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  • Verlag: Norton
  • ISBN-13: 9780393048865
  • Artikelnr.: 21271993
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2000

In der Verantwortung stehen
Die Entschädigung historischen Unrechts

Elazar Barkan: The Guilt of Nations. Restitution and Negotiating Historical Injustices. W. W. Norton & Company, London 2000. XLI, 414 Seiten, 21,- Pfund.

Schuld oder gar schuldig zu sein kann teuer werden. Das haben die Deutschen im 20. Jahrhundert mehr als einmal erfahren müssen. Der Versailler Vertrag vom Juni 1919, der den Frieden zwischen dem Deutschen Reich und seinen vormaligen Kriegsgegnern festschreiben sollte, stellte einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Verantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkrieges und den auf Jahrzehnte zu leistenden Reparationszahlungen her. Nicht zufällig plazierten die alliierten Sieger den Artikel 231 an den Anfang jenes Vertragsteils, der die "Wiedergutmachungen" zum Gegenstand hatte. Nicht zufällig firmierte dieser Artikel in Deutschland als "Schuldparagraph".

Diese Form der erzwungenen Schuldanerkennung interessiert den Kulturwissenschaftler und Historiker Elazar Barkan nicht. Ihm geht es vielmehr um jene Fälle von Entschädigung, welche die Täter ihren vormaligen Opfern und ihren Nachkommen freiwillig zukommen ließen. Und auch hier, so Barkan, hat Deutschland, das heißt in diesem Falle die Bundesrepublik, eine Vorreiterrolle gespielt. Gewiß, auch nach dem Zweiten Weltkrieg hat es erzwungene Entschädigungsleistungen an die Siegermächte gegeben, vor allem in Form von Demontagen. Entscheidend aber ist gewesen, daß sich Bonn, beginnend mit dem deutschisraelischen Wiedergutmachungsabkommen, dazu entschloß, diejenigen zu entschädigen, die in der Zeit des "Dritten Reiches" am brutalsten verfolgt und gequält worden waren. In diesem Augenblick, so Barkan, wurde die moderne Idee der Entschädigung historischen Unrechts geboren, und natürlich war das erst der Anfang.

Seither hat sich das Thema unaufhaltsam in den Vordergrund des Umgangs der Nationen mit ihrer Geschichte geschoben: Ganz gleich, ob es um das Verhältnis der Vereinigten Staaten von Amerika, Kanadas, Australiens oder Neuseelands zu ihren eingeborenen Bevölkerungen geht, um die Beziehungen der vormaligen Kolonialherren zu den Völkerschaften ihrer Imperien, um die Verantwortung der ehemaligen Sklavenhalter gegenüber den Nachkommen ihrer Opfer oder um das Verhältnis der Deutschen und anderer gegenüber den Heeren ihrer Zwangsarbeiter - immer geht es auch um die Frage, wie geschehenes Unrecht kompensiert, entschädigt oder wiedergutgemacht werden kann.

Barkan hält es für keinen Zufall, daß nach dem Zusammenbruch der alten Weltordnung nicht nur die entsprechenden Forderungen lauter geworden sind, sondern daß auch die Bereitschaft der "schuldigen Nationen", für das historische Unrecht einzustehen, erheblich zugenommen hat. Sicher läßt sich das mit der Überwindung der Barrieren und der Tabus des Kalten Krieges erklären, aber Barkan reicht diese Erklärung nicht: Wenn es zutrifft, daß im Zeitalter der galoppierenden Globalisierung nicht nur Grenzen aller Art, sondern mit ihnen auch Möglichkeiten der Orientierung und der Identitätsfindung verschwinden, dann müssen neue Wege und neue Themen der Selbstvergewisserung gefunden werden. Das gilt für den einzelnen, und es gilt für die Völker.

Die Geschichte hat in einem hohen Maße eine solche identitätsstiftende Wirkung, aber nur dann, wenn nichts verheimlicht, übersehen oder ausgeblendet wird. So sind begangenes Unrecht und sich daraus ergebende Schuld Teil der Geschichte und Merkmal der eigenen Identität. Das gilt übrigens für die Täter wie ihre vormaligen Opfer gleichermaßen. Auch die Nachkommen der verfolgten, vertriebenen, unterjochten und zu Teilen vernichteten Völker beziehen aus ihrem kollektiven Anspruch auf Entschädigung einen Teil ihrer Identität.

Und dann die Moral: Barkan fragt sich, ob die global zunehmende Tendenz, für historische Schuld einzustehen, auf ein neues Verständnis von "moralischer Verantwortung", übrigens auch für die Entwicklungen der Gegenwart, schließen läßt. Natürlich weiß er, daß hinter der aktuellen Entschädigungsbereitschaft, etwa deutscher Banken und Firmen, auch die Hoffnung steckt, künftig den Geschäftsbeziehungen, namentlich in den Vereinigten Staaten, ungestört nachgehen zu können. Daraus ergeben sich weitere Fragen: "Sollen wir die Hochkonjunktur der Entschädigungen als vorsichtigen Anfang einer neuen internationalen Moral begreifen, oder haben wir es hier nicht gerade mit der letzten Variante der zeitgenössischen Flucht vor moralischer Verantwortung zu tun?"

Elazar Barkan hat ein bemerkenswertes Buch vorgelegt. Sicher bewegt er sich nicht immer auf gleichermaßen sicherem Terrain. Dafür ist das Thema viel zu komplex. Mancher Leser mag durch die starke Theorielastigkeit der Studie den Blick auf das Wesentliche mitunter eher verstellt sehen oder sich daran stören, daß der Autor manche Informationen, beispielsweise über die aktuellen Entschädigungsdiskussionen in Deutschland, aus zweiter Hand bezieht. Dafür aber läßt Barkan den mitunter provinziellen Horizont der deutschen Diskussion hinter sich und stellt das Thema der Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter in Deutschland in jenen großen historischen Zusammenhang, in den es ohne jeden Zweifel auch gehört. Daß Barkan bei seinem Parforceritt durch ein sehr unübersichtliches Gelände der neueren Geschichte mehr Fragen aufwirft, als er beantworten kann, gehört zu den Vorzügen seines Buches.

GREGOR SCHÖLLGEN

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