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Produktdetails
  • Reclams Universal-Bibliothek
  • Verlag: Reclam, Ditzingen
  • Deutsch, Russisch
  • Gewicht: 161g
  • ISBN-13: 9783150094129
  • ISBN-10: 3150094127
  • Artikelnr.: 24349292
Rezensionen
Scharfe, atemberaubend "moderne" Gedankengänge vermischen sich in diesen Texten mit mittelalterlichen "Beweisführungen" wie jener, die Papst Anastasius II. als Häretiker entlarven soll. (...) Es ist ein Verdienst Miethkes, eine Auswahl herausgegeben zu haben, die nicht nur Licht, sondern auch Schatten sichtbar macht. Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wem Zeit und Ausdauer fehlen, Wilhelm von Ockham auf all seinen argumentatorischen Um- und Seitenwegen zu folgen, und wer sein Latein aufpolieren möchte, wird für Jürgen Miethkes lateinisch-deutsche Auswahl aus den politischen Schriften bei Reclam dankbar sein! Die Furche (Wien)

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.1996

Mit der Natur gegen König und Papst
Widerstandsrecht im Mittelalter: Wilhelm von Ockham als politischer Theoretiker

In der Nacht vom 26. auf den 27. Mai des Jahres 1328 verließ eine kleine Gruppe von Franziskanern den damaligen Papstsitz in Avignon. Sie hatten alle vor der Kurie unter Verdacht der Ketzerei erscheinen müssen und flüchteten nun vor einer fast sicheren Verurteilung. Die päpstliche Polizei fahndete vergeblich nach den Flüchtigen. Es gelang ihnen, im Hafen von Aigues Mortes ein Schiff zu erreichen; einige Tage später waren sie in Pisa, unter dem Schutz Kaiser Ludwigs des Bayern. Von Pisa zog die Gruppe an den kaiserlichen Hof zu München, und von dort aus rief sie die Christenheit zur Rebellion gegen den Papst auf.

Unter den Flüchtigen befand sich einer der größten Denker des Mittelalters: Wilhelm von Ockham. Er war nicht der einzige, der solche Schwierigkeiten hatte. Ein anderer Angeklagter ersten Ranges, Meister Eckhart, wartete in Avignon auf das Ende eines erniedrigenden Inquisitionsverfahrens, das ihm nur durch seinen Tod erspart blieb. Das Jahr 1328 ist ein Markstein in der europäischen Geistesgeschichte. Damals nahm die Amtskirche Abstand von den Vorschlägen ihrer besten Söhne und schloß ein für allemal theologische Alternativen aus. Diese folgenreichen Entscheidungen wurden durch einen dritten, nicht weniger profilierten Mann getroffen, Papst Johannes XXII.

Die Stärke dieses Papstes, eines alten Juristen, lag nicht auf dem Gebiet der Theologie. Er war ein Finanzgenie. Als er sein Amt antrat, war das Finanzwesen der Kirche in einem maroden Zustand; sein Nachfolger erbte ein florierendes Unternehmen. Aber die radikalen Sanierungsmethoden riefen die Kritik derjenigen hervor, die den Sinn des Christentums eher mit der apostolischen Armut als mit einem gesunden Wirtschaftswesen identifizierten - in erster Linie der Franziskaner. Diesem Orden, der die "äußerste Armut" als den Weg zur Vollkommenheit betrachtete, gehörte Ockham an. In einem Brief erzählt der damals relativ junge englische Akademiker, er sei in Avignon dem Generalmeister seines Ordens, Michael von Cesena, begegnet und habe von ihm den Auftrag bekommen, die Entscheidungen des Papstes zu überprüfen. Bei der Vertiefung der theologischen Analyse der Lage sei es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Papst Johannes XXII. war ein Häretiker! Was tun?

Als Antworten auf diese Frage, die aus einer dramatischen subjektiven Erfahrung entstand und von Ockham mit einer Art prophetischen Sendungsbewußtseins verfolgt wurde, sind die Flucht, die Unterstützung des damals mit dem Kirchenbann belegten Ludwig der Bayer und seine ganze spätere schriftstellerische Tätigkeit zu betrachten, vor allem aber der sogenannte "Dialogus" ("Zwiegespräch"), ein umfangreicher Traktat über die Natur und die Gründe der päpstlichen und der kaiserlichen Gewalt, ein Klassiker des politischen Denkens des Mittelalters.

Ockham hatte dieses Werk wahrscheinlich bereits zur Zeit seiner Flucht konzipiert, er arbeitete daran bis zu seinem Tod. Der Anlaß der Schrift macht sich besonders im ersten Teil bemerkbar, in dem der Begriff der Häresie erörtert, die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes widerlegt und nach den Kontrollinstanzen in der Kirche gefragt wird, besonders in dem Fall, daß ein Papst sich als Ketzer herausstellen sollte.

Ockhams Antwort: Versagt die Hierarchie, so müssen die Laien ihre Verantwortung wahrnehmen. Es ist Pflicht von Politikern und Intellektuellen, die Hierarchie zu überwachen, denn "Gott ist nicht nur ein Gott der Kleriker, sondern auch der Laien". Im Laufe der Zeit trat die kirchenpolitische Motivation immer mehr in den Hintergrund; Der Blick des Verfassers richtete sich auf die allgemeineren Fragen nach dem Zweck der sozialen Organisationen (Kaisertum) und vor allem nach den Handlungspflichten des einzelnen.

Über die Politik zu reflektieren hatte bisher im Mittelalter bedeutet, sich mit der Frage nach der besten Verfassung auseinanderzusetzen. Durch seinen neuen Ansatz entdeckte Ockham ein Thema wie die Pflicht zum Widerstand, die nicht nur den Kampf gegen die Theokratie für eine Kirche im Geiste des Evangeliums, sondern auch "im Fall der Not die Absetzung des Königs" legitimieren sollte, und zwar "kraft Naturrechts".

Der "Dialogus" ist ein gewaltiges Werk. Vor einigen Jahren hat Jürgen Miethke, ein international bekannter Ockham-Spezialist, eine umfangreiche Auswahl veröffentlicht (Darmstadt 1993). "Aus wirtschaftlichen Gründen" war er damals gezwungen, auf eine doppelsprachige Ausgabe zu verzichten, jetzt ist es ihm gelungen, in Zusammenarbeit mit Reclam den ursprünglichen Plan teilweise zu verwirklichen. Dabei mußte Miethke die Textauswahl dem Umfang nach weiter reduzieren, dennoch sind in den dichten Seiten dieses Bändchens noch wesentliche Themen enthalten: Papst als Ketzer, Verpflichtung zum Widerstand, Evangelium als Gesetz der Freiheit, Grundbegriffe der Politik, Gründe der Gleichheit, Verfassungsänderung der Kirche, Ursprung des Imperiums, und die Fragen nach dem Gehorsam gegenüber dem Kaiser.

Scharfe, atemraubend "moderne" Gedankengänge vermischen sich in diesen Texten mit "mittelalterlichen" Beweisführungen wie jener, die Papst Anastasius II. als Häretiker entlarven soll. Der arme Papst sei nämlich "auf göttlichen Wink dahingerafft worden, denn . . ., während er Stuhlgang hatte, kehrte er seine Eingeweide nach außen. Daraus wird deutlich (sic!), daß dieser Anastasius II. mit Ketzerei befleckt war . . ." Es ist ein Verdienst Miethkes, eine Auswahl herausgegeben zu haben, die nicht nur Licht, sondern auch Schatten sichtbar macht. LORIS STURLESE

Wilhelm von Ockham: "Texte zur politischen Theorie". Exzerpte aus dem Dialogus. Lateinisch/deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Jürgen Miethke. Reclam Verlag, Stuttgart 1995. 400 S., br., 18,- DM.

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