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Bertel Thorvaldsen (1770-1844) war nicht nur gefeierter Mittelpunkt einer internationalen Künsterkolonie am Tiber, seine Ateliers galten über Jahrzehnte als Ausbildungsstätte, in der sich Stipendiaten nahezu aller Kunstakademien der damaligen Welt "vervollkommneten". Das Buch widmet sich dieser, das Erscheinungsbild der Skulptur des 9. Jahrhunderts maßgeblich prägenden Schule in einer Gesamtschau. Neben einer Fülle unpublizierter Skulpturen werden Briefe und Werkstattaufzeichnungen aus dem Archiv des Thorvaldsen-Museums in Kopenhagen in die Analyse einbezogen. Differenzierte Untersuchungen zum…mehr

Produktbeschreibung
Bertel Thorvaldsen (1770-1844) war nicht nur gefeierter Mittelpunkt einer internationalen Künsterkolonie am Tiber, seine Ateliers galten über Jahrzehnte als Ausbildungsstätte, in der sich Stipendiaten nahezu aller Kunstakademien der damaligen Welt "vervollkommneten". Das Buch widmet sich dieser, das Erscheinungsbild der Skulptur des 9. Jahrhunderts maßgeblich prägenden Schule in einer Gesamtschau. Neben einer Fülle unpublizierter Skulpturen werden Briefe und Werkstattaufzeichnungen aus dem Archiv des Thorvaldsen-Museums in Kopenhagen in die Analyse einbezogen. Differenzierte Untersuchungen zum Oeuvre werfen ein neues Licht auf Voraussetzungen und Hintergründe des enormen Erfolges des Dänen. Der zweite Teil des Buches, der sich mit seinen Schülern beschäftigt, trägt den Entwicklungen einer Moderne Rechnung, in der sich eine wachsende Zahl von Künstlern auf die Forderungen von Markt und Kritik einzustellen beginnt. Im Mittelpunkt stehen hier Überlegungen zu Geniekult , Atelierorganisation, Bildungstourismus und zur Rezeptionsästhetik des Klassizismus und der Romantik. Der Anhang, der 230 Schüler Thorvaldsens zum Teil erstmalig katalogisiert, enthält neben biographischen Angaben zahlreiche Abbildungen, Werkbesprechungen und Literaturangaben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Nun sei bezahlt, mein zahmer Schwan
Streitgeier fehlten im Kleintierzoo: Bertel Thorvaldsens Geschöpfe hatten kein Doppelgesicht / Von Christine Tauber

Wer je im salone der Villa Vigoni am Comer See unter Democrito Gandolfis "Blinder Mosesmörderin" (Norbert Miller) speiste, wer andächtig vor den antikischen Herren mit Backenbart auf Pompeo Marchesis Epitaphrelief für Giulio Mylius im tempietto des Parkes verharrte oder Thorvaldsens Alexanderfries in der Villa Carlotta bewunderte, der hat ein realistisches Bild der stilistischen und qualitativen Spannweite spätklassizistischer Skulptur in Italien in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Großbürgertum und Geldadel wetteiferten miteinander in der Ausstattung ihrer Domizile, und der große Paragone zwischen den beiden "modernen Phidiassen", Canova und Thorvaldsen, spiegelt sich auch hier: Graf Sommariva übernahm für seine Villa in Tremezzo eben nicht nur den monumentalen Fries, den Thorvaldsen ursprünglich für die geplante napoleonische Umgestaltung des Quirinalspalastes entworfen hatte. Er plazierte darunter auch eine Version von Amor und Psyche, Canovas angehimmeltem Paar. Die erotische Ausstrahlung dieser Skulptur sollte Flaubert später zu einem die Grenzen des guten Geschmacks streifenden Kuß in die Achselhöhle der Dame drängen.

Um Fragen des Stils und des Geschmacks geht es auch in Harald Tesans Dissertation, die sich mit dem Phänomen der Thorvaldsen-Schule in Rom befaßt. Tesans Fragestellung ist hierbei eine doppelte: Einerseits interessiert er sich für die stilprägende Kraft Thorvaldsens in seinem der Manufaktur strukturell verwandten Werkstattbetrieb. Stilgeschichte soll hier fruchtbar gemacht werden für die Erklärung eines geschmacksgeschichtlichen Phänomens. Tesans Ausgangspunkt ist hierbei, daß die Entstehung einer Schule einen verbindlichen Personalstil des sie begründenden Meisters voraussetzt, dessen Formierung er bei Thorvaldsen zwischen 1803 und 1819 ansiedelt, somit in der Zeit vor seiner Hinwendung zur christlichen Großskulptur. Andererseits möchte er in einem kulturgeschichtlichen Ansatz die Herauslösung modernen Künstlertums aus der Abhängigkeit von Auftraggebern in die Autonomie des sich langsam herausbildenden freien Kunstmarktes nachzeichnen. Zurückgreifen kann er bei seinen Untersuchungen auf den monumentalen Nürnberger Katalog "Künstlerleben in Rom. Bertel Thorvaldsen (1770-1844). Der dänische Bildhauer und seine deutschen Freunde" von 1991, zu dem er selbst auch zwei grundlegende Aufsätze beigetragen hat.

Die Jenenser Malerin Louise Seidler gibt in ihren Erinnerungen ein authentisches Bild von Thorvaldsens Arbeitsweise und dem Funktionieren seiner "factory". "Der Künstler hatte jedoch nicht nur dies eine Atelier, sondern deren vier bis fünf, in denen er viele Mitarbeiter beschäftigte. Er fertigte die Skizzen zu seinen Werken gewöhnlich nur einen Fuß hoch an und ließ sie danach von einem geschickten Schüler oft über Lebensgröße modellieren. Das Tonmodell wurde sodann abgegossen und in Marmor kopiert. Sein bester Schüler, Pietro Tenerani, war ihm dabei besonders wert und eigentlich unentbehrlich. Die einzige Statue, die er ganz allein vollendet hat, ist der Adonis, den man in der Münchner Glyptothek bewundert und der ein Zeugnis davon ablegt, daß er, ebenso wie Canova, den Marmor trefflich zu bearbeiten verstand."

Ob Thorvaldsen den Münchner Adonis tatsächlich alleine arbeitete, wie es die Fama will, oder ob es sich hier um eine Künstlerlegende handelt, sei dahingestellt. Tesan kann jedoch überzeugend nachweisen, daß für die bürgerliche Käuferschicht nach wie vor die Behauptung ausgestreut werden mußte, der Meister selbst habe an jede Skulptur nach dem eher mechanischen Fertigungsprozeß noch "letzte Hand" angelegt, um dem Bedürfnis der Käufer nach Originalen Rechnung zu tragen. Der nördliche Romreisende wollte sozusagen zertifiziert einen "echten" Thorvaldsen über die Alpen in seine gute Stube tragen.

Auf dieser Jagd nach Kunstwerken war dem kaufwilligen Touristen eine Sondergattung der Reiseliteratur behilflich: Atelierführer wie der berühmte des Count Hawks Le Grice "Walks through the study of the sculptors at Rome" von 1841 enthielten nicht nur Itinerare, die stets in der Thorvaldsen-Werkstatt begannen, sondern gaben auch gleich kauffördernde Auskünfte über die bevorzugten Sujets der einzelnen Künstler. Zu Thorvaldsen und seinen Schülern kamen vor allem Deutsche, Skandinavier, Russen und Engländer - französischen stilistischen Bedürfnissen wurde in dieser Werkstatt weniger entsprochen.

Auftragsfreie Skulptur mußte thematisch so beschaffen sein, daß sie in möglichst viele (Wohn-)Kontexte integrierbar war, um eine möglichst große Käuferschaft anzusprechen. Tesan kann überzeugend eine zunehmende Herabstimmung heroischer Bildthemen nachweisen: Aus den Olympiern werden Bewohner eines biedermeierlich-verbürgerlichten Arkadiens. Beliebte Themen sind der mit sich selbst beschäftigte Held, der sich rüstende oder der verwundete Krieger sowie Hirten- und Fischerknaben. Venus wird enterotisiert, gefragt sind eher weibliche Normalfiguren in introvertierter Stimmung. Selbst Leda wird dem Innocentia-Typus angeglichen, der Schwan zum Haustier degradiert, das nur noch Streicheleinheiten begehrt. Generell sind interagierende Zweifigurengruppen bei Thorvaldsen und seinen Schülern eher eine Seltenheit.

Die "Erfreulichkeit von intellektuellen und sittlichen Vorstellungen", die Carl Friedrich von Rumohr an den Werken aus Thorvaldsens Umkreis betonte, verweist auf das zentrale Charakteristikum eines Stils, der in der Forschung treffend als "sentimentalischer Klassizismus" bezeichnet wurde. Ein amerikanischer Zeitgenosse fand passende Worte, als er schrieb, diese Skulpturen seien "clothed all over with sentiment, sheltered, protected by it from every profane eye". Als stilistische Pendants dieser thematischen Prüderie nennt Tesan die absolute Einansichtigkeit; die Reduzierung des Ausdrucksgehalts auf die vom Bildungsbürgertum so geschätzte Innerlichkeit durch Verzicht auf eine virtuose Oberflächengestaltung, wie sie Canova bot; die Tendenz zum streng konturierten Relief unter Vermeidung von Überschneidungen; und ein ausgeprägtes "Kindchenschema" zur Verniedlichung der Heroen durch überproportionierte Köpfe. Distinktive Kriterien zur Unterscheidung von Thorvaldsen und Canova werden hier erneut bestätigt: protestantische Konzentration auf das Eigentliche ohne ablenkende Oberflächenillusion gegenüber katholischer Sinnenfreude und dem Glauben an die Möglichkeit von Materialtranssubstantiation.

Wie man sich die Durchsetzung des "Stildiktats" in der Thorvaldsen-Werkstatt vorzustellen hat, deutete bereits das Zitat von Louise Seidler an: Ausgangspunkt ist die strikte Trennung von zeichnerischem Entwurf durch den genialen Meister und skulpturaler Umsetzung durch die wackeren Mitarbeiter. Diese Unterscheidung von Idee und Ausführung ermöglicht nicht nur die beliebige Wiederholung einzelner Entwürfe, sondern auch die Verkleinerung des in seinem Grundgehalt nicht tangierten Concetto auf die Größe von Tischaufsätzen aus Biskuitporzellan. Die Gefahr einer solchen "Gedankenkunst" bestand für die Schüler und Mitarbeiter vor allem darin, einzelne Stilmomente isoliert zu imitieren und dadurch ins bloße blutleere Repetieren abzugleiten.

Außerordentlich verdienstvoll für die Rekonstruktion dieses Werkstattstils in all seinen Höhen und Tiefen ist der Katalog der Schüler und Mitarbeiter Thorvaldsens und ihrer Werke, der mehr als ein Drittel der Tesanschen Dissertation ausmacht und von ihm - vielleicht etwas zu bescheiden - als bloße Auffüllung des Thieme-Beckerschen Künstlerlexikons charakterisiert wird. Allerdings kristallisiert sich als grundsätzliches methodisches Problem in der Beschäftigung mit Thorvaldsens Stilprägung die Tatsache heraus, daß der bei seinen römischen Freunden als etwas "tumb" und wenig "signorile" bekannte Bildhauer keinerlei schriftliche Äußerungen über seine Kunstauffassung hinterlassen hat. Diese Quellenlücke durch ein mehr oder weniger personalisiertes "Kunstwollen" zu kompensieren, das sich bei Meister und Schülern je nach Bedarf Bahn bricht, wie Tesan es tut, scheint problematisch. Auch seine teilweise etwas überdeutliche Anlehnung an Vorstellungen einer Teleologie kulturellen Wandels à la Frederik Antal führt zu einer zu starken Polarisierung. Dadurch verharrt auch der sehr interessante Versuch einer Rekonstruktion des schon anachronistischen, spätklassizistischen Kunstdiskurses in Rom nach 1800 leider zu sehr in Dichotomien zwischen Klassizismus und Romantik. Kunsttheoretische Diskussionen der Zeit um den Begriff des Organischen oder um die Polychromie antiker Kunstwerke hätten die Übergänglichkeit in der ästhetischen Kategorienbildung vielleicht besser demonstrieren können, ein Prozeß, in dem sich "klassizistische" und "romantische" Argumente zunehmend vermischen.

Die Stärke Tesans liegt sicherlich darin, vor dem Hintergrund einer stilistischen Einheitlichkeit des Thorvaldsen-Umfelds einzelne Persönlichkeiten als künstlerisch herausragend aufzuwerten. Hier wäre vor allem an den von Seidler ebenfalls herausgestellten Chefassistenten Thorvaldsens, Pietro Tenerani, zu denken, dessen allzu große künstlerische Autonomiebestrebungen 1827 notgedrungen zum Bruch mit dem Meister führten. Weiterhin überzeugt seine exemplarische Darstellung großbürgerlichen Rezeptionsverhaltens am Beispiel der römischen Familie Torlonia. Als Bänker und Miteigentümer eines Marmorbruchs in Carrara versuchte sich Alessandro Torlonia, Prototyp des besitzbürgerlichen Aufsteigers, in der römischen Gesellschaft sozial aufzuwerten, indem er sich zum Mäzen und Auftraggeber einer an sich bereits auftragsfrei gewordenen Kunstschule aufspielte. Torlonia stilisierte sich zu einem modernen Nachfahren des Renaissancebankiers Agostino Chigi und orientierte sich in seinem mäzenatischen Selbstverständnis an der berühmten Sammlung in der Villa Albani, die er 1866 kurzerhand kaufte. Die nur noch in Teilen erhaltenen Ausstattungsprogramme des Palazzo Giraud-Torlonia, der Cappella Torlonia in S. Giovanni in Laterano und der heute ruinösen Villa Torlonia an der Via Nomentana machen deutlich, wie eine rückwärtsgewandte, verinnerlichte Kunst geradezu idealiter die Legitimationsbedürfnisse eines bürgerlichen Aufsteigers bediente.

Die Deutung, die der Canova-Forscher Fred Licht für das Kaufverhalten in römischen Bildhauerateliers um 1820 vorgelegt hat, läßt sich somit auch auf das italienische Bürgertum und seine Repräsentationsbedürfnisse übertragen - sei es in Rom selbst oder am Comer See: "Die Art von kultureller Identität, die Canovas italienische, französische und englische Kunden von Anfang an mitbrachten, war eben die, die das höhere deutsch-skandinavische Bürgertum in sich aufzunehmen hoffte, wenn es eine Skulptur Thorvaldsens anstaunte."

Harald Tesan: "Thorvaldsen und seine Bildhauerschule in Rom". Böhlau Verlag, Köln 1998. 286 S., zahlr. Abb., geb., 98,- DM.

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