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In der Kontroverse um Sterbehilfe geht es nicht nur um Gesetze. Weit mehr als das stehen neue Bilder von Tod, Jenseits und Individualität in der alternden Gesellschaft zur Debatte, die an den Grundsätzen unserer politischen und moralischen Kultur rührt wie kaum eine andere. Infolgedessen werden Sterbeprozesse häufig mit politischen Ansprüchen vom guten Leben und guten Sterben überfrachtet. Matthias Kamann stellt in seiner Streitschrift dagegen konsequent das individuelle Sterben in das Zentrum der Diskussion. Gegen alle »Dammbruch«-Warnungen und gegen alle Forderungen nach unbeschränkter…mehr

Produktbeschreibung
In der Kontroverse um Sterbehilfe geht es nicht nur um Gesetze. Weit mehr als das stehen neue Bilder von Tod, Jenseits und Individualität in der alternden Gesellschaft zur Debatte, die an den Grundsätzen unserer politischen und moralischen Kultur rührt wie kaum eine andere. Infolgedessen werden Sterbeprozesse häufig mit politischen Ansprüchen vom guten Leben und guten Sterben überfrachtet. Matthias Kamann stellt in seiner Streitschrift dagegen konsequent das individuelle Sterben in das Zentrum der Diskussion. Gegen alle »Dammbruch«-Warnungen und gegen alle Forderungen nach unbeschränkter Autonomie plädiert er für eine verantwortete Selbstbestimmung bei Patientenverfügungen und Suizid-Assistenz für Schwerstkranke.
Autorenporträt
Kamann, MatthiasMatthias Kamann (Dr. phil.) ist Politik-Redakteur der Tageszeitung »Die Welt« in Berlin und schreibt dort unter anderem über Sterbehilfe und Patientenverfügungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2010

Wehe, wer keine durchsetzungsfähigen Angehörigen hat
Matthias Kamann warnt vor Idealbildern des Sterbens und flüchtet sich am Ende in leere Formeln

Die Kontroverse um die Sterbehilfe geht bei den Protagonisten mit einem erstaunlichen Verzicht auf Selbstzweifel einher. "Obwohl man es mit dem Tod zu tun hat - und zwar nicht mit dem lebenssatten eines Methusalems -, ist von Unglück, Scheitern, Resignation, Kapitulation oder den Grenzen menschlicher Möglichkeiten nirgends die Rede", bemerkt der Journalist Matthias Kamann in seinem Buch "Todeskämpfe". "Stattdessen von Machbarkeiten und Problemlösungen, die leider von der jeweils anderen Seite desavouiert werden, weshalb es unbedingt nötig sei, dass die je eigene Fraktion die Sterbekontrolle erhält/behält."

Kamann erinnert demgegenüber an die schlichte, in der Hitze des Kampfes um die Definitionshoheit über den Sterbevorgang aber häufig zu kurz kommende Einsicht, dass es hier nichts Gutes, sondern allenfalls ein weniger Schlechtes gibt. Wenn ein Mensch, einst freudig begrüßt und erwartungsvoll in die Welt getreten, in einem nach Kot und Urin stinkenden Krankenzimmer seiner Auflösung entgegenröchelt, so ist dies ein schreckliches Geschehen, das man nicht durch die unreflektierte Übertragung von Beglückungsformeln um seinen Ernst bringen darf. "Sinnvoll lässt sich mithin nicht darüber diskutieren, auf welche Weise man das Individuum am besten, glänzendsten, stärksten, würdigsten im Sterben verwirklichen kann, sei es durch Palliativmedizin oder durch Suizid-Assistenz. Zu diskutieren ist allein darüber, wie wir das Individuum in jener Phase achten, da es zerbricht."

Den Sterbenden zu achten heißt in einer weitgehend entchristlichten und postheroischen Gesellschaft in erster Linie, es ihm nach Möglichkeit zu ersparen, noch etwas für die Zurückbleibenden tun zu müssen. Dammbruch- und Missbrauchsargumente, die die Dispositionsfreiheit des Sterbenden aus der Sorge um das künftige Schicksal der Zurückbleibenden einschränken, sind deshalb nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Wie Kamann zeigt, muss man sehr gute Gründe haben und massive, evidente Bedrohungen der Gesamtgesellschaft vorweisen können, um einem Individuum, das seinen Tod vor Augen hat, Vorschriften machen und ihm die Erfüllung seiner Wünsche verweigern zu dürfen. Nicht der Sterbende soll uns helfen, indem er unseren Ängsten zuliebe länger leidet, sondern wir, die noch Lebenden, sollen ihm die Last und die Angst der großen Passage tragen helfen.

Die Entscheidung, wann es genug ist, steht in erster Linie dem Sterbenden selbst zu. Sein Nein zur Weiterbehandlung, gleichgültig ob in der aktuellen Entscheidungssituation vorgebracht oder in einer Patientenverfügung antizipiert, ist verbindlich. "Wenn eine Behandlung abgelehnt wird, hat man sie nicht durchzuführen. Punkt." Ist das Elend so groß geworden, dass man dem Kranken nicht einmal mehr theoretisch sagen kann, etwas Besseres als den Tod finde er überall, darf, wie Kamann zu Recht betont, auch der assistierte Suizid kein Tabu sein. "Es geht hier nicht um Verfügung über das Leben - über dieses Leben ist längst verfügt, und diese Verfügung wird bereits vollzogen -, sondern einfach darum, welche Form des Niedersinkens diesem Menschen nicht ganz so schwer fällt wie die anderen Formen. Es lässt sich kein Grund erkennen, der uns zwingt, Menschen diese kleine Linderung zu verweigern."

Belastbare Patientenverfügungen und überzeugungskräftig vorgebrachte Suizidwünsche sind freilich weitgehend Privilegien der gut ausgebildeten und artikulationsfähigen Mittelschicht. Der Mann aus dem Volk, zumal wenn ihm keine durchsetzungsfähigen Angehörigen zur Seite stehen, stirbt schwerer. Er ist dem Urteilsvermögen und Ehrgeiz der Ärzte und - da Intensivbehandlung von den Kassen verhältnismäßig gut honoriert wird - womöglich der Belegungsrate der Intensivstation ausgeliefert. Zu den blinden Flecken der Sterbehilfediskussion gehört es, dass über die Ungleichheit der Zugangschancen zu einem erträglichen Tod kaum einmal gesprochen wird. Kamann erkennt das Problem immerhin im Ansatz. Sterbehilfe, so bemerkt er, sei eine Sonderleistung des Gesundheitssystems, zu der nur diejenigen Zugang haben, die über das nötige Geld und die nötigen soft skills verfügen. In den weiteren Ausführungen Kamanns schlägt sich diese Einsicht jedoch nicht nieder. Vielmehr schwenkt er, nachdem er zuvor eindringlich davor gewarnt hat, ein bestimmtes Ideal von Sterbeprozessen durchzusetzen, gegen Ende seines Buches auf eine reichlich kritiklose Lobpreisung des Selbstbestimmungsgedankens ein, so wenn er Patientenverfügungen als "emanzipatorische Instrumente beim Kampf um individuelle Freiheit" feiert.

Derartige Formeln haben wir in den letzten Jahren oft genug gehört. Wer aber wagt sich an die Aufgabe, die Grenzen zu präzisieren und gegebenenfalls vorsichtig zu revidieren, an denen die Behandlungspflicht und schließlich auch das Behandlungsrecht der Ärzte enden, weil eine Weiterbehandlung weder dem Patienten selbst noch der Solidargemeinschaft, die dafür bezahlen muss, zugemutet werden kann? Eine Diskussion über diese Frage einzufordern trifft in Deutschland auf instinktive Abwehr. Sie ist aber unvermeidlich und wird angesichts der wachsenden Kontingentierungszwänge künftig noch dringlicher werden. Nicht nur die Patienten, sondern auch die in ihren Entscheidungsnöten weitgehend allein gelassenen und einem im Einzelnen nur schwer kalkulierbaren Strafbarkeitsrisiko ausgesetzten Mediziner haben größere Klarheit verdient.

MICHAEL PAWLIK

Matthias Kamann: "Todeskämpfe". Die Politik des Jenseits und der Streit um Sterbehilfe. transcript Verlag, Bielefeld 2009. 154 S., br., 17,80 [Euro].

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»Man mag mit den Forderungen des Autors am Ende nicht übereinstimmen: Dennoch lohnen sich die Lektüre des Buches sowie das anschließende Nachdenken über die Sterbehilfe - und das eigene Sterben.« Dr. med. Mabuse, 185 (2010) »Der anspruchsvolle, sorgfältig redigierte Text liest sich von Anfang bis Ende spannend und mit Gewinn.« Fachbuchjournal, 3 (2010) Besprochen in: diesseits, 4 (2009), Svenja Flaßpöhler http://hpd.de, 1 (2010), Fiona Lorenz bestattungskultur, 2 (2010), Kerstin Gernig Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.03.2010, Michael Pawlik