Produktdetails
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.01.2000

Liebe ist doch wärmer als der Tod
Stephen King sieht in seinem neuen Roman „Das Mädchen” den Wald vor lauter Bäumen
Obwohl schon seit Jahrhunderten vermessen, durchforstet, urbanisiert und domestiziert, ist der Wald noch immer die beste aller denkbaren Welten, um Verlassenheit, Einsamkeit, Angst und Schrecken Wirklichkeit werden zu lassen. Das zeigte jüngst das Kino mit dem „Blair Witch Project”, und es zeigt sich jetzt auch wieder in der Literatur. Alle Waldgeschichten schienen längst erzählt zu sein, Hexen und Werwölfe längst ausgespielt zu haben, Stephen King aber braucht in seinem neuen Roman Das Mädchen”, der aparterweise mit schwarzem wie mit weißem Umschlag zu haben ist, wenig mehr als einige Quadratkilometer Forst, und schon lauern alle Schrecken dieser Erde hinterm nächsten Baum.
Die neunjährige Patricia MacFarland, genannt Trisha, verirrt sich bei einem Ausflug mit ihrer Mutter und ihrem Bruder in den Wäldern von Maine. Bis sie gefunden wird beziehungsweise selbst aus dem Wald herausfindet, dauert es etwa zwei Wochen. Der Roman erzählt von dieser Zeit im Wald, nicht mehr und nicht weniger. In erster Linie ist dieses Buch also ein Buch über die Einsamkeit. Die Lesestrecke, die wir dabei zurücklegen – 300 Seiten – ist für Kings Verhältnisse ziemlich kurz. Nun hat Einsamkeit, gerade in der englischsprachigen Literatur, die ja auch eine der Seefahrer ist, eine große Tradition – King kann da nicht weiterschreiben, er ist und bleibt ein Spezialist der Angst. Die heran kriechenden Schrecken beschreibt er souverän, für die Verlassenheit des Mädchens findet er dagegen keine vergleichbar schlüssige Dramaturgie.
Schon mit den ersten Sätzen entrollt King allerdings den doppelten Boden, auf dem all seine Monstrositäten wachsen. Trisha verirrt sich nicht zufällig, sondern weil sich ihre Mutter und ihr Bruder schon wieder streiten. Das ist einfach nicht auszuhalten! Tatsächlich ist Trisha von Anfang an einsam und verlassen. Alle Schrecken, die da kommen werden, sind von diesem Anfang an da, versteckt, aber nicht mehr zu vertreiben.
Trotzdem steckt der Clou des Buches nicht in dem versiert entfalteten Horrorszenario, in dem Ameisen noch längst nicht das Schlimmste sind. Kings genialer Schachzug besteht nicht darin, dass er eine Art Wespenmonster erfindet, das einerseits wie ein Bär aussehen kann, und das andererseits auch den immer heftiger werdenden Fieberphantasien das Mädchens geschuldet sein könnte, und damit noch genug Realitätsbezug hat, um auch für Wirklichkeits- und Vernunftsfanatiker durchgehen zu können – seine eigentliche Idee ist ein Walkman mit Radio.
Ein großer Wurf
Und das geht so: King scheint eine private Obsession für die Red Sox, das Bostoner Baseball-Team, in Trishas präpubertäre Liebe für deren (real existierenden) Werfer Tom Gordon umgemodelt zu haben. Dieser Gordon ist nicht nur Trishas Abgott, er wird auch zu ihrem wirklichen Schutzengel. Er steht ihr als einziger, vor Eltern und Bruder, wirklich zur Seite, jetzt wo es drauf ankommt. Sie hört die Spiele der Sox im Walkman, das reicht, um ihre Beziehung zu Gordon zu einer tragfähigen zu machen, das reicht, um ihr Schicksal letztlich positiv zu wenden. Trisha tritt den Schrecken der Einsamkeit so gegenüber wie Gordon dem Gegner und sie wird dadurch bestehen – auch wenn ihre Verbindung zu dem Werfer unglücklicherweise von der Lebensdauer ihrer Batterien abhängt. Nicht umsonst heißt das Buch im Original „The Girl Who Loved Tom Gordon”.
Was also braucht man, um im Wald überleben zu können? Etwas zu essen und trinken? Warme Kleidung und einen Regenschutz? Ein Messer und ein Feuerzeug? Insektenspray und Verband? Gute Nerven und eine Pfadfindergrundausbildung? – Nichts von alledem ist so wichtig, wie, sagen wir es ruhig abstrakt, ein geliebtes Objekt. „Das Mädchen” ist also nichts als eine neue Variation auf das alte „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein”. Möglicherweise gilt das Sprichwort ungebrochen: bis heute und für alle möglichen Welten.
Gern wird ebenfalls bis heute die als Geschichtenort ungebrochene Attraktivität des Waldes qua Negativum erklärt: Was sich in den Waldwelten abbilde, sei die Angst aus der geschlossenen, zivilisierten Welt herauszufallen. Der Rückfall in den einst noch selig machenden Naturzustand ist zur Horrorvision des Verlusts der vielen hilfreichen Sicherheiten und Handreichungen der Zivilisation geworden, derer wir uns eigentlich nicht mehr bewusst sind. Trishas Lektion lautet dagegen etwas anders: „Die Welt hatte Zähne und sie konnte zubeißen.  Sie war erst neun, aber sie wusste es und glaubte es akzeptieren zu können. ”
Vielleicht also sollte man nach der Lektüre von Stephen Kings neuem Roman (und vielleicht auch überhaupt) mit den Walderklärungen etwas weiter gehen: Der Wald ist die Chiffre für die Realität an sich, für jenen Ort, wo Erfahrungen jene Triftigkeit und Nachhaltigkeit bekommen, die in den virtuellen Welten, deren Geschichte ja nicht erst heute sondern eigentlich schon mit einem festen Wohnsitz begonnen hat, nicht möglich ist. Die schreckliche Welt, so einfach wäre das dann, ist auch die bessere, weil wahrere.
PETER MICHALZIK
STEPHEN KING: Das Mädchen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner. Schneekluth Verlag, München 2000. 304 Seiten, 38 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.2006

Angst und Nähe
Stephen Kings "Love" ist der anrührende Roman einer Ehe

Stephen und Tabitha King sind seit 1971 verheiratet - Kings Weltruhm als Autor scheint der Verbindung nichts anhaben zu können. Sein Roman "Love", der heute weltweit erscheint, setzt ihr nun ein Denkmal.

"Es ist eine Liebesgeschichte mit Monstern. Einige davon sind Menschen." Wenn ein alles andere als maulfauler Schriftsteller wie Stephen King eine Lesung unveröffentlichter Romanpassagen so wortkarg ankündigt, darf man sich auf einen Text gefaßt machen, an dem selbst für die Verhältnisse dieses notorisch arbeitswütigen Menschen außergewöhnlich ernsthaft gefeilt worden ist.

Als King im Juni letzten Jahres auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten des von seinem Freund John Irving und dessen Frau gegründeten "Maple Street School"-Projekts in Manchester, Vermont, nach dieser nüchternen Ankündigung aus "Lisey's Story" las, fiel Kennern im Publikum auf, daß da ein Tonfall wiedergefunden war, den man, was immer King als Schriftsteller seither sonst an Kunstfertigkeit und Reife dazugewonnen haben mochte, seit "The Shining" (1977) von ihm so nicht mehr hat erleben dürfen: dicht, vorsichtig, als ob jemand mit ruhiger Hand langsam ein Tuch von etwas wegzieht, von dem man nicht weiß, ob man bereit ist, es anzusehen oder gar zu berühren. "Zu wissen, daß es gleich nebenan eine weitere Welt gibt . . . und daß die Trennwand so dünn ist . . ."

"Lisey's Story", der Roman, der heute unter dem Titel "Love" auf deutsch bei Heyne erscheint, erzählt von Lisey, der Witwe des hochproduktiven, vielseitigen und sehr erfolgreichen Schriftstellers Scott Landon. Sie weiß, was sonst niemand ahnt: Seine Kindheit durchlitt Scott als Opfer eines Familienunheils, das unter anderem seinen geliebten älteren Bruder und den psychotischen Vater getötet hat. In manischen Schüben haben nahe Angehörige dem späteren Autor sowohl buchstäbliche wie seelische Verletzungen zugefügt, von denen er nie genesen ist. Er hat diese Wunden mit in die Ehe genommen: "Finanziell werden wir ein ziemlich reiches Ehepaar sein, glaube ich, aber emotional bleibe ich bestimmt mein Leben lang bettelarm. Ich habe eine Menge Geld zu erwarten, aber was den Rest betrifft, besitze ich so gerade eben genug für dich, und das werde ich nie durch Lügen beschmutzen oder verwässern."

Als Scott starb, hat er das, was ihn beschädigt und geschaffen hat, seiner Frau gleichsam vererbt; jetzt muß sie damit zurechtkommen, ebenso wie mit den Nachlaßjägern. Ein unberechenbarer Irrer macht das Anliegen eines blasierten Gelehrten - Scott Landons unveröffentlichte Arbeiten müssen seiner Witwe irgendwie entwunden werden - zu seiner heiligen Rächerpflicht. Der Rest ist Terror.

Die grellen Schrecken, die daraus folgen, schildert King aus der Sicht der Frau, die man gleichwohl nicht "Opfer" nennen kann. Denn ihr Kampf mit dem mal gestaltlosen, mal in banalsten Alltagsgegenständen und -erfahrungen punktförmig aufglühenden Schmerz, aber auch ihr Trotz und ihr Mut, kurz: der ganze Resonanzreichtum dieser Figur läßt sich nicht unters Regiment eines polizeilichen und moralischen Begriffs zwingen, der ihr die bloße passive Rolle eines Objekts von Furcht und Mitleid zuweist.

Lisey wehrt sich, gegen das Greifbare und das Unbegriffliche. Dabei helfen ihr die Lebenden - vor allem ihre Schwestern - und die Toten. Daß letztere in dieser Lage manchmal mehr ausrichten als erstere, verrät viel von Kings Wissen darüber, wie Trauer entsteht - und über das, was sie überwindet.

Scott Landon ist nicht Stephen King, auch wenn die literarischen Vorlieben, Auszeichnungen und sonstigen Lebensumstände der beiden einander in vielem berühren, ja sich decken. Lisa "Lisey" Landon, geborene Debusher, ist nicht Tabitha "Tabby" King, geborene Spruce, auch wenn ihre seinerzeit breit publizierte gefährliche Begegnung mit einem durchgeknallten Bewunderer ihres Mannes im gemeinsamen Haus 1991 bis ins Detail der Bedrohungskonstellation von "Love" entspricht.

Die echten und die erfundenen Menschen sind also nicht identisch - das ist Grundschülerwissen über Literatur. Aber ebenso sicher ist die Wahrhaftigkeit dieses Romans, das Anrührende und Zärtliche, was darin über die harte Arbeit zu lesen steht, die es bedeutet, eine Liebe als Kraftzentrum, Widerstandsnest, Katastrophenschauplatz, Haus der wechselseitigen Heilung, Herausforderung und Belohnung über viele Jahre am Leben zu halten, von King wirklich erfahren worden: an der Seite seiner Frau. Das zeigt nicht nur die Widmung - "für Tabby" -, sondern auch der schlichte Tatbestand, daß dieser Multimillionär seit 1971 alle seine beispiellosen Erfolge, die Erziehung dreier Kinder, die Überwindung einer Drogenkrise und eines lebensbedrohlichen Unfalls mir ihr zusammen erlebt hat.

Um künstlerisch zu gestalten, was dieser erstaunliche Tatbestand bedeutet, hat King seinen bildschöpferischen Vorrat und seinen Sprachwitz in "Love" so freigiebig verfeuert wie selten. Ob da, in Kinderperspektive, Blut im Mund "wie das Innere eines Sparschweins" schmeckt, nämlich kupfern, ob die nahtlose Überblendung mehrerer Zeitebenen die cinematische Unmittelbarkeit des Kingschen Stils von der elegantesten Seite zeigt oder Popmusik und phantastische Literatur Zitate für eine dezent, aber eben deshalb ungeheuer effektiv gestreute Leitmotivik liefern - der Roman zeigt den Autor durchgängig so sehr auf der Höhe seines Könnens, daß sich die "New York Times" gar an James Joyce erinnert fühlte.

Da greift sie freilich nicht sosehr zu hoch als vielmehr daneben - die passendere Referenz wäre wohl Alfred Bester gewesen, der große Trickster unter den Science-fiction-Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Wenn in "Love" das Brüllende und Mordlüsterne, das aus Besessenen faucht, vokalmalend als "bad-gunky" vorkommt - von Wulf Bergners Übersetzung sehr schön mit "Bösmülligkeit" wiedergegeben -, dann denken Leute, die mit denselben Büchern aufgewachsen sind wie King, eben nicht an Leopold Bloom und Tim Finnegan, sondern an Besters Sprachfeuerwerke in "Der brennende Mann" (in "Love" von Scott Landon zitiert) oder "Demolition". King kann, was er zu sagen hat, nun mal am besten und triftigsten im Idiom der Phantastik sagen - gut, daß er die erschöpfte Ankündigung, nach Vollendung des "Dark Tower"-Zyklus 2004 vom Romanhandwerk Abstand zu nehmen, nicht wahr gemacht hat.

Daß die beiden wichtigsten Bücher in den phantastischen Genres im Jahr 2006, Mark Z. Danielewskis "Only Revolutions", die Geschichte zweier sechzehnjähriger Liebender unter einem Unstern auf der Flucht durch die Zeit, und Kings "Love", von Paaren und deren mythischem Format handeln, verrät eine Grundtatsache über die unwirklichen Künste: Sie waren von frühesten Dichtungen an Austragungsorte von Veränderungen, die sich persönlich anfühlen, aber wesentlich historischen Charakter haben.

Ehen und Familien zum Beispiel: Sie sind zwar einerseits etwas, in das man hineingeboren wird, samt dem "Gewicht der toten Geschlechter" (Marx), das daran hängt; aber sie sind andererseits auch etwas, das man gründen kann, um die Welt, in die man hineingeboren wird, zu verlassen oder zu verändern. An dieser Grenzscheide zwischen "immer schon" und "von uns erst zu erschaffen" entsteht Phantastik. Dort spielt alles, was King schreibt.

DIETMAR DATH

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr