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Produktdetails
  • New York Review Books Classics
  • Verlag: New York Review of Books
  • Seitenzahl: 104
  • Erscheinungstermin: 17. Juni 2014
  • Englisch
  • Abmessung: 203mm x 126mm x 10mm
  • Gewicht: 127g
  • ISBN-13: 9781590177198
  • ISBN-10: 1590177193
  • Artikelnr.: 39760220
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2018

Leoparden küsst man doch
Abgebrannte Adlige und herrschaftliche Faulenzer: Giuseppe Tomasi di Lampedusas Erzählungen

In bürgerlichen Zeiten ist der Adel auch in der Literatur Ziel von Kritik oder Spott geworden: skrupellose Ausbeuter, arrogante Verführer, kalte Phrasendrescher, gekünstelte Salonlöwen - was hat man nicht alles gelesen. Aus der heutigen Distanz heraus ist es jedoch reizvoller zu fragen: Welchen Beitrag hat er geleistet, nicht nur zur höfischen Literatur, sondern noch zu jener der Moderne? Er beschränkt sich vermutlich nicht darauf, dass Wohlgeborene Werke verfasst haben: Autoren wie François-René de Chateaubriand und Marcel Proust, deren Sensibilität und Zeitempfinden mit Herkunft und Sozialisation eng verknüpft sind, legen nahe, dass der Adel durch eine eigene Faktur Anteil an der Herausbildung der literarischen Moderne hatte.

Im italienischen Kontext wären Vittorio Alfieri oder Giacomo Leopardi einschlägige Beispiele - und im zwanzigsten Jahrhundert Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896 bis 1957), Herzog von Palma, Fürst von Lampedusa: Mit "Der Leopard" (postum 1958) hat er ein Meisterwerk verfasst. Der Roman erzählt den Niedergang der Fürstenfamilie Salina mit einem so feinen, kapriziösen Stilempfinden, hat ein so entwickeltes Sensorium für Gepflogenheiten, für Ruhm und Niedergang, für die alles abnutzende Wirkung der Zeit, dass man die Herkunft des Autors unbedingt berücksichtigen muss, wenn man ihn recht verstehen will. Damit fasst er nicht nur eine bestimmte Welt, eben die des sizilianischen Adels, an deren Darstellung der Verist Giovanni Verga gescheitert war - mangels adeligem Stilempfinden, wie er in einem Brief an seinen Übersetzer Louis-Édouard Rod vom 14. Juli 1899 eingestand. Er nimmt auch eine besondere Perspektive ein.

Diese lässt er in der Novelle "Die Sirene" über Bande den Senator und Hellenisten Rosario La Ciura zum Ausdruck bringen: "Ich habe große Wertschätzung für die alten Familien. Sie besitzen ein Gedächtnis, ein kleines zwar, das stimmt, doch in jedem Fall größer als das anderer. Sie sind das Höchste, was man in der Frage physischer Unsterblichkeit erreichen kann." Die Ironie der Sätze besteht darin, dass Lampedusa sie einer aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Figur in den Mund legt, welche Paolo Corbera, den letzten Spross des Salina-Geschlechts, belehrt. Hier wie allgemein behandelt der Senator Corbera respektlos, ja ruppig - "bei ihm verlor ich ganz eindeutig die Geduld", ist die entnervte Reaktion. Nun kann man einwenden, die ironische Brechung in der Darstellung adeliger Vorzüge sei das eigentlich Moderne; das allerdings hieße den Witz als Erbe der gehobenen Konversation ausblenden.

"Die Sirene" und die anderen drei Erzählungen Lampedusas liegen nun in einer schönen Neuübertragung von Moshe Kahn vor, die solche ironischen Zwischentöne spürbar macht. Die Übersetzung beruht auf der vervollständigten und überarbeiteten italienischen Ausgabe: Wie beim "Leopard" sind nach dem Tod der Lampedusa-Witwe, Fürstin Alessandra Wolff Stomersee, 1982 Eingriffe in den Text rückgängig gemacht worden. In den Erzählungen betrafen diese besonders die erste und längste Erzählung, eigentlich ein autobiographisches Fragment, das den Titel "Kindheitserinnerungen" trägt: Die Fürstin unterschlug sarkastische Anmerkungen zu Verwandten und brachte den Text in eine erzählerische Abfolge. Die neue Ausgabe korrigiert das und bietet Einleitungen, editorische Notizen sowie einen umfangreichen Apparat, der nötig ist, um die vielfältigen historischen und dynastischen Verweise zu entschlüsseln.

Auf die "Kindheitserinnerungen" folgt im Buch "Die Freude und das Gesetz", eine eher konventionelle Geschichte über einen armen Angestellten, der sich kurz über ein unverhofftes, aber erbärmliches Geschenk freuen kann. Dann kommt "Die Sirene", in welcher der erwähnte Senator von der Begegnung und Sommerliebe mit einer waschechten Meerjungfrau berichtet; die phantastische Novelle ist das Herzstück des Bandes. Beschlossen wird er mit "Die blinden Kätzchen", der Geschichte eines Emporkömmlings.

Das Gedächtnis spielt besonders in den "Kindheitserinnerungen" eine zentrale Rolle: Mit lebhaften Farben und tiefsitzender Wehmut schildert Lampedusa die Orte seines Aufwachsens, von denen mehr als einer dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen ist. Wohlfeiler Nostalgie gibt er sich nie hin: Die Darstellung entwickelt ungeahnte Dichte, sowohl durch die sachliche Organisation als auch durch die zeitliche Vertiefung. Das Gedächtnis ist der Speicher jener Bezüge, die sich Autor und Erzähler eröffnen, und es bestimmt die zeitliche Perspektive, in der sich das Geschehen entfaltet; im Falle von Lampedusa ist es das einer ganzen Familie, und es trifft sich, dass der Herausgeber Gioacchino Lanza Tomasi derselben entstammt und die Verweise einzuordnen versteht.

Nicht nur Erinnerung als Gegenstand und Verfahren, nicht nur das Nachsinnen über verlorene Orte der Kindheit lassen an den Anfang von Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" denken. Hinzu kommt ein zentrales Motiv: der Spaziergang, Ausdruck einer durch Muße und freies Schweifen privilegierten Kaste, die zu Esel oder Fuß Ländereien durchwandern und sich auf Kulinarisches freuen. "Vor dem Betrachter breitete sich der mächtige Hang einer niedrigen Bergkette aus, ganz gelb nach dem abgemähten Getreide, mit teilweise abgebrannten Stoppeln, die schwarze Flecken bildeten, so dass man wirklich den Eindruck einer zusammengekauerten Riesenbestie hatte. Auf dem Hang dieser Löwin oder Hyäne (je nachdem, in welcher Gemütsverfassung der Betrachter war) erkannte man mit einiger Schwierigkeit die Orte, die der gelb-graue Stein der Bauten nur schlecht vom Untergrund abhob: Poggioreale, Contessa, Salaparuta, Gibellina, S. Ninfa, niedergedrückt von Elend und Not, von der Hundstagshitze und von der Dunkelheit, die plötzlich aufzog und auf die sie nicht einmal mit dem kleinsten Docht reagierten." Hier werden Wappentiere als Bildmaterial Teil eines so realen wie allegorischen Panoramas, das die sozialen Hierarchien Siziliens abbildet.

Die Adeligen Lampedusas zeichnen außer Muße, Lebenskunst und einem kollektiven Gedächtnis weitere typische Eigenschaften aus: Sie sind natürlich abgebrannt - was an der ökonomisch fatalen Grundlage des Grundbesitzes liegt - und versuchen dennoch, bella figura zu machen. Das wird in dem Romantorso "Die blinden Kätzchen" deutlich, den Lampedusa während seiner Erkrankung an Lungenkrebs verfasst hat; es ist sein letztes Werk. Das aus dem Verismus bekannte Thema des Aufsteigers wendet Lampedusa geschickt: Er schildert den Fall von Don Batassano Ibba, mittlerweile "Fast-Baron", vor allem über das Echo, das er bei den Alteingesessenen im Club hervorruft. Die herrschaftlichen Faulenzer spekulieren über sein Vermögen und plaudern über ein Lust-Häuschen, dass er sich hätte bauen lassen, mit Fresken, die eine "Enzyklopädie aller Lüste" darstellten. Alle Beteiligten wissen, dass die Geschichte ein "Lügenschloss" ist, aber keiner will den schönen Schein "aus weiblichen Schenkeln" zerstören - Lampedusa feuert ironische Spitzen aus allen Rohren.

NIKLAS BENDER

Giuseppe Tomasi di Lampedusa: "Die Sirene". Erzählungen.

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Piper Verlag, München 2017. 288 S., geb., 24,- [Euro].

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