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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2002

Erfüllte Wünsche werden nicht geträumt
Einen zeitlosen Urtext hat es nie gegeben: Lydia Marinellis und Andreas Mayers Buchgeschichte über Sigmund Freuds „Traumdeutung”
Kürzlich ist in Wien ein Buchjuwel erschienen – eine Geschichte der „Traumdeutung” Sigmund Freuds mit einem Anhang bisher unveröffentlichter Dokumente, darunter (kaum zu ahnen) eine von Alexander Freud, dem Bruder Sigmunds, stammende Gegentheorie des Traums.
Objekt der Rekonstruktion sind nicht die im Megabuch der psychoanalytischen Bewegung enthaltenen Lehrsätze, sondern die Veränderungen, die das Werk nach der im Spätherbst 1899 veröffentlichten Erstausgabe bis zur achten Auflage im Jahre 1930 erlebt hat. Zudem hat die von Lydia Marinelli und Andreas Mayer vorgeschlagene Rekonstruktion nichts mit üblicher Ideengeschichte zu tun. Wer wissen will, welche Revisionen Freud seiner Traumtheorie nach und nach auferlegt hat, muss auf andere Sekundärliteraturen zurückgreifen, von denen es inzwischen unerschöpflich viele, abgründig widersprüchliche oder unerträglich hagiographische gibt.
„Träume nach Freud” entwirrt einfach die überkreuz verlaufenden Fäden, die in Reaktion auf die „Traumdeutung” zuerst in Wien, dann in Zürich, Berlin und anderswo gesponnen wurden, um anschließend von Freud aufgegriffen und in die jeweilige Revision der Nachauflagen eingewoben zu werden. Weil die Geschichte des Buches, nicht das Leben seines Urhebers und erst recht nicht die späteren Kriege um psychoanalytische Wahrheiten dargestellt werden, besticht diese Studie, in der leise Anklänge an den von Roger Chartier vertretenen Ansatz der Buchgeschichte unüberhörbar sind. So braucht sich das Autorenduo um die letztlich überflüssige Frage auch nicht zu scheren, ob der Urheber der „Traumdeutung” ein Genie, ein Scharlatan, ein großartiger Schriftsteller oder der Begründer einer neuen Wissenschaft war.
Mit der „Traumdeutung” geriet das traditionelle Rollenrepertoire der medizinischen Praxis durcheinander. Statt über hysterische Anfälle oder über die Ursachen der Neurosen Abhandlungen zu schreiben, quälte sich der an der Berggasse 19 im IX. Wiener Bezirk praktizierende Freud mit einer Selbstanalyse. Die „Traumdeutung”, die aus dieser Selbstanalyse hervorging, wimmelte von Einzelheiten aus dem Nachtleben ihres Autors. Diese Einzelheiten wurden so beschrieben, als sei Freud von einem medizinisch bewanderten Doppelgänger angehalten worden, auch peinlichste Details zu verraten. Während solche Details, wenn sie denn einem Arzt verraten wurden, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, entließ Freud sie ganz offiziell mit seinem Buch in die Kommunikationskanäle seiner Zeit, in der Annahme, dass seine in der imtim-publiken Doppelrolle durchgeführte Selbstanalyse als Paradigma dienen würde, an dem die Technik des Traumdeutens erlernt werden könne.
Theoriekonformes Träumen
Die Strategie ging nicht auf. Die frühesten Rezeptionsspuren der „Traumdeutung” legen den Schluss nahe, dass die Interpretationstechnik sich nicht befolgen ließ wie eine Gebrauchsanweisung. So wurde Freud erneut gefordert – diesmal als einer, der willigen Traumdeutungslehrlingen Nachhilfe erteilte. Doch auch dieser Nachhilfeunterricht führte nicht zum durchschlagenden Erfolg. Und was sollten Ärzte tun, die in Zürich oder anderswo zwar an der jungen Psychoanalyse interessiert waren, die es sich aber nicht leisten konnten, für einige Wochen nach Wien zu reisen, um dort das Traumdeuterhandwerk beim Meister zu lernen?
Das Problem wurde durch Arbeitsteilung gelöst: Carl Gustav Jung und sein Kollege Eugen Bleuler notierten ihre Träume, versuchten sich an Deutungen, kommentierten die Deutungsversuche und überließen diese Schriftstücke der Post. Und diese transportierte sie, gegen neugierige Blicke der Postboten durch Umschläge abgeschirmt, für ein bescheidenes Porto nach Wien. Auf diese Weise erlebte die Psychoanalyse ein kurzes postalisches Zwischenspiel, das im Buch von Marinelli und Mayer durch die Erstveröffentlichung diverser Briefe aus der Hand Bleulers dokumentiert ist.
Freuds Selbstanalyse wurde in Wien besonders gern von dessen Patientinnen gelesen. Diese entwickelten sogar die Neigung, theoriekonform zu träumen. Die „Traumdeutung” hatte durch das Gelesenwerden eine Wirkung entfaltet, die der Kur nicht förderlich war, was wohlwollende Kritiker Freuds bewog, einen anderen Schlüssel zum neurotischen Trauma zu basteln. So präsentierte der Sexualforscher und Psychotherapeut Wilhelm Stekel dem neugierigen Publikum eine Reihe von Traumanalysen in Dialogform, die wohl leichter zu rezipieren waren als die gelehrte Prosa Freuds. In diesen Analysen bildete der erste Traum, der noch vor dem eigentlichen Beginn der Behandlung geträumt wurde, den Königsweg zum Kern der Neurose. Zudem riet Stekel von der Verwendung einer Couch ab. Und weil das Verhalten der Kranken nicht weniger aufschlussreich sei als das Aussprechen von Träumen und Gedankenassoziationen, dürfe sich ein Arzt nicht allein aufs Gehör verlassen. Deshalb riet Stekel zur Verwendung „eines Schreibtisches. Dort sitzt der Arzt, ihm zur Seite der Patient, auf dem Schreibtisch liegt ein Blatt Papier, auf dem die wichtigsten Einfälle des Kranken gleich notiert werden. Der Patient sitzt, hat er einen größeren Aktionsradius, kann aufspringen und Symptomhandlungen ausführen.” Das Ausagieren, das die Kranken nach eigener Regieanweisung vollzogen, die rasche Diagnose der Störung aufgrund der Interpretation eines einzigen Traums, die räumliche Gestaltung des Behandlungszimmers – all das entsprach nicht mehr dem in der „Traumdeutung” programmatisch beschriebenen psychoanalytischen Selbsterkenntnisprozess.
Kollektives Deuten
Diese und andere Revisionen der frühen Psychoanalyse ließen Zweifel daran aufkeimen, ob die Behandlungstechniken am Einzelmodell Freuds überhaupt erlernbar seien. Da die Zweifel nicht auszuräumen waren, versuchte man es mit einem kollektiven Forschungsprojekt. Man begann, Traummaterial zu sammeln, um daraus ein Verzeichnis der Traumsymbole zu konstituieren. An diese Kollektivarbeit knüpfte Freud in den Bearbeitungen seines Buches ab der dritten Auflage von 1909 an. Zudem gab er seinem Kollegen Otto Rank die Möglichkeit, mehrere Passagen zur vierten Auflage von 1914 beizusteuern. Mittelbar und unmittelbar schrieben die Traumsammler und Symboltaxonomen der frühen psychoanalytischen Bewegung an dem Buch, das heute unter unverändert gebliebenem Titel angeboten wird, fleißig mit. Nur wird das längst nicht mehr beachtet und bedacht. Der um die Symbolik erweiterte Text wird so aufgenommen, als handele es sich um den zeitlosen Urtext der „Traumdeutung”.
Unter den aus Archivbeständen präsentierten Materialien gehört die Traumgegentheorie Alexander Freuds sicherlich zu den interessantesten. Sigmunds jüngerer Bruder war ein angesehener und sozial erfolgreicher Eisenbahnexperte. Er hatte die Entstehung der „Traumdeutung” mitverfolgt; auch las er das Buch wohl mit der gleichen Akribie, mit der er Logistikprobleme des Eisenbahnverkehrs in der Doppelmonarchie löste. Nach der Drucklegung des Werks ergriff er die Gelegenheit, die Lehren seines Bruders mit Hingabe und scherzhaften Untertönen kritisch zu würdigen.
Daraus wurde ein im Jahr 1900 entstandenes, wenige Seiten umfassendes Manuskript. Es trägt den Titel „Die Traumdeutung von Prof. A. Freud”. Wie die nunmehr mögliche Rekonstruktion der parallelen „Traumdeutungen” offenbart, stimmten die Brüder darin überein, dass dem Traum eine „subjektive, wunscherfüllende Funktion zukommt”. Widerspruch regte sich in Alexander aber gegen die Annahme, jeder Traum sei eine Wunscherfüllung: „Aus zahllosen Träumen meiner Freunde, sowie aus meinen eigenen war es mir möglich zu konstatieren, dass der Traum die Erfüllung nur derjenigen Wünschen mit sich bringt, die im Wachen nicht erfüllt wurden”, schrieb er. „Erfüllte Wünsche werden nicht geträumt.”
Wer sich ohne Scheuklappen auf die Studie einlässt, findet in ihr eine Fülle von Informationen, die man mangels einer überfälligen und ihres Namens würdigen kritischen Ausgabe des Buches mühsam zusammentragen müsste. Schon deshalb sei die Studie als Begleiterin der „Traumdeutung” empfohlen. ALEXANDRE MÉTRAUX
LYDIA MARINELLI und ANDREAS MAYER: Träume nach Freud. Die „Traumdeutung” und die Geschichte der psychoanalytischen Bewegung. Turia und Kant Verlag, Wien 2002. 217 Seiten, 22 Euro.
Alexander Freud
Foto: Sigmund Freud-Museum,
Wien
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Das Jahr 1899 ist das Jahr, in dem Freuds Epoche machendes Werk "Traumdeutung" erschien. Allerdings, muss man nach Lektüre dieses Bandes wohl einschränken, in einer durchaus vorläufigen Form: Bis ins Jahr 1930 nämlich hat Freud das Werk immer wieder umgearbeitet und angereichert, indem er nicht zuletzt auf Forschungsergebnisse anderer Psychoanalytiker reagiert hat. Das Buch dokumentiert diese Änderungen, aber auch die Briefe mit Verbesserungsverschlägen, die Eugen Bleuler an Freud schickte. Als hochinteressanten Fund bezeichnet der Rezensent Alexandre Métraux überdies einen im Anhang abgedruckten, nicht ganz ernst gemeinten Gegenentwurf zur Traumdeutung aus dem Jahr 1900, von Freuds jüngerem Bruder Alexander. Dieser Band, so Métraux, ist für jeden ernsthaft an der "Traumdeutung" Interessierten beinahe unverzichtbar - wenigstens solange es keine kritische Edition des Textes gibt.

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