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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.06.2009

Wirtschaftsbuch
Jeder Tastendruck hinterlässt eine Spur
Sie folgen den Spuren unserer Wanderung durch das Internet wie Biologen den Zugvögeln oder Buckelwalen folgen. Sie verwandeln die Bits unseres Alltags in Symbole, verfassen Statistiken und suchen nach Mustern in unseren Daten – seien es Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Blogeinträge oder Einkäufe. Das sind die „geheimen Machenschaften” der Numerati, sagt Stephen Baker in seinem neuen gleichnamigen Buch.
Darin beschreibt der amerikanische Wirtschaftsjournalist, wie die Numerati – es sind Topmathematiker und Informatiker – anscheinend wertlose Informationsschnipsel zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen. Denn jeder Tastendruck auf einem digitalen Gerät hinterlässt eine Spur, die irgendwo im digitalen Universum gespeichert ist. Diese Informationen beschreiben unseren Alltag und dokumentieren unseren Arbeitstag. Daraus rekonstruieren die Numerati Eigenheiten und Vorlieben: „Sie wollen herausfinden, wen wir wählen, mit wem wir zusammenarbeiten wollen, vielleicht sogar, zu wem wir in der Liebe am besten passen” – um uns dann zu manipulieren. Das ist Bakers These und eine Perspektive, die Parteien und Geheimdiensten ebenso wie „Marketingfachleuten das Wasser im Munde zusammenlaufen” lasse.
Wer jetzt allerdings erwartet, dass Baker gegen diesen Einbruch in die Privatsphäre Stellung bezieht, wird enttäuscht. Genauso wenig reflektiert er diese „Machenschaften” im Kontext des Datenschutzes. Er beschreibt lediglich – das aber sehr spannend und anschaulich –, wie die Numerati Informationen sammeln und entschlüsseln. Dabei jongliert der Autor mit Daten, dass einem schwindlig wird. Den roten Faden bilden sieben Personengruppen, denen jeweils ein Kapitel des Buches gewidmet ist: Arbeitende, Käufer, Wähler, Blogger, Terroristen, Patienten und Liebende.
Besonderes Augenmerk gilt dem Arbeitsplatz, an dem wir mehr als anderswo zu „Sklaven der Information” werden, die wir produzieren. Doch wozu sollte ein Unternehmen jeden Tastendruck speichern und mathematisch analysieren? Jede Bewerbung, jeden Lebenslauf, alle Projektberichte und Online-Kalender-Vermerke bis hin zu Telefonverbindungen und E-Mails? Baker sagt lapidar: „Um unsere Produktivität zu steigern.”
Deshalb beschäftige IBM beispielsweise 40 „promovierte Experten”, vom Statistiker bis hin zum Anthropologen, die nur zwei Tabus kennen: die Personalakte und die jährliche Mitarbeiter-Beurteilung. So wolle IBM die Stärken und Schwächen der Angestellten identifizieren, um sie dort einsetzen zu können, wo sie sich entfalten, wie Baker den Entwicklungsleiter von IBM, Samer Takriti, zitiert. Zudem würden Außenseiter ebenso erkennbar wie informelle Netzwerke oder Mitarbeiter, die mit „der Konkurrenz liebäugeln”. Letztendlich geht es also nur um eines: um Kontrolle.
Aus diesem Grund durchwühlen auch Computerprogramme viele Tausende Blogs auf der Suche nach Beurteilungen von Produkten und Dienstleistungen. Diese Informationen werden anschließend an Werbetreibende verkauft. Das ist der entscheidende Punkt, den das Buch klar herausarbeitet: Wir sind nicht mehr Herr der Daten, die wir generieren. Weder an der Supermarktkasse noch im Krankenbett oder in der Partnerbörse.
So entsteht ein verdichtetes Szenario, das klar beschreibt, in welche Richtung die Entwicklung geht: Unsere Daten sind heiß begehrt und viel Geld wert. Anderes klingt allzu phantastisch. Etwa die Vorstellung, man könne in absehbarer Zeit das Leben der Menschen so exakt durch mathematische Modelle simulieren, dass sich sogar genaues Verhalten vorhersagen ließe. Diese Vorstellung ist äußerst unangenehm – und sie dürfte unrealistisch sein. Noch. Florian Michl
Stephen Baker:
Die Numerati. Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften.
Carl Hanser Verlag, München 2009, 264 Seiten, 19,90 Euro.
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