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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.05.2000

Die Kälte war geblieben
Der politische Roman lebt: Joe Kleins „Im Namen der Ehre”
Immer das gleiche Spiel: Three is a crowd, und der vierte bleibt draußen. Die zwei Frauen, die sich nach vielen Jahren wieder begegnen, auf dem kleinen Dinner im Außenministerium in Washington, begrüßen sich, als wären sie gestern erst auseinander gegangen. „Ich hatte gehofft, du würdest dich nicht an mich erinnern”, sagt die eine, Nell, eine vornehme, leicht blaublütige Modemacherin, und die andere, Pinky, erwidert spontan: „Meinst du, ich würde dir je Blake Foley verzeihen. ” Und schon schaltet sich der dritte ein, Vizepräsident Tom Atkinson: „Ich kenne Nell auch . . . Pinky und ich waren zusammen in Harvard. Blake und ich haben dort Baseball gespielt. Nell hat . . . was hast du eigentlich gemacht?” Hier wendet Pinky sich dem vierten zu, dem jungen Charlie Martin: „Senator, ich weiß, Sie sind skeptisch, was die F16-Kampfjets angeht . . .”
Pinky und Nell, Baseball und Blake Foley – Charlie kann da nicht mitreden, denn während die drei anderen sich in Harvard getummelt haben, hat er seine kleine Uni im Mittelwesten absolviert. Die Dinner-Plauderei ist ein delikates Arrangement – für das der Autor sich im Voraus bei der einen Protagonistin entschuldigt hat. Pinky, das ist Benazir Bhutto, die Premierministerin von Pakistan, und sie ist die einzige reale Figur der Politik, die Joe Klein auftreten lässt in seinem neuen Roman „Im Namen der Ehre” (Deutsch von Christiane Buchner, Veronika Cordes, Fritz Koop, Marion Sattler-Charnitzky, Carina von Ziegesar. List Verlag) – eine semifiktive Geschichte, deren Figuren frei erfunden sind und die dennoch die Wirklichkeit getreuer abzubilden behauptet als jede Reportage.
Das Buch liefert ein profundes Stück politische Zoologie. Joe Klein beschreibt ein Exemplar der Spezies Kandidatentierchen – „The Running Mate” heißt der Roman im Original. Charlie Martin ist das observierte Prachtstück, demokratischer Senator aus Des Pointe, Colorado, und das Rennen, zu dem er antritt, sind diverse Wahlkampfdistanzen in der ersten Hälfte der Neunziger: ein kurzatmiger Versuch, sich als Präsidentschaftskandidat zu präsentieren, bei dem er an Jack Stanton scheitert, danach der Kampf um die Wiederwahl, bei dem ihm ein starker Gegner erwächst im widerlichen Muffler Man, dem Auspufffabrikanten Lee Butler.
Einen Teil der Besetzung von „Im Namen der Ehre” – an der Spitze Jack Stanton, das ist Bill Clinton – hat Joe Klein aus „Primary Colors” übernommen, seinem ersten Roman, der vor allem für Aufsehen gesorgt hatte, weil Klein sich als Autor lang nicht hatte outen wollen, sich verborgen hielt hinter dem Pseudonym Anonymous. Charlie Martin trägt nun Züge von John McCain, einem Politiker, dem Klein einige Sympathie entgegenbringt, dem er Frechheit bescheinigt und einen „distressing solipsism”. Auch Charlie packt, auf der Tribüne bei der Amtseinführung des Präsidenten Stanton, ein Schauer von Einsamkeit: „Wie ein Blitzstrahl hatte ihn die Erkenntnis getroffen und ihn durchbohrt wie ein körperlicher Schmerz. Seine Brust hatte ihn so geschmerzt wie gelegentlich seine fehlenden Finger; er fühlte sich amputiert. Ihn fröstelte vor Einsamkeit, und er zog im scharfen Nordwestwind die Schultern hoch. Die Kälte war geblieben. ”
Es ist ein riskantes Spiel, auf das Charlie Martin sich eingelassen hat, nicht nur politisch, sondern auch, was das „human interest” angeht – die Liebe zu Nell Palmerston bringt ihn aus der Bahn. Seit er sich im Dreieck Washington, New York, Des Pointe arrangieren muss, droht das politische Tier Charlie zu verkümmern, und es hat sogar die bescheuerte Idee, mit Nell und ihren Kindern Weihnachtsurlaub zu machen – dabei sind Feiertage intensivste Arbeitstage, mit Politikern als lebenden Grußkarten.
Charlie ist ein Kind der Vietnamkrieggeneration, das macht seine Schwächen aus und seine Stärke. Ein Life-Artikel feierte die Heimkehr des Helden, Juni 1968, zwei Silver Stars, und schon damals war die Rede von der möglichen politischen Karriere. Ein Naturtalent, das heißt, „ein Bursche, bei dem man bei der ersten Begegnung denkt: Der wird mal Präsident. ” Bobby Kennedy, heißt es gleich danach, starb in der Woche, als dieser Artikel erschien.
Joe Klein ist Insider aus der Distanz – er ahnt, dass die genaueste Beobachtung erst vollkommen wird durch ein Moment der Spekulation. In seinen Kommentaren zur politischen Lage in Amerika gibt er sich als Moralist – schimpft über die Geilheit und den Zynismus der Presse und rühmt die Besonnenheit und Souveränität, mit der die Öffentlichkeit, das amerikanische Volk Clinton die Treue bewahrt in der Lewinsky-Affäre.
Fast altmodisch plädiert Joe Klein für die menschliche Politik und die sauberen Politiker; doch als Erzähler zelebriert er Politik als Choreografie – die junge Generation hat „Die Kunst des Krieges” gelesen von Sun Tsu. Kolportage, haben viele Kritiker verächtlich reagiert, das sei Hollywood – weil die Liebe eine große Rolle spielt, aber auch die Geborgenheit in der Familie, die Treue zu den Kameraden aus Saigon. Hollywood, mag sein – aber man könnte auch Stendhal oder Dickens sagen: „Aber Frauen sind Politik”, hat Klein, mit amüsiertem Trotz, dem Roman als Motto vorangestellt, einen Satz von Talleyrand. Nicht erst seit Kissinger spukt die europäische Diplomatie des 18.  Jahrhunderts durch die Washingtoner Atmosphäre.
Im Spiel zwischen dem Feudalen und dem Bodenständigen – die Kühe aus Colorado sind immer präsent, auf dem Bild, das in Charlies Büro hängt – entfaltet das Buch seine Spannung. Es gibt keinen voyeuristischen Aha-Effekt, vom Moralischen schaltet Klein sofort zur Melancholie. Da bleibt dem Muffler Man nur noch die Flucht in die fade Tautologie: „Es wird Zeit, dass Amerika . . . wieder Amerika wird. ”
Politische Choreografie, das heißt, mehr Howard Hawks als Frank Capra. Politik ist Show, ist „Tit for tat”, und es kommt auf jede Sekunde an, die man mit einer Antwort zögert, auf jeden Millimeter, um den eine Augenbraue oder ein Mundwinkel sich verzieht – was allemal mehr sagt als jedes Statement. Weil ein „Absolut” nicht absolut genug war, hat Charlie, womöglich, seine Chance auf den Vizepräsidenten verspielt. Da nützt ihm auch seine Kriegsverletzung nichts mehr – die durch eine Mine verstümmelte linke Hand, die auch eine erogene Zone ist. Und durch die er der einzige Senator ist, der die Kunst des Eineinhalb-Hand-Klatschens beherrscht.
Charlie Martin wird am Ende die politische Degenerierung in Washington überleben. Er wird in Erinnerung bleiben wie der arme Blake Foley – wäre Pinky Premierministerin von Pakistan geworden, wenn Nell ihn ihr nicht weggeschnappt hätte? – oder der Muffler Man oder, zum Beispiel, Darrell Billups, North Carolina, der letzte Tabakkauer im Senat: „Bei Ausschusssitzungen trug er stets eine kleine Blechbüchse bei sich, in die er von Zeit zu Zeit ungemein geschickt und mit verblüffender Treffsicherheit spuckte. ”
FRITZ GÖTTLER
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.04.2000

Ein ganzer Kerl
Nach "Primary Colors": Joe Klein entdeckt die Politik mit Herz

NEW YORK, 27. April

Charlie Martin ist Senator, aber kein typischer Politiker. Er hat Augen "wie Delfter Porzellan". Er lächelt ein "killer smile". Er sucht, vor allem außerhalb seines Heimatstaats im Mittelwesten Amerikas, "nach dem Ungewöhnlichen" (deshalb ist sein Pressereferent homosexuell), er liebt es, provoziert zu werden (deshalb fällt er einer New Yorkerin zu Füßen), er schätzt Ironie und glaubt daran, dass wichtig ist, was er tut. In Vietnam, wo er einen Teil seiner linken Hand verlor, galt er als "der coolste Kerl von Saigon". Er ist, mit einem Wort, unwiderstehlich, und zwar nicht, weil er glänzend manipuliert wie der Held in Joe Kleins letztem Roman "Primary Colors", sondern weil er ist, was er ist, ein ganzer Mann, also einer mit Herz.

Vier Jahre nach "Primary Colors", einer klugen Satire über den ersten Präsidentschaftswahlkampf der Clintons und darüber, wie man beschaffen sein muss, um in der amerikanischen Politik erfolgreich zu sein, hat der Autor in diesen Tagen eine Art Fortsetzung vorgelegt, "The Running Mate" (The Dial Press, 403 Seiten, 26,05 Dollar). Wieder ist es ein Schlüsselroman, doch das Personal ist weniger prominent und weniger eindeutig bestimmbar. Manche, die es wissen müssen, sehen in Charlie Martin den ehemaligen republikanischen Kandidaten John McCain, andere den Senator Nebraskas, Bob Kerrey. Wer auch immer es sein mag, als Hauptfigur eines vierhundert Seiten dicken Romans taugt er wenig, und das ist, was auch immer man gegen die Politiker einwenden kann, dann doch die Schuld des Autors.

Joe Klein, der damals als "Anonymous" reich und berühmt wurde, ist Journalist. Weil er lange abstritt, der Verfasser von "Primary Colors" zu sein, und damit seine Kollegen hinters Licht führte, wurde er von "Newsweek" und dem Fernsehsender CBS gefeuert und begann nach einer Schamfrist, als Washington-Korrespondent für den "New Yorker" zu schreiben. Er ist einer der besten Kenner der Hauptstadtszene, er weiß, wie die Intrigen funktionieren, die Seilschaften, die Dreckschleudern. Er weiß, dass es in der Politik nicht um Ideale geht, sondern um präzise Fragen und um kleinere Übel, und dass sich die Moral im Einzelfall bewährt, nicht als Konzept. Jedenfalls wusste er all dies, als er "Primary Colors" schrieb. Er zeigte, wie alte Überzeugungen mit aktuellen Notwendigkeiten kämpfen, wie mit falschen Gefühlen für die richtige Sache geworben wird und dass es vor allem darauf ankommt, wer länger die Nerven behält. Die Moral überließ er dem Leser. Das Einzige, worum es in "Primary Colors" ging, war die Politik, und das war angesichts des Primats des Skandals, der in Amerika herrscht, vielleicht der Grund, dass die meisten Kritiker das Buch nicht nur für intelligent, sondern den Autor auch für einen großen Romancier hielten.

Bei "The Running Mate" ist alles anders. Zwar erweisen einige Figuren aus dem früheren Roman ihre Reverenz, aber die kühle Satire ist einer schwülen Prosa gewichen, wie man sie aus Kurzgeschichten in biederen Frauenzeitschriften kennt. Das wird über die doch erheblich längere Distanz sehr lästig. Der Senator, so erfahren wir gleich zu Beginn, ist verliebt - ein im Wahlkampf eher ungewöhnlicher Zustand für einen Kandidaten, aber: "Was ist so falsch an der Vorstellung, endlich ein eigenes Leben zu haben?" (Schlechtes Timing, hätte der Joe Klein von "Primary Colors" gesagt.) Die Frau seines Herzens, Arabella Palmerston Belligio, ist über wenige Ecken mit dem britischen Königshaus verwandt, lebt in New York in einem Downtown-Loft, hat zwei Kinder und entwirft Badeanzüge. Ihr (fast) geschiedener Mann wohnt bei ihr, ein "attraktiver Homosexueller von exotischer westindisch-italienisch-kreolischer Abstammung".

Arabella, genannt Nell, lernt Charlie Martin kennen, weil sie ein Verhältnis mit seinem Freund Linc Rathburne, einem Diplomanden (Richard Holbrooke?), hat, der nach Russland geht und bei einer Party von ihr auch als Liebhaber verabschiedet wird. Charlie sitzt bei dieser Gelegenheit neben einer dramatisch aufgemachten Tischdame, die Anaïs Nin liest, und so weiter. Am Ende hat Charlie Martin einen Wahlkampf verloren, aber Nell gewonnen, die, nachdem sie dreihundertachtundneunzig Seiten lang die Politik verachtete, nun für einen neuen Anlauf im öffentlichen Dienst votiert.

Bisher hat nur die "Washington Post" deutlich gesagt, was das für ein Käse ist. George Stephanopoulos, der in "Primary Colors" prominent figuriert und eine Weile als möglicher Autor im Gespräch war, gibt in "Newsweek" kein ästhetisches Urteil ab, "Time" hofft auf viele weitere Romane von Joe Klein, und die "New York Times", deren Hauptkritikerin Michiko Kakutani "The Running Mate" recht unverhohlen verrissen hatte, relativierte dieses Urteil mit einer gnädigen Besprechung in ihrer sonntäglichen Buchbeilage.

Auch wer Joe Klein nach "Primary Colors" nicht für einen großen Literaten hielt, sondern vor allem seine politische Intelligenz bewunderte, wird in "The Running Mate" nichts finden, was sein Interesse wert wäre. Denn die Politik, so sie vorkommt, ist wieder auf Hollywood-Niveau geschrumpft, wo gute Männer in einem korrupten System immer schon einfachen Wahrheiten Gehör verschafften. An der Entwicklung der amerikanischen Politik kann das nicht liegen, vielleicht aber daran, dass ein guter Reporter mit viel Talent und Glück möglicherweise einen passablen Roman in sich hat, aber keinesfalls zwei.

VERENA LUEKEN

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