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Dieser Roman über Korruption und Dekadenz basiert auf einer wahren Begebenheit: Um den Papst Leo X. für sich zu gewinnen, wollen die Portugiesen ihm ein exotisches Geschenk in Form eines lebenden Nashorns machen. Eine lange, entbehrungsreiche Schiffsreise mit dem Tier an Bord endet kurz vor der Küste Italiens. Das Schiff geht unter, der tote Koloß wird an Land gespült, ausgestopft und dem Papst überbracht. Der Autor spannt den Bogen der Erzählung weit, die Nashorngeschichte dient ihm als Spiegel der Phantasien und Obsessionen des Zeitalters der Renaissance kurz vor Ausbruch der Reformation.

Produktbeschreibung
Dieser Roman über Korruption und Dekadenz basiert auf einer wahren Begebenheit: Um den Papst Leo X. für sich zu gewinnen, wollen die Portugiesen ihm ein exotisches Geschenk in Form eines lebenden Nashorns machen. Eine lange, entbehrungsreiche Schiffsreise mit dem Tier an Bord endet kurz vor der Küste Italiens. Das Schiff geht unter, der tote Koloß wird an Land gespült, ausgestopft und dem Papst überbracht. Der Autor spannt den Bogen der Erzählung weit, die Nashorngeschichte dient ihm als Spiegel der Phantasien und Obsessionen des Zeitalters der Renaissance kurz vor Ausbruch der Reformation.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.1996

Kammerjäger spielen Rabelais
Ein bißchen glitschig, aber tief: Lawrence Norfolk wühlt in der Vergangenheit / Von Ingeborg Harms

Wer Lawrence Norfolks neuen Roman genießen will, muß vom grotesken Leib fasziniert sein. Die Ausbuchtungen, Verzerrungen und Übertreibungen des grotesken Menschenbilds weisen, wie Michail Bachtin in seinem Rabelais-Buch ausführt, auf einen zweiten Leib hin, der in allem Sterblichen steckt. "Die wesentlichen Ereignisse im Leben des grotesken Leibs, sozusagen die Akte des Körper-Dramas, Essen, Trinken, Ausscheidungen . . ., Begattung, Schwangerschaft, Krankheiten, Tod, Zerfetzung, Zerteilung, Verschlingung durch einen anderen Leib - all das vollzieht sich an den Grenzen von Leib und Welt, an der Grenze des alten und des neuen Leibes. In all diesen Vorgängen des Körperdramas sind Lebensanfang und Lebensende untrennbar ineinander verflochten." Es ist dieser über die einzelne Form hinwegschwemmende Leib der Gattung, den Norfolk mit großer Prägnanz und Leidenschaft exponiert.

Seine Figuren - man zögert, sie Helden zu nennen - sind Zeitgenossen von Rabelais. Norfolk verwickelt den korrupten Hofstaat Papst Leos X. in eine Geschichte mit zwei mittellosen Söldnern und einem Dutzend pommerscher Mönche. Doch während im "Gargantua" das gefräßige, lustvolle Leben auftrumpft, gehört bei Norfolk der Triumph dem Tod. Unwetter, Krieg, Lynchjustiz, Hunger, Seuchen, Plagen, Folter und Massenvernichtung beherrschen in fast orgiastischer Weise das Bild.

Von Anfang an bewegt sich der Roman in kosmischen Dimensionen. Die Eiszeit und ihr langsames Zurückweichen werden gleichsam im Vogelflug als geologisches Superdrama geschildert. Aus den Metamorphosen dieser kalten Schöpfungsmythe tritt auf einer einsamen baltischen Landspitze das Dorf Usedom hervor, unter dem einst Vineta, die sagenhafte Kaufmannsstadt, im Meer versunken ist. Dieses Vineta bildet im Roman nicht den Gegenpol zum päpstlichen Rom, sondern eine frühere Station in einer Kette des Verfalls. Denn so wie die vornehme Heidensiedlung vom Erdboden verschwunden ist, wird auch die stolze Hauptstadt der Christen ihre Bedeutung auf der Landkarte verlieren.

Es fällt dem Autor nicht leicht, den Blick von der globalen Vernichtung auf Einzelschicksale zu lenken. Der erste Teil des Romans bietet ein breughelsches Gewimmel bäurischer Gestalten, die in einer grenzenlosen Frostlandschaft hilflos mit den Elementen kämpfen. Der überwältigende Eindruck ist der beleidigter Mägen. Was in Norfolks Pommern so alles aus Not hinuntergeschlungen wird, spottet jeder Empathie. Die Bedürftigkeit läßt alle Figuren mehr oder weniger gleich erscheinen. Der scharfe Wind, die klamme Erde und eine so frühe wie abrupte Dämmerung hinterlassen tiefe Spuren in den verkrüppelten Seelen der Dörfler.

Aus dieser mit den üppigsten Mitteln der Sprache geschilderten Verzweiflung schälen sich nur langsam Figuren heraus. Da ist Prior Jörg, ein Gelehrter mit einer Vision, der die in Ruinen hausende Brüderschar zum Bittgang nach Rom überreden kann. Seiner Zeit weit voraus, predigt er weltliche Wunder, während seine Schutzbefohlenen in allen Dingen nur Allegorien auf das Himmelreich erkennen.

J örgs Pilgerzug wäre ein trauriger Haufen, wenn der Autor ihm nicht das Duo Salvestro und Bernardo beigegeben hätte. Die beiden haben in päpstlichen Kriegen gedient und sind, nachdem sie die Zeugen eines fürstlichen Meuchelmords wurden, in den Norden geflohen, aus dem Salvestro stammt. Hier ist nicht nur seine als Hexe verschrieene Mutter von ortsansässigen Gläubigen gewissenhaft ertränkt worden, auch er selbst entging nur knapp demselben Schicksal. Trotzdem ist Usedom für Salvestro nicht nur ein Ort des Grauens, sondern auch Schauplatz der Märchen, die die Mutter ihm erzählte. Ausgerechnet ihre phantastischen Geschichten machen ihn zum neuzeitlichen Forscher und Erfinder. Nur knapp überlebt er in einer behelfsmäßigen Faßkonstruktion den Versuch, das unterseeische Vineta mit eigenen Augen zu sehen. Das Wunderbare ereignet sich, wie er erfahren muß, nicht da, wo man es sucht.

Die nordischen Verhältnisse läßt Norfolks zum Opernhaften neigender Roman durch den Chor der Heringe kommentieren. Im Süden tritt die warme, pelzige und nicht eben unaufdringliche Ratte in den Vordergrund. Die römische Szene öffnet sich über einem Nagetierkrieg. Blut, Exkremente, Körpersäfte breiten sich in allen Gängen der Engelsburg aus. Bei den Menschen geht es nicht manierlicher zu, wie ein päpstlicher Festgottesdienst demonstriert. Hier hängt ein lebendes Schwein von der Decke, Hähne und Hühner werden geköpft, und von der Galerie aus nimmt ein allerseits gespannt verfolgter Spuckwettbewerb seinen Lauf.

Norfolk kultiviert die Kammerjägerperspektive. Seine Schauplätze werden vor aller Handlung schon mit unermeßlichem Abfall und beißenden Gerüchen ausgestattet. Man könnte "Ein Nashorn für den Papst" als Fäkalsaga bezeichnen, als Apotheose des Drecks, so episch glitscht es sich von Seite zu Seite. In seinem deutschen Übersetzerteam findet Norfolks wilde, gezackte Sprache angemessene Sekundanten, die trotz großer Treue zum Text eine zweite Unmittelbarkeit erzeugen konnten; auch wenn es, wie beim Hafen von Ostia, nur die des aufgetürmten Abfalls ist: "Schiffe rollen dort im schleimigen Küstenspülicht der grünen Brackdünung, wo halbverweste Fische die weißen Bäuche zeigen . . . Die Sardinenflotte war ausgelaufen. Ihre Hinterlassenschaften besudelten den Kai: Treibdünen aus Fischschuppen, amphibische Drecklappen, dampfende bouillabaisses aus Monstern mit Saugnäpfen und Tentakeln samt gelber Lake und roten Spritzern. Nutzloser Fisch. Standhafter Unrat. Der Dreck, der nimmer weicht."

Vor dem Sog dieser in breit durchpflügten Würmer- und Madenwelt immunisiert eine einzige Gestalt. Es ist der Riese Bernardo, der in Salvestros Schlepptau die Heldentaten von Asterix und Obelix durch Norfolks Episoden geistern läßt. Einfältig und gutmütig, stets hungrig, anhänglich, kinderlieb und mit Bärenkräften ausgestattet, wird Bernardo zum geheimen Zentrum der abenteuerlichen See- und Mordgeschichte, als die sich die zweite Hälfte des achthundertseitigen Epos entpuppt. Bernardo ist der einzige, der die höllischen Strapazen spielerisch verkraften kann. Auf dem Höhepunkt der Handlung zieht er ein großes Handelsschiff im Paddelboot hinter sich her. Weil es Bernardo gibt, werden alle Dinge mit potentieller Komik aufgeladen. In seiner mächtigen, dahinschwankenden Unförmigkeit ist er der Roman selbst, der sich gierig alle Schrecken dieser Erde einverleibt. Als Bernardo stirbt, geht auch das Buch zu Ende.

Norfolks Poetik entspringt seiner grotesken Welt des auslaufenden Mittelalters und schmiegt sich ihr über einen großen, manieristischen Umweg wieder an. Von Roms zahlreichen architektonischen Schichten sagt der Erzähler einmal, ebenso wie es wahrhaftigere Roms unter dem Rom von heute gibt, "so werden auch Gottes Chiffren durch ständigen Gebrauch und zunehmende Abnutzung unansehnlich". Das Forum Romanum ist im Nashorn-Roman ein staubiger Abgrund von rissigem Kalkstein, eine Wunde in der Stadt, wie Norfolk gerne sagt. Doch als schmutzige Grube ist es auch der Schlüssel zum ganzen Buch. Denn es verheißt, daß gerade der Dreck sich für den, der genau hinsieht, als die Sache selbst erweist.

Markantestes Merkmal des Norfolkschen Stils ist seine Detailversessenheit. Hier kennt er keine Grenze, weder Linie noch Abschluß. Wie in den künstlich produzierten Welten der Mandelbrodschen Chaosformel schafft auch bei Norfolk jede Vergrößerung neue Mannigfaltigkeiten. Der straffe Umriß des modernen Körperideals bleibt bei solchen barocken Exkursionen vollends auf der Strecke.

In unserer Welt des gezielten Beiseitesehens beinhaltet diese Strategie eine erregende Entscheidung. Sie behält sich die Neugier des Tropenreisenden für den zivilisierten Städtealltag vor. Der Kulturmüll ist ihr nichts anderes als die Mimikry der ewig jungfräulichen Natur. Im Urwald, den Bernardo und Salvestro nach einem Nashorn für Leo X. durchsuchen, ist auch nichts, was es scheint: "Leoparden in Bewegung sehen aus wie ein Schwarm sterbender Wespendrohnen, die sich aus ihren kokonartigen Nestern herabstürzen, die wiederum an die hochgeschätzten, aber toxischen Tololoknollen erinnern. Flügellose Insekten imitieren Stöcke, Blätter, giftige Früchte und ungenießbare Flechten. Seitwärts breitet sich der Wald durch Prozesse der Imitation und der Analogie aus."

Das Poetische selbst, das sich in Norfolks oxymoronischem Efeu, seinen Metaphernetzen und Analogie-Lianen durch den Text schwingt, ist der Schmutz, der Rom so rätselhaft trübt, verstopft und verfilzt. Der dunkle Kontinent, den die Renaissance erhellt zu haben glaubte, liegt bei Norfolk nicht jenseits der Meere, sondern vor unseren Füßen. Als das mühsam präparierte Fabeltier vor den Augen des Papstes explodiert, verstreut es nichts als Unrat über die festlich versammelte Menge. "Gott", erklärt die als weißer Engel durch alle Gemetzel hüpfende Amalia, "ist gestern so gewesen, heute ist er jedoch ganz anders." Dort, wo die Identität aufhört, wo nichts mehr zu erkennen ist, da liegen in diesem Buch die Altäre. Amalias Gegenfigur ist die zauberische schwarze Usse. Im heimischen Onitsha wird sie von ihren afrikanischen Brüdern nach den Heiligtümern der Weißmänner befragt. Unglaublich groß, sagt sie, "aus Steinen erbaut, aber schmutzig".

Lawrence Norfolk: "Ein Nashorn für den Papst". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Gisbert Haefs, Hans-Wilhelm Haefs, Gerald Jung und Gisela Stege. Albrecht Knaus Verlag, München 1996. 814 S., geb., 49,80 DM.

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