Produktdetails
  • Verlag: Vintage
  • ISBN-13: 9780224078740
  • ISBN-10: 0224078747
  • Artikelnr.: 23080568
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2007

Mein Kopf ist leer
Der Man-Booker-Preis geht an Anne Enright für „The Gathering”
Es verfestigt sich der Eindruck, dass die Jury des Man-Booker-Preises diese begehrteste Literaturauszeichnung des Commonwealth-Raumes nicht allein aufgrund literarischer Meriten vergibt, sondern auch, um die britischen Buchmacher zu ärgern. Seit 2003 hat keiner der von den Wettbüros favorisierten Autoren mehr die mit umgerechnet 75 300 Euro dotierte Trophäe nach Hause tragen können. Diese Tradition setzt sich mit dem diesjährigen Sieg der Irin Anne Enright fort. Die 45-Jährige war erstmals nominiert und galt als Außenseiterin; ihre Quote lag bei neun zu eins.
Enright hat mit ihrem Buch „The Gathering” (das auf Deutsch unter dem Titel „Das Familientreffen” im nächsten Jahr in der Deutschen Verlagsanstalt erscheint) sowohl den Neuseeländer Lloyd Jones aus dem Rennen geschlagen, dem für seinen insularen Revolutionsroman „Mr Pip” gute Chancen eingeräumt worden waren, als auch den hohen Favoriten Ian McEwan. Zum fünften Mal für den Man-Booker-Preis nominiert, war McEwan diesmal für „Am Strand” auf die Shortlist gekommen, der Story einer wegen sexueller Verklemmungen zum Scheitern verurteilten jungen Ehe. Gewonnen hat er bisher ein einziges Mal, im Jahre 1988. Und auch diesmal musste er bei der Preisverkündung in der Londoner Guildhall wieder das Verliererlächeln bemühen, in dem er nach eigener Aussage mittlerweile viel Übung hat.
Erschütternd schonungslos
Zumindest jungen Eltern dürfte die aus Dublin stammende Anne Enright vor allem als Verfasserin des witzigen Mutterschaftstagebuches „Making Babies” bekannt sein, das sie 2005 vor und nach der Geburt ihrer Zwillinge führte und das in Deutschland unter dem irreführend kitschigen Titel „Ein Geschenk des Himmels” erschienen ist. Wer ähnlich Warmherziges von „The Gathering” erwartet, wird eine recht harsche Überraschung erleben. Enright selbst, die Don DeLillo zu ihren erklärten Vorbildern zählt, hat über den Roman gesagt: „Leute, die ein Buch kaufen, um sich aufzuheitern, sollten dieses Buch lieber nicht kaufen.” Tatsächlich verweisen selbst die begeistertsten Kritiken auf die „erschütternde Schonungslosigkeit”, die „The Gathering” prägt. Veronica Hegarty, glücklich verheiratete Mutter zweier Töchter, wird durch den Selbstmord des alkoholkranken Bruders Liam gezwungen, sich ihrer familiären Vergangenheit zu stellen. Während sie ihren toten Bruder von England zum Begräbnis nach Irland überführt, kämpft Veronica sich durch traumatische Kindheitserinnerungen und durch die dysfunktionale sexuelle Geschichte ihrer katholischen Großfamilie. In einem nicht-linearen, komplexen Bewusstseinsstrom, einem stream-of-consciousness, geschrieben, ist „The Gathering” ebenso sehr virtuose Stilübung wie irische Familiengeschichte. Booker-Jury-Präsident Howard Davies lobte das Werk als „kraftvolles, ungemütliches und manchmal sogar wütendes Buch.”
Die ehrlich überrascht wirkende Autorin ließ in ihre Dankesrede auf Gälisch die Bemerkung einfließen, sie nehme den Preis „auch im Namen des irischen Teams” an. Im Gespräch nach der Verleihung sagte sie, sie hätte erst durch die vielen Gratulationen zur Nominierung erfahren, wie viele Menschen in Irland ihr Werk schätzten. „Vielleicht brauchte es diesen Anstoß, um sie aus dem Unterholz zu locken”, so Enright. Was ihre literarische Zukunft angehe, so habe sie über die Publikation einer Kurzgeschichtensammlung hinaus noch keine konkreten Pläne. „Mein Kopf”, sagte Anne Enright, „ist gerade völlig leer”. ALEXANDER MENDEN
„Leute, die ein Buch kaufen, um sich aufzuheitern, sollten dieses Buch lieber nicht kaufen.” Anne Enright Foto: AFP
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