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Famous author Olive Wellwood writes a special private book, bound in different colours, for each of her children.

Produktbeschreibung
Famous author Olive Wellwood writes a special private book, bound in different colours, for each of her children.
Autorenporträt
A S Byatt
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.2011

Wie die gerechtere, bessere Welt verging
Antonia S. Byatt schenkt uns mit ihrem "Buch der Kinder" einen historischen Roman zur Gegenwart

Auf der Pariser Exposition Universelle von 1900 wird der staunenden Weltöffentlichkeit die Technik des Dieselmotors und jene des Tonfilms vorgeführt. Die Metro fährt, Rolltreppen entführen in höhere Etagen. Die Menschen eilen geschäftig durch eine Welt voller Transfers, technischer, wissenschaftlicher, künstlerischer und politischer Fortschritte, die es zu erringen gilt. Das Kunsthandwerk soll Alltagsgegenstände fernab der industriellen Massenproduktion herstellen, die schön sind, nützlich und bezahlbar. Es gibt kein Wahlrecht für Frauen, in London sind fünfundfünfzigtausend Schulkinder zu hungrig, um im Unterricht ordentlich aufzupassen. Psychoanalyse und Sozialismus und Fabianismus, eine Mengen -ismen schwirren durch die von Künstlern, Linken und Intellektuellen als verbesserungswürdigste aller Welten empfundene Wirklichkeit.

Na, klingt das nach einem kulturgeschichtlichen Sachbuch, nicht nach dem aufregend schwankenden Geistesuntergrund eines Romans? Damit wären die stärksten Einwände seitens der angelsächsischen Kritik gegen A. S. Byatts 2009 im englischen Original veröffentlichten und nun auf Deutsch erschienenen Roman "The Children's Book" bereits formuliert, in welchem eine zentrale Szene beschreibt, wie eine kleine Gruppe von Byatts umfangreicher Protagonistenschar die Pariser Weltausstellung besucht.

"Das Buch der Kinder": zu lang, zu lexikalisch? Nein! Die Schilderungen der Tage in Paris sind alles andere als trockene Wikipedia-Einträge, sondern vermitteln im Gegenteil die faszinierende Fülle an Eindrücken und die überwältigende Wirkung jenes Stroms von Informationen, der damals, als es noch keine Massenmedien gab, auf die unvorbereiteten Menschen traf. Gewiss, durch Byatts Buch geistern die kulturellen Größen der Jahrhundertwende, Anthroposophen und andere Weltverbesserer, Politiker wie Beatrice Webb, Schriftsteller wie Kenneth Grahame und Oscar Wilde, Rodin wütet, es werden Reformkleider getragen, und aus Gesinnungsgründen wird nackt gebadet, es gibt Klassengegensätze und Suffragetten, die in Gefängnissen zwangsernährt werden. Es wird Shakespeare gespielt und Mittsommernacht gefeiert, die Erwachsenen trinken Champagner, um ihren Wohlstand und ihr bohemehaftes Leben festlich im Kopf zu spüren. Und - ja, manche von ihnen sind Banker, und - ja, man könnte sich veranlasst fühlen nachzuschlagen, was unter Bimetallismus verstanden werden muss. Aber: Ist das schlimm? Wie kann denn das langweilig sein, da es den Fluss der Handlung nie wirklich ins Stocken bringt, sondern sein abwechslungsreich geführtes Bett bildet?

Natürlich, von einer Gegenwartsliteratur, deren Autoren eben durchlebte Episoden des eigenen Lebens abbilden und Bekannte wiedererkennbar schildern, ist Byatts Ästhetik denkbar weit entfernt. Berühmte Namen kommen im "Buch der Kinder" nur vor, wenn diese in den Gesichtskreis ihrer Protagonisten geraten, wenn es künstlich wirken würde, sie wegzulassen. Aber die Figuren sind genuin literarisch, und wie Byatt, die das literarische Kidnapping echter lebender Personen verachtet, deren verschlungene Lebenserzählung einbettet in die Zeitläufte, das kann man nur als organisch beschreiben.

Das Verfahren hat Byatt auch nicht gewählt, weil sie im tiefsten Inneren Lehrerin geblieben ist, sondern weil die bewegende düstere These des Buches folgendermaßen lautet: Um 1900 - der Roman setzt 1895 ein und endet 1919 - kommen eine Reihe so entscheidender sozialer, politischer, künstlerischer Bewegungen auf, werden eine solche Fülle von Ideen für eine gerechtere, schönere, bessere Welt entwickelt, dass es schlicht niederschmetternd ist zu sehen, wie zwanzig, fünfundzwanzig Jahre später Europa zerstört daliegt, Millionen von Menschen verloren hat an einen sinnlosen Krieg, nach dem die Erde ein einziges aufgerissenes Feld von Schlamm ist: "Die friedlichen Polder hatten sich in eklen, zähen, klebrigen, mahlenden Lehm verwandelt, vermischt mit Knochen, Blut und Fleischfetzen."

Wer "Das Buch der Kinder" liest und nach knapp neunhundert Seiten an das Ende dieses Bildungsromans einer Generation gerät, versteht Byatts obsessiven Detailreichtum. Nur so konnte es ihr gelingen, zu fassen, was in diesem Vierteljahrhundert Prägendes gedacht, hergestellt und zerstört wurde, nur so kann sie ins Herz der Geschichte vordringen. Man ist nach der Lektüre klüger als zuvor und deprimierter auch. Die kleine Tischrunde der Überlebenden, der Davongekommenen sitzt zusammen, aber es ist ein Moment des Glücks für immer Verletzter, Schockierter, und für den Leser sitzen wie in einer zweiten Reihe hinter den Überlebenden die blassen Schemen der Toten des Romans und der Verzweifelten, zu denen keiner zurückgekehrt ist.

Doch bis dahin ist man einen langen Weg gegangen mit Byatts phantastischen Figuren, ihren Schriftstellern, Töpfern, Museumskuratoren, frei umherstreunenden Kindern, die zu Studenten heranwachsen, ihren Kleist lesenden Puppenspielern und Bühnenbildnern, Pastoren, Schwärmern, über der weiblichen Untätigkeit verrückt gewordenen Ehefrauen und ersten engagierten Frauenrechtlerinnen. Byatt kann alles schildern, trocken, unsentimental, aber eigen und bildhaft. Nie drängt sich ihre Sprache an den Figuren vorbei in den Bewusstseinsvordergrund des Lesers, öfter aber verweilt man wie bei einem Gedicht lange über einer Stelle, etwa wenn sie den Wald beschreibt, die Küste oder das Anfeuern eines Brennofens für Töpferwaren. Und Melanie Walz, seit langen Jahren Byatts Übersetzerin, lässt einen das englische Original nicht einen Moment vermissen - man hat sozusagen auf Deutsch das Gefühl, man lese einen englischen Roman.

Die zentrale weibliche Gestalt des Romans, Olive Wellwood, Mutter von sechs der hier heranwachsenden Kinder, ist interessanterweise eine in entscheidenden Momenten nicht unbedingt sympathische Frau. Byatt meint das auch so verantwortungsethisch, wenn sie Olive schuldig werden lässt, zumindest mitschuldig am Tod ihres Lieblingssohnes. Man begreift an Olive, die Märchenerzählungen schreibt und mit ihren Erfolgsbüchern die Existenz der wachsenden Familie auf dem Landanwesen "Todefright" unterhält, was das bedeutet. Viele Kinder zu haben heißt, sie ganz unterschiedlich zu lieben und auch unterschiedlich stark, etwas, das Kinder fühlen und das Konsequenzen hat. Außerdem Autorin zu sein heißt, immer etwas im Kopf zu haben, das aufs Papier muss, wozu man sich innerlich und räumlich einschließen muss. Es gibt andere, die diese Abwesenheiten auffangen, aber auch sie wollen bezahlt sein. In Olives Fall beinhaltet das, ihre Schwester Violet bei sich wohnen zu haben, die ein Langzeit-Verhältnis mit Olives Mann Humphry, einem charmanten, nicht ganz zuverlässigen Typ, lebt, sorgfältig vor sämtlichen Kindern verborgen - und zwar vor Kindern, die frei aufwachsen wie nie zuvor und nachher.

Es gibt viele Fragen unserer Gegenwart, die dieser Roman in neues Licht taucht: Was ist Familie, was Kindheit, welche Bedeutung hat die Arbeit, welche das Sein in der Natur, welche das Fest, das Theater, die Kunst? Aber zuvörderst schenkt er Stunden vollkommen selbstvergessener Lektüre, die einen von den labyrinthischen Kellergewölben des Victoria & Albert Museum weit über Englands sanfte Hügel bis hinunter in die gestankerfüllten Schützengräben führt - und wieder aus ihnen heraus.

WIEBKE HÜSTER

A. S. Byatt: "Das Buch der Kinder". Roman.

Aus dem Englischen von Melanie Walz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 896 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Intricately worked and sumptuously inlaid novel...seethes and pulses with an entangled life, of the mind and the senses alike. Colour and sensation flood Byatt's writing...she is a master-potter, or magic-working puppeteer Boyd Tonkin Independent