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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2009

"Es ist zu spät"
James Lovelock maß als Erster Ozonkiller in der Atmosphäre. Dann entwickelte er die Gaia-Hypothese. Heute hält er die ohnehin düsteren Klimaprognosen für zu optimistisch.

Von Karl Hübner

Coombe Mill Experimental Station" steht in gelber Schrift auf einem blauen Schild, und in kleineren Lettern darunter: "Site of a new natural habitat". Es ist die Einfahrt zu dem südenglischen Anwesen von James Lovelock: gelernter Chemiker, praktizierender Erfinder, freischaffender Wissenschaftler, erfolgreicher Buchautor - und Vordenker der Gaia-Hypothese, welche die Gesamtheit allen Lebens auf der Erde, mitsamt der Litho- und Atmosphäre, als einen sich selbst regulierenden Super-Organismus sieht, eben als Gaia.

Zuletzt aber trat Lovelock vor allem als Klimapessimist und Atomkraftbefürworter in Erscheinung. Schon in seinem 2006 erschienenen Buch "The Revenge of Gaia" malte er ein düsteres Bild. Jetzt hat er noch einmal nachgelegt und mit "The Vanishing Face of Gaia" eine letzte Warnung, wie es im Untertitel heißt, herausgegeben.

Hier in Coombe Mill, unweit des Flusses Tamar, der die Grafschaften Devon und Cornwall trennt, wohnen die Lovelocks seit mehr als 30 Jahren. Ein malerisches, abgelegenes Grundstück, das nur findet, wer sich sehr konzentriert an die Wegbeschreibung hält. ("Etwa nach einer Meile links. Wenn rechts eine Telefonzelle auftaucht, sind Sie schon zu weit gefahren", heißt es darin.)

Im Juli wird Lovelock 90 Jahre alt. Man sieht ihm das nicht an. Agil kommt er aus dem flachen, schiefergedeckten Haus gesprungen. Drinnen fällt der Blick schon im Eingangszimmer auf die Zeugnisse eines bewegten Wissenschaftlerlebens. Auf einem Schränkchen, das die internationalen Ausgaben seiner Bücher enthält, steht ein von ihm selbst gebastelter Gaschromatograph mitsamt dem einst selbst erfundenen Elektroneneinfangdetektor. Es ist jene Apparatur, mit der Lovelock vor fast 40 Jahren auf eigene Faust über den Atlantik fuhr und als Erster überhaupt Fluorchlorkohlenwasserstoffe in der Atmosphäre maß. Am Ende dieser Reise standen drei Veröffentlichungen in dem prestigeträchtigen Wissenschaftsmagazin Nature - und die Erkenntnis, dass sich in der Atmosphäre genau die Menge an FCKW fand, die bis dahin von der Menschheit emittiert worden sein musste. Nichts schien diese Chemikalien also abzubauen. Ein Befund, der andere Forscher schließlich darauf brachte, dass FCKW einst bis in die Stratosphäre aufsteigen und dort das Ozon zerstören würde. Schon 1974 lag diese Theorie vor - elf Jahre bevor das Ozonloch über der Antarktis zum ersten Mal in einer wissenschaftlichen Publikation auftauchte.

Aber diese Bedrohung, welche die Menschheit einigermaßen abgewendet zu haben scheint, ist wenig gegen das, was der weißhaarige Engländer nun heraufziehen sieht. Während man sich in Deutschland über vermeintlich zu wenig Nachkommen sorgt, fragt Lovelock längst danach, wie viele Menschen die Erde überhaupt ertragen kann. Insbesondere dann, wenn sich die klimatischen Bedingungen verschlechtern. So viel sei klar: Sieben Milliarden, wie jetzt, werden es nicht sein. In seinem neuen Buch nennt er die Zahl 100 Millionen, im persönlichen Gespräch kann er sich für das Ende des 21. Jahrhunderts immerhin eine Milliarde Menschen vorstellen.

Das Hauptproblem werde die Landwirtschaft sein. Nutzflächen würden verlorengehen, wenn Meeresspiegel steigen, die Trockenheit zunimmt und die Flüsse weniger Wasser führen, weil in den Gebirgen weniger Schnee schmilzt. Lovelock prognostiziert gewaltige Migrationsströme - hinein in die letzten bewohnbaren Gebiete der Erde, wo immer die auch sein werden. Nordeuropa gehört vermutlich dazu. Und natürlich werde es Kriege geben, wenn die Ressourcen schwinden.

All das ist nicht unbedingt neu. Warum überhaupt er denn dieses Buch geschrieben habe, nur drei Jahre nach "The Revenge of Gaia". "Weil ich sehr besorgt bin", sagt er. Besorgt darüber, dass Politiker ihr Handeln auf die Ergebnisse von Modellen stützten, die vorgäben, herzuleiten, was 2050 oder 2100 sein werde. Damit ist das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) gemeint, der "Weltklimarat", wie er im Deutschen auch genannt wird, immerhin ein Gremium, dem tausend der besten Wissenschaftler überhaupt angehören, wie Lovelock anerkennend einräumt. Dennoch glaubt er, deren Modelle seien ähnlich unpräzise wie die von Wirtschaftswissenschaftlern. Als der IPCC 2007 seinen jüngsten Bericht vorlegte, sei Lovelock geschockt gewesen. Geschockt darüber, dass der Weltklimarat die vorgestellten Szenarien einen "Konsens über das Klima der Zukunft" genannt habe. Konsens. "Ein Begriff aus der Politik, aber nicht aus der Wissenschaft."

Lovelock hält die Aussichten des IPCC, die ja nicht gerade optimistisch anmuten, für viel zu harmlos. Alles werde noch viel schlimmer kommen. Und das auch noch schneller. Schon bisher hätte das IPCC mit seinen Modellen falsch gelegen. Der Meeresspiegel sei schneller gestiegen, und die arktische Eisdecke schmelze rascher. "Wenn wir nicht mal das bereits Geschehene korrekt vorhersagen konnten, wie können wir dann Prognosen vertrauen, die 40 oder gar 90 Jahre in die Zukunft reichen?", fragt Lovelock. Ganz nebenbei wettert der Forscher, der einst seine Messgeräte selbst baute und dann auszog, um sie zu benutzen, gegen die Modellgläubigkeit in der heutigen Zeit und bedauert die schwindende Bedeutung experimenteller Wissenschaft.

Lovelock fürchtet, dass die Klimastabilität bald endgültig verlorengehen wird. Weil es zu immer mehr sogenannten positiven Rückkopplungen kommen werde, welche die Erwärmung verstärkten. Beispiel schmelzende Eisflächen: Wenn die arktische Eisfläche immer kleiner wird, dann steigt dort gleichzeitig die Menge an Sonnenstrahlung, die absorbiert wird - weil ohne das weiße Eis weniger ins All reflektiert wird. Er vergleicht das aktuelle Geschehen mit dem Schmelzen eines Eiswürfels im Whiskyglas. Lange Zeit ändert sich die Temperatur des Getränks kaum, weil alle zugeführte Wärmeenergie für das Schmelzen des Eises verbraucht wird. Ist der Würfel aber erst mal komplett verflüssigt, dann sorgt jede weitere Energiezufuhr für eine Erwärmung der Flüssigkeit. Und diesen Punkt haben wir nach Lovelocks Ansicht bald erreicht.

Rettungsversuchen für das Klima erteilt Lovelock eine Absage. Erneuerbare Energien seien schön und gut, aber das Problem lösen würden sie nicht. Stattdessen sollten wir uns auf den Kollaps vorbereiten. In seinem Kapitel "Consequences and Survival" vergleicht Lovelock die Menschheit mit einem schwerkranken Patienten, der erfährt, dass er vielleicht nur noch wenige Monate zu leben hat. Wenn alle Heilungsversuche zum Scheitern verurteilt seien, so wie im Kampf gegen den Klimawandel, dann bleibe am Ende nur das Annehmen des Unvermeidlichen.

Genau das empfiehlt Lovelock der Menschheit. "Es lohnt sich nicht, wenn wir jetzt grün werden, denn das wird den Prozess nicht mehr aufhalten. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit dem eigentlichen Problem zuwenden." Darunter versteht Lovelock unter anderem die sozialen Herausforderungen, die anstünden, wenn Nahrung und Ressourcen schwänden und Völkerwanderungen einsetzten.

Doch Lovelock, der passionierte Tüftler und Erfinder, bietet nicht nur Horrorszenarien. Er macht sich auch Gedanken über konstruktive Maßnahmen. So könne er sich vorstellen, Nahrung künstlich zu erzeugen, wenn die Landwirtschaft einmal nicht mehr ausreichen werde. Pilze etwa könne man Eiweiße produzieren lassen, wenn man sie mit geeigneten Aminosäuren und Zuckern füttere. "Das wäre etwas für die deutschen Chemiker", sagt er, und es klingt nicht wie ein Scherz. Er hält das für sinnvoller als die Bemühungen der Deutschen, bei Windrädern den Ton anzugeben.

Auch über Geoengineering könne man nachdenken. Lovelock widmet dem aktiven Eingreifen in die Atmosphäre ein ganzes Kapitel. Am Ende hält er aber nur einen Ansatz für praktikabel, obwohl er nicht wisse, ob die Zeit noch reiche. So kann er sich vorstellen, die gesamten Pflanzenabfälle aus der Landwirtschaft pyrolytisch in Kohle umzuwandeln und diese zu vergraben oder im Meer zu versenken. Auf die Art würden wir die Pflanzen dazu benutzen, der Atmosphäre nachhaltig das CO2 zu entziehen. Und als Nebenprodukt würde noch Biosprit abfallen.

Eines ist für Lovelock klar: "Es ist zu spät für Maßnahmen zur Emissionsreduktion." Wer das wolle, müsse aufhören zu atmen. "Menschen und ihre Tiere sind allein aufgrund ihrer Atmung für 23 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich", so Lovelock. "Wir sind einfach zu viele." Mächtige Führer könnten den Menschen das Halten von Tieren verbieten und eine vegetarische Ernährung vorschreiben. Das könnte den Verlust an Leben reduzieren. Aber welche Regierung hätte diese Macht?

Doch in Lovelocks Augen fehlt es den Politikern auch an einer gebührender Unabhängigkeit von wissenschaftlichen Moden. Denn modellverliebt seien heute nicht nur die Klimaforscher, sondern auch diejenigen, welche diese Forschung finanzieren. Beispielsweise habe ein britischer Professor einmal vorgeschlagen, Containerschiffe, die sowieso auf den Weltmeeren unterwegs seien, für Messungen in der Atmosphäre zu nutzen. Doch bei den Verwaltern öffentlicher Forschungsgelder stieß die Idee auf taube Ohren. Praktische Forschung zähle eben nichts mehr, es gehe nur noch um theoretische Konzepte. Und wo tatsächlich mal Werte erfasst würden, diese aber nicht in die bestehenden Modelle passten, zweifle man eher an den Messungen als an den Modellen. Das sei schon Anfang der achtziger Jahre so gewesen, als die Nasa die niedrigen Ozonwerte über der Antarktis als Messfehler deutete - so lange, bis britische Antarktisforscher ein Ozonloch konstatierten.

James Lovelock macht trotz allem nicht den Eindruck eines verbitterten oder resignierten Menschen. Auch wenn er der Menschheit die Fähigkeit abspricht, die für sie richtigen Entscheidungen zu treffen, und ein düsteres Bild für ihr Überleben zeichnet, so wirkt er keinesfalls lebensmüde. Er gehe jeden Tag fünf Meilen wandern, und in diesem Jahr plane er sogar einen Flug ins All, zu dem ihn der Industrielle Richard Branson eingeladen hat. Dann wird er das Gesicht von Gaia zum ersten Mal von oben sehen. Dieses Gesicht, das, gemäß dem Titel seines jüngsten Buchs, so nicht bleiben wird. Weniger Eis, farbigere Meere ("weil sich dort das Leben reduziert") - das sind die zwei auch aus dem Weltall sichtbaren Veränderungen des "Face of Gaia", die Lovelock erwartet.

Aber auch, wenn ihr bisheriges Gesicht verschwinden wird, so glaubt Lovelock nicht, dass Gaia selbst ernstlich in Gefahr ist. "No, Gaia is a tough bitch", sagt Lovelock - sie ist ein zähes Luder. Und wer weiß, vielleicht ist es jetzt auch einfach mal nötig, dass der Superorganismus einschreitet, weil ein Vertreter des Lebens auf diesem Planeten über die Stränge schlägt. So, wie Eltern manchmal dazwischengehen müssen, wenn der Nachwuchs seine Grenzen überschreitet. Aber auch die Menschheit werde weiterleben - wir werden dann eben nur weniger sein. So sei das schon bei früheren Klimasprüngen der Erdgeschichte gewesen: Das waren immer auch "genetische Flaschenhälse". Demnach wird nur ein Bruchteil der heute lebenden Menschen ferne Nachkommen haben. Der Verteilungskampf wird letztlich darum gehen, wer das sein wird.

Literatur: James Lovelock, "The Vanishing Face of Gaia. A Final Warning", Basic Books, New York, 2009.

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