Struktur. Auf den zweiten ist sie ein großes, oft ein bisschen melancholisches Vergnügen – und eigentlich eine aus dem privaten Fotoalbum grandios illustrierte Kulturgeschichte des späten Ost-Berlin.
Klaus Thaler: Eine Puppe packt aus. Verlag Theater der Zeit, Berlin 2023, 333 Seiten, 22 Euro.
Willi Winkler
Eine verspätete Entdeckung und deshalb mit größter Brandeiligkeit weiterempfohlen: Die Geschichte von Miriam „Midge“ Maisel, die aus Unglück und Versehen zum Comedian wird, ganz klein in Greenwich Village anfängt, sofort verhaftet wird wegen ungebührlichen Betragens, aber vor allem berühmt, weil sie auf der Bühne alles über sich und ihre noch verrücktere Familie erzählt. Ganz New York ist dabei: die jüdische Intelligenz, die chinesische Mafia, der italienische Liebhaber, die kurz geratene Theateragentin. Mad Men, nur viel besser. Für die fünf Staffeln, die etwa beim Streamingdienst Amazon Prime verfügbar sind, lohnt es sich, eigens Englisch zu lernen. Und erst die Kleider und die Hüte! Die kann man jetzt sogar in einem extra Bildband bewundern. Frau müsste man sein oder Midge Maisel.
Donna Zakowska: Madly Marvelous – The Costumes of The Marvelous Mrs. Maisel. Abrahams & Chronicle Books, London 2021, 303 Seiten, 38,55 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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