Massen rasen auf dem Tienanmen. "Pack die Badehose ein" wird abermals zu ihrer Maxime, als der greise Revolutionär sich auf den Weg zum Fluß macht. Halb Peking wird sich mit ihm in die Brühe werfen, und am Ende dieses Tages wird die Frau eines Tischtennis-Meisters einen neuen Mao gebären.
Die erste Hälfte der Geschichte ist wahr, die zweite stammt von Thomas Coraghessan Boyle. Das heißt, sie könnte wahr sein, ist aber in einen solchen Kokon von fiktiven Handlungsfäden eingesponnen, daß ihr Realitätskern nicht mehr zu erkennen ist. Doch gerade diese Fäden sind aus den absurden Ingredienzien der Wirklichkeit gesponnen. Wenn der Kokon aufbricht, bündeln sich die Fäden zum Erzählstrang, in dessen Schlinge der Leser zappelt: Er begrüßt das Phantasiewesen des Schmetterlings und vergißt darüber die profane Raupe, die Ausgangspunkt der Verpuppung war. Wieder hat Boyle seinen Leser in die Falle gelockt.
Denn die Stärke seiner Erzählungen liegt in der Fähigkeit, die Symbole der Menschheitsgeschichte für seine Fiktionen auszubeuten. Die Anfangsmetaphorik in Maos Bad im Jangtse übersetzt Boyle in seiner Kurzgeschichte "Er schwimmt wieder" in die literarische Wirklichkeit einer Wiedergeburt. Damit metaphorisiert er die Metapher, und die gerade zurückgewonnene Realität des übertragenen Geschehens wird durch die Neuübertragung wieder fiktionalisiert. Dieses Verfahren ist die Grundlage nahezu aller Bücher des Amerikaners, und sie findet sich auch schon in den meisten seiner frühen Geschichten, die jetzt unter dem Titel "Tod durch Ertrinken" auf deutsch erschienen sind.
Sie entstammen der Mitte der siebziger Jahre, doch das merkt man nur ihren Motiven an. Erzählduktus und -mittel sind dagegen vollkommen modern - ja, das Leitthema der Kurzgeschichten ist in unserer Zeit der wachsenden Möglichkeit zur manipulativen Evolutionsbeeinflussung geradezu tagesaktuell: Die tiefe Skepsis gegenüber den Errungenschaften der Zivilisation und damit auch dem bisherigen Verlauf der Geschichte durchzieht Boyles Kurzprosa nicht minder als seine großen Romane. "The Descent of Man" lautet sowohl der Titel einer der short stories als auch der der ganzen Sammlung im Original: Abstammung und Abstieg sind gleichsam präsent.
Nicht alle der Erzählungen sind so brillant konstruiert wie "Er schwimmt wieder". Gerade "Abstammung des Menschen", die Titelgeschichte des Originals, in der sich eine Zoologin in einen vermenschlichten Schimpansen verliebt, ist in ihrer Überfrachtung mit bemüht witzigen Anspielungen endlos weit entfernt von der subtilen Ironie der Mao-Episode. Die Zoologin liest Tarzan-Bücher und Rousseau und heißt selber Jane. So deutlich wollen wir auf die Pointe der Erzählung gar nicht hingewiesen werden.
Aber das Gros von Boyles Erzählungen weist ihn bereits als den grandiosen Autor aus, als der er mittlerweile längst anerkannt ist. Er vermag nicht nur meisterhaft die uns fremde Wirklichkeit abermals zu verfremden, er betreibt auch ein amüsantes Vexierspiel mit der Literatur. Aus Kafkas Schloß wird bei Boyle eine geschäftstüchtige Reparaturwerkstatt, aus seinem Hungerkünstler ein Essensvirtuose, der mittels strategisch eingesetzter Kartoffelklöße in Punschglasur und kandierten Kürbisses das große Wettfressen gegen seinen jugendlichen Herausforderer gewinnt. Wie überaus raffiniert Boyle dabei den Jargon des Boxsports persifliert (und wie souverän seine neue Übersetzerin Anette Grube die Sprache ins Deutsche übertragen hat), muß selbst gelesen werden, um die Prosa als das zu würdigen, was sie in ihren besten Momenten vor allem ist: Satire, wie sie seit Mark Twain nur wenige Amerikaner beherrscht haben.
Und doch kann Boyle auch tiefernste Geschichten erzählen, Geschichten, in denen die unschuldige Grausamkeit kreatürlichen Lebens auf den zivilisierten Menschen projiziert und dadurch unerträglich wird. Die Abschlußerzählung des Buchs (und Titelgeschichte der deutschen Ausgabe) schildert die Vergewaltigung einer jungen Frau und den Tod eines Schwimmers. Das nasse Element, Ausgangspunkt allen Lebens, ist bei Boyle immer auch tödliche Bedrohung: Mao geht nur wieder schwimmen, um seine Wiedergeburt einzuleiten, eine Hippie-Kolonie ersäuft fast im Blutregen. In "Tod durch Ertrinken" geschieht alles ganz lapidar, als könne das Leben nicht anders verlaufen: "Er ertrinkt einfach. Eine zufällige Begebenheit, die, so stelle ich mir vor, nichts Ungewöhnliches ist, wenn man die Welt als Ganzes betrachtet."
Boyle spielt in dieser Erzählung mit unserer Angst vor dem Einbruch der Natur. Während am Strand das Mädchen auch noch von seinen vermeintlichen Rettern vergewaltigt wird, spielt sich das Geschehen draußen im Meer ganz beiläufig ab, es hat keine Berührungspunkte zu dem Verbrechen am Ufer. Die Teleologie, die der Mensch allenthalben in seine Entwicklung zu legen liebt, wird vollständig negiert; der Mensch verschwindet grundlos, wie er gekommen ist. "Unerklärlich, unbegreiflich. Nichtsdestotrotz wird es stattfinden."
Thomas Coraghessan Boyle: "Tod durch Ertrinken". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Anette Grube. Hanser Verlag, München 1995. 236 S., geb., 34,- DM.
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